Virus Dustin Thomason Dezember 2012. In den USA breitet sich rasend schnell eine gefährliche Epidemie aus, ganz L.A. steht bereits unter Quarantäne. Genetiker Dr. Gabriel Stanton und Maya-Forscherin Chel Manu suchen unter Hochdruck nach einer Möglichkeit, die tödliche Krankheit aufzuhalten. Sie glauben, dass ihnen ein alter Maya-Codex weiterhelfen kann. Ein Codex, der aus einem Tempel in Guatemala entwendet und in die USA gebracht wurde - von dem Mann, der später als Erster erkrankte. Was hat es mit diesem Werk auf sich? Haben die alten Maya es mit einem tödlichen Fluch belegt, der die gesamte Menschheit ausrotten wird? Dustin Thomason studierte Anthropologie und Medizin in Harvard und machte seinen M.D. an der Columbia University. Er ist ein Teil des Erfolgsduos Caldwell/Thomason, das mit seinem Thriller DAS LETZTE GEHEIMNIS die Bestsellerlisten stürmte. Außerdem schrieb und produzierte er mehrere TV-Serien, u. a. LIE TO ME. Thomason lebt und arbeitet in Venice Beach, Kalifornien. Für die Originalausgabe: Copyright © 2012 by Dustin Thomason Titel der amerikanischen Originalausgabe: »12.21« Mitten im unwegsamen Dschungel Mittelamerikas schufen die Maya die fortschrittlichste Kultur der Neuen Welt. Eine ihrer herausragendsten Leistungen war ein kompliziertes Kalendersystem, dessen Genauigkeit selbst heutige Astronomen in Erstaunen versetzt. Es gründete sich auf der Vorstellung, dass die Menschheitsgeschichte aus vier Zeitaltern besteht. Einigen Deutungen zufolge markiert eine gewaltige Naturkatastrophe das Ende eines jeden Zeitabschnitts; auf die Zerstörung folgt der Neubeginn, und die Welt entsteht von Neuem. Der vierte Zeitabschnitt begann am 11. August 3114 v. Chr. Und er endet am 21. Dezember 2012. PROLOG Er drückt sich im Mondlicht an die Mauer des Tempels, das in Sisal gewickelte kleine Bündel unter dem Arm an sich gepresst. Der raue Stoff kratzt auf seiner Haut, doch er genießt das Gefühl. Es hat etwas Beruhigendes. Er würde das Bündel gegen nichts eintauschen in dieser von der Dürre heimgesuchten Stadt, nicht einmal gegen Wasser. Der Boden unter seinen Sandalen ist ausgedörrt und von tiefen Rissen durchzogen. Die grüne Welt seiner Kindheit ist verschwunden. Froh, dass die wenigen noch verbliebenen Tempelwächter ihn nicht bemerkt haben, eilt er zum großen Platz in der Mitte der Stadt, wo früher Handwerker und Körperbemaler ihren Geschäften nachgegangen waren. Heute treiben sich nur noch Bettler hier herum, und Bettler können gefährlich sein, wenn sie hungrig sind. Aber er hat Glück. Nur zwei Männer stehen am östlichen Tempel. Sie kennen ihn, sie wissen, dass er ihnen jedes Mal so viel gibt, wie er kann. Dennoch drückt er sein Bündel fester an sich. Am Rande des Dorfplatzes, zu den Maisspeichern hin, ist ein Wächter postiert, ein halbes Kind noch. Der Mann spielt mit dem Gedanken, sein Bündel zu vergraben und später wiederzukommen, um es zu holen, aber der Boden besteht nur aus Staub, und wo einmal Bäume standen, weht der Wind heute ungehindert über die Felder. Nichts bleibt in dieser verdorrten Stadt lange von Erde bedeckt. Er holt tief Luft und geht weiter. »Wohin des Wegs, königlicher heiliger Mann?«, ruft der blutjunge Wächter. Seine Augen sind müde und hungrig, aber ein gieriges Glitzern glimmt in ihnen auf, als er das unter den Arm geklemmte Bündel erblickt. »Ich will zu meiner Fastenhöhle«, antwortet der Mann wahrheitsgemäß. »Was hast du da bei dir?« »Weihrauch für die Götter.« Der Mann presst sein Bündel fester an sich und schickt ein stilles Gebet zu Itzamnaaj. »Auf dem Markt gibt es seit Tagen keinen Weihrauch mehr zu kaufen, königlicher heiliger Mann«, erwidert der Wächter mit matter Stimme. Als ob alle Menschen nur noch lügen würden, um zu überleben. Als ob mit dem Regen auch die Unschuld verloren gegangen wäre. »Gib mir das Bündel.« »Du hast recht, Krieger. Das ist kein Weihrauch. Es ist ein Geschenk für den König.« Er hat keine andere Wahl, er muss den König ins Spiel bringen, auch wenn dieser ihm das Herz herausreißen lassen würde, wenn er wüsste, was er da bei sich trägt. »Gib mir das Bündel«, wiederholt der junge Wächter. Der Mann zögert, gehorcht dann aber. Mit ungeschickten Fingern nestelt der Junge an dem Stoff herum, aber als er den Sisal zurückgeschlagen hat, bemerkt der Mann den enttäuschten Ausdruck in seinen Augen. Was hatte er zu finden gehofft? Mais? Kakao? Er hat keine Ahnung, was er da gesehen hat. Wie die meisten Jungen heutzutage kennt er nur noch Hunger. Der Mann wickelt sein Bündel hastig wieder ein und hastet weiter. Im Stillen dankt er den Göttern für sein Glück. Schließlich erreicht er die kleine Höhle am östlichen Rand der Stadt und schlüpft unbemerkt hinein. Es ist schon alles vorbereitet. Auf dem Boden der Höhle sind Tücher ausgebreitet. Der Mann zündet eine Kerze an und legt sein Bündel in sicherem Abstand zu der Flamme nieder. Dann wischt er sich sorgfältig die Hände ab. Er kniet sich hin, greift nach dem Bündel und wickelt einen Stoß gefaltetes Papier aus dem Sisal. Das Papier ist aus der Rinde eines Feigenbaums hergestellt und mit einer dünnen Schicht Kalksteinpaste überzogen worden, um ihm Festigkeit zu verleihen. Mit der Sorgfalt und der Mühelosigkeit eines Mannes, der sich sein ganzes Leben auf diese Handlung vorbereitet hat, zieht er den Stapel auseinander. Fünfundzwanzig Mal ist das Papier gefaltet worden, und als der leere Bogen vollständig ausgebreitet ist, reicht er von einer Seite der Höhle zur anderen. Hinter der Feuerstelle stehen drei kleine Gefäße mit Farbe bereit. Für die Herstellung der schwarzen Tinte hat er den Ruß von Töpfen gekratzt, das Rot hat er aus Rostpilzen gewonnen, die er von Felsen geschabt hat, und selbst gesammelte Indigopflanzen und den Lehm ausgetrockneter Flussbetten hat er zu einem satten Blau verarbeitet. Zuletzt ritzt er sich die Haut am Arm auf. Er schaut zu, wie scharlachrote Tröpfchen über sein Handgelenk rinnen und in die Gefäße mit Farbe tropfen. Sein Blut heiligt die Tinte. Dann beginnt er zu schreiben. 12.19.19.17.09 – 11. DEZEMBER 2012 1 Dr. Gabriel Stantons Zuhause befand sich ganz am Ende der hölzernen Promenade, dort wo der Fußweg in eine üppig grüne Rasenfläche überging, auf der sich die Freunde des Tai-Chi trafen. Die bescheidene Doppelhaushälfte gegenüber dem Strand von Venice Beach war nicht unbedingt nach Stantons Geschmack. Er mochte lieber geschichtsträchtigere Gebäude. Aber an diesem eigenwilligen Abschnitt der kalifornischen Küste hatte man nur die Wahl zwischen heruntergekommenen Bruchbuden und modernen Bauten aus Stein und Glas. Stanton verließ das Haus kurz nach sieben Uhr morgens und radelte auf seinem alten Gary-Fisher-Rad Richtung Süden. Dogma, sein hellhaariger Labrador, rannte neben ihm her. Groundwork, wo es den besten Kaffee von L.A. gab, war nur sechs Straßen entfernt, und Jillian würde schon einen kräftigen Black Gold für ihn bereithalten, wenn er durch die Tür trat. Dogma liebte die Morgenstunden ebenso sehr wie sein Herrchen. Aber da Hunde nicht mit ins Café durften, band Stanton ihn draußen an und ging dann allein hinein. Er winkte Jillian zu, schnappte sich seinen Becher und ließ den Blick prüfend durch den Raum schweifen. Viele der morgendlichen Gäste waren Surfer, von deren Neoprenanzügen noch das Wasser tropfte. Stanton stand normalerweise um sechs Uhr auf, aber diese Jungs waren schon seit Stunden wach. Einer der bekanntesten und sicherlich originellsten Anwohner der Strandpromenade saß an seinem Stammplatz. Sein kahl geschorener Kopf war vollständig mit komplizierten Mustern tätowiert, und Ohrläppchen, Nase und Lippen waren mit Ringen, Nieten, kleinen Ketten gepierct. Stanton fragte sich nicht zum ersten Mal, wo Monster wohl herkommen mochte. Welche Erlebnisse in seiner Jugend hatten ihn dazu bewogen, seinen Körper zu einem derartigen Kunstwerk zu machen? Aus irgendeinem Grund sah Stanton immer ein halbgeschossiges Haus nahe einem Truppenstandort vor sich, wenn er sich Monsters Kindheit vorstellte – genau die Art Haus, die er aus seiner eigenen Kindheit nur allzu gut kannte. »Und, was gibt’s Neues in der Welt da draußen?«, fragte Stanton. Monster schaute von seinem Computer auf. Er war geradezu süchtig nach Nachrichten, und wenn er nicht in seinem Tattoo-Laden arbeitete oder sich als Teil der Venice Beach Freak Show von Touristen bestaunen ließ, postete er Kommentare in politischen Blogs. »Du meinst, abgesehen davon, dass in zwei Wochen eine kosmische Konstellation dafür sorgen wird, dass die magnetische Ladung an den Polen sich umkehren wird, was den sicheren Untergang der Menschheit bedeutet?« »Ja, davon einmal abgesehen.« »Ein verdammt schöner Tag da draußen.« »Und deine Lady?« »Elektrisiert mich noch immer, danke der Nachfrage.« Stanton ging zur Tür. »Dann bis morgen, Monster. Falls wir dann noch da sind.« Draußen stürzte er seinen Black Gold hinunter, schwang sich dann wieder auf sein Rad und fuhr, Dogma neben sich, weiter in Richtung Süden. Vor hundert Jahren schlängelten sich Kanäle mit einer Gesamtlänge von mehreren Meilen durch Venice, eine von dem Tabakmagnaten Abbot Kinney geschaffene Nachbildung Venedigs. Inzwischen waren praktisch alle Wasserwege, auf denen sich die Einwohner früher mit Kähnen hatten befördern lassen, zugeschüttet worden und gepflastert mit anabolikabetriebenen Fitnessstudios, mit auf fetttriefende Snacks spezialisierten Imbissbuden und mit trendigen T-Shirt-Läden. Stanton hatte mit Bedauern beobachtet, wie in den vergangenen Wochen überall Graffiti aufgetaucht waren, die sich auf die vermeintliche Maya-Prophezeiung der bevorstehenden Apokalypse bezogen. Auch Händler nutzten die Gunst der Stunde und boten allen möglichen Billigkram an. Stanton war katholisch erzogen worden, aber er hatte seit Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen, und er hatte auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Wenn jemand meinte, sein Schicksal ergründen zu können, oder glaubte, irgendeine antike Uhr bringe Glück oder Unglück, dann sollte er das ruhig tun; Stanton hatte nichts dagegen. Er würde sich weiterhin an wissenschaftliche Methoden und überprüfbare Hypothesen halten. Zum Glück schienen aber nicht alle in Venice damit zu rechnen, dass am 21. Dezember die Welt untergehen würde. Die Strandpromenade war auch mit roten und grünen Lämpchen geschmückt – nur für den Fall, dass diese Weltuntergangsspinner sich irrten. Die Weihnachtszeit war eine merkwürdige Zeit in L.A.: Nur wenige Zugereiste kamen damit klar, Weihnachten bei gut 20 Grad Wärme zu feiern, aber Stanton liebte den Kontrast: Rollschuhfahrer mit Nikolausmützen, Sonnenschutzcreme in Weihnachtsstrümpfen, mit falschen Rentiergeweihen geschmückte Surfbretter. Nichts konnte ihn heutzutage besser in Weihnachtsstimmung versetzen als eine Fahrt am Strand entlang. Zehn Minuten später erreichten sie das nördliche Ende von Marina del Rey. Ihr Weg führte vorbei am alten Leuchtturm und an den Segeljachten und den vertäuten Fischerbooten, die im Hafen dümpelten. Stanton ließ Dogma von der Leine, und der Hund rannte voraus, während sein Herrchen sein Fahrrad schob und hinterhertrottete. Er lauschte. Die Frau, deretwegen sie hier waren, umgab sich zu jeder Tageszeit mit Jazz, und wenn man Bill Evans’ Piano oder Miles Davis’ Trompete hörte, wusste man, dass sie nicht weit sein konnte. Nina Countner war den größten Teil der letzten zehn Jahre die Frau in Stantons Leben gewesen. Zwar hatte es in den drei Jahren seit ihrer Trennung ein paar andere bei ihm gegeben, aber keine, die mehr als ein Ersatz für sie gewesen wäre. Stanton folgte Dogma zu den Anlegestellen. Die schwermütigen Klänge eines Saxofons wehten aus der Ferne zu ihm herüber. Der Hund hatte schon die Spitze der südlichen Mole erreicht, wo Ninas wuchtige zweimotorige McGray – knappe sieben urwüchsige Meter Metall und Holz – sich ganz hinten in den letzten Liegeplatz quetschte. Dogma hatte sich auf die Seite gelegt und ließ sich von Nina, die neben ihm in die Hocke gegangen war, den Bauch kraulen. »Wie ich sehe, habt ihr zwei mich gefunden«, rief sie. »Ja, und zur Abwechslung direkt mal in einem richtigen Hafen«, erwiderte Stanton. Er küsste sie auf die Wange und atmete ihren Duft ein. Obwohl Nina fast die ganze Zeit auf dem Meer verbrachte, schaffte sie es, immer nach Rosenwasser zu duften. Stanton trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. Sie hatte ein Grübchen am Kinn und auffallend schöne grüne Augen, aber ihre Nase war ein kleines bisschen krumm und ihr Mund ziemlich klein. Die meisten Menschen bemerkten ihre Schönheit nicht, aber Stanton fand, dass ihr Gesicht perfekt war. »Wann erlaubst du mir endlich, dass ich dir eine richtige Anlegestelle besorge?«, fragte er. Ninas Blick sagte alles. Stanton hatte ihr schon oft angeboten, die Miete für einen ständigen Liegeplatz für ihr Boot zu übernehmen, immer in der Hoffnung, sie damit öfter an Land zurückzulocken, aber Nina hatte jedes Mal abgelehnt, und er wusste, dass sich daran vermutlich nichts ändern würde. Sie arbeitete freiberuflich als Journalistin, und da sie nicht über ein regelmäßiges Einkommen verfügte, war sie eine wahre Meisterin darin geworden, freie Liegeplätze, abgelegene Strände und von keinem Radar erfasste Anlegestellen aufzuspüren, die nur wenigen bekannt waren. »Wie geht’s voran mit deinem Experiment?«, fragte sie, als sie vor Stanton an Bord ging. Das Deck der Plan A war spärlich ausgestattet: zwei Klappstühle, eine Sammlung von CDs, die rings um den Kapitänsstuhl verstreut lagen, und ein Wasser- und ein Futternapf für Dogma. »Ich erwarte für heute weitere Ergebnisse«, antwortete er. »Dürfte interessant werden.« Nina setzte sich auf den Platz des Skippers. Wie üblich kam sie gleich zur Sache. »Du siehst müde aus.« Er fragte sich, ob es die unaufhaltsam vordringende Flut des Alters war, die sie auf seinem Gesicht entdeckte, die Krähenfüße hinter den Gläsern seiner randlosen Brille. Er hatte vergangene Nacht volle sieben Stunden geschlafen. Das kam selten vor. »Mir geht’s gut.« »Und der Prozess? Ist er endgültig ausgestanden?« »Schon seit Wochen. Das sollten wir feiern. Ich hab noch eine Flasche Champagner im Kühlschrank.« »Ach, weißt du, ich will rüber nach Catalina.« Nina betätigte ein paar Hebel und Schalter, um das GPS und die Schiffselektronik einzuschalten. Stanton hatte sich nie die Mühe gemacht, sich mit der Steuerungsanlage vertraut zu machen. Durch den Dunst hindurch konnte man die vagen Umrisse von Catalina Island erkennen. »Und wenn ich mitkommen würde?«, fragte Stanton. »Um dann geduldig auf die Ergebnisse aus dem Forschungszentrum zu warten? Ich bitte dich, Gabe.« »Behandle mich nicht wie ein kleines Kind.« Nina stand auf, ging zu ihm und fasste ihn am Kinn. »Ich bin nicht umsonst deine Exfrau.« Es war Nina gewesen, die diese Entscheidung getroffen hatte, aber Stanton gab sich die Schuld am Scheitern ihrer Ehe, und etwas in ihm hoffte immer noch auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr. Während ihrer drei Jahre dauernden Ehe hatte sein Beruf ihn oft monatelang ins Ausland geführt, und Nina hatte sich unterdessen aufs Meer hinausgeflüchtet. Der Ozean war schon immer ihre große Liebe gewesen. Stanton hatte sie ziehen lassen, und es hatte den Anschein, als wäre sie so am glücklichsten – ganz allein durchs Leben treibend. In der Ferne heulte die Sirene eines Containerschiffs, und Dogma begann wie verrückt zu bellen und jagte dann seinem eigenen Schwanz hinterher. »Ich bring ihn dir morgen Abend wieder«, sagte Nina. »Bleib doch zum Essen«, schlug Stanton vor. »Sag mir, worauf du Lust hast, ich koche für dich.« Nina sah ihn skeptisch an. »Und was wird deine Freundin dazu sagen?« »Ich habe keine Freundin.« »Was ist denn mit Wie-hieß-sie-doch-gleich passiert? Mit der Mathematikerin.« »Wir sind vier Mal zusammen ausgegangen.« »Und?« »Und dann musste ich mir ein Pferd ansehen.« »Das ist nicht dein Ernst!« »Doch. Ich bin nach England geflogen, weil bei dem Pferd der Verdacht auf Scrapie bestand, und da meinte sie, mir liegt nichts an unserer Beziehung.« »Und, hat sie recht gehabt?« »Wir sind vier Mal zusammen ausgegangen! Also, was ist jetzt mit dem Abendessen morgen?« Nina ließ den Motor genau in dem Moment an, als Stanton auf die Anlegebrücke sprang, wo er sein Fahrrad abgestellt hatte. »Besorg eine anständige Flasche Wein«, rief sie ihm zu, während sie ablegte und ihn wieder einmal zurückließ. »Dann sehen wir weiter …« *** Das Zentrum für Prionenforschung des Seuchenzentrums CDC in Boyle Heights war seit fast zehn Jahren Stantons berufliche Heimat. Als er 2000 hierher gezogen war, um die Stelle als Direktor anzutreten, dem ersten überhaupt, hatte das Zentrum nur aus einem kleinen Labor in einem Wohnwagen bestanden, der auf dem Gelände des Los Angeles County & USC Medical Center aufgestellt worden war. Unermüdlich hatte Stanton für die Erweiterung des Forschungszentrums gekämpft, und heute nahm es den ganzen sechsten Stock des Hauptgebäudes des Krankenhauses ein, desselben Gebäudes, das über drei Jahrzehnte lang als Kulisse für die Fernsehserie General Hospital gedient hatte. Stanton ging durch die Doppeltür in seine »Höhle«, wie seine Post-Doktoranden den Raum oft nannten. Einer von ihnen hatte eine weihnachtliche Lichterkette aufgehängt, und Stanton schaltete sie zusammen mit den Halogenlampen ein, sodass neben bläulich weißem auch rotes und grünes Licht auf die Mikroskoptische im Labor fiel. Er ließ seine Aktenmappe in seinem Büro achtlos auf den Boden fallen, streifte sich Handschuhe und einen Mundschutz über und ging in den hinteren Teil des Labors. Wochenlang hatte sein Team an einer Testreihe gearbeitet, und an diesem Morgen würden sie die ersten Ergebnisse auswerten können. Stanton konnte es kaum erwarten. Der Raum für die Labortiere war fast so lang wie ein Basketballfeld und nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet: computergesteuerte Bestandslager, Datenspeicher mit Touchscreens, elektronische Vivisektions- und Autopsiestationen. Stanton ging zum ersten der zwölf an der Südseite aufgestellten Käfige und spähte hinein. Zwei Tiere befanden sich darin: eine sechzig Zentimeter lange schwarz und orangerot geringelte Korallenschlange und eine kleine graue Maus. Auf den ersten Blick wirkte die Szene vollkommen normal – eine Schlange, die auf den richtigen Moment wartete, um vorzuschnellen und ihre Beute zu packen. Doch in Wirklichkeit spielte sich in diesem Käfig etwas ganz und gar Unnatürliches ab. Die Maus stupste mit der Nase lässig den Kopf der Schlange an und hörte selbst dann nicht auf, als die Schlange warnend zischte. Und sie versuchte auch nicht, in eine Ecke des Käfigs zu fliehen. Sie fürchtete sich vor der Schlange ebenso wenig, wie sie sich vor einer anderen Maus gefürchtet hätte. Als Stanton dieses Verhalten zum ersten Mal beobachtet hatte, waren er und sein Team in lauten Jubel ausgebrochen. Mithilfe von Gentechnik hatten sie bestimmte Eiweißmoleküle, sogenannte Prionen, von der Membran der Hirnzellen der Maus entfernt, wodurch die natürliche Ordnung im Mäusehirn zerstört und die angeborene Angst vor Schlangen ausgelöscht worden war. Es war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Entschlüsselung der Funktion der tödlichen Eiweiße, eine Arbeit, die Stanton zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte. Prionen kommen in jedem tierischen Gehirn vor, auch in dem des Menschen, doch auch nach jahrzehntelanger Forschung wusste weder Stanton noch sonst irgendein Wissenschaftler, welchen Zweck sie eigentlich erfüllten. Einige von Stantons Kollegen vertraten die Ansicht, dass Prionen-Eiweiße etwas mit der Gedächtnisleistung zu tun hatten oder eine wichtige Rolle bei der Bildung des Knochenmarks spielten. Aber genau wusste das niemand. Meistens waren die Prionen gutartig und saßen an den Neuronenzellen im Gehirn. In seltenen Fällen jedoch kam es vor, dass sich diese Eiweiße krankhaft veränderten und zu wuchern begannen. Bei Prionenkrankheiten wie Alzheimer oder Parkinson wurde gesundes Gewebe zerstört und durch Ablagerungen, sogenannte Plaques, ersetzt, wodurch die normalen Hirnfunktionen ausgeschaltet wurden. Doch während Alzheimer und Parkinson genetisch bedingte Krankheiten waren, gab es andere Formen von Prionenkrankheiten, die durch infiziertes Fleisch übertragen wurden. Das war das eigentlich Erschreckende. Mitte der 1980er-Jahre gelangten in England mutierte Prionen von kranken Kühen durch verseuchtes Fleisch in den Handel, und die ganze Welt sah sich plötzlich mit dem Phänomen einer Prioneninfektion konfrontiert. Innerhalb von drei Jahrzehnten fielen in Europa zweihunderttausend Rinder dem sogenannten Rinderwahnsinn zum Opfer. Dann griff die Krankheit auch auf den Menschen über. Die ersten Patienten konnten ihre Bewegungen nicht mehr koordinieren und zitterten unkontrolliert, sie verloren das Gedächtnis und die Fähigkeit, Freunde und Angehörige zu erkennen. Wenig später kam es zum Hirntod. Stanton war schon früh in seiner Laufbahn ein weltweit anerkannter Experte für Rinderwahnsinn geworden, daher war er, als das Seuchenzentrum in den USA das Nationale Zentrum für Prionenforschung ins Leben rief, die erste Wahl für den Posten des Direktors gewesen. Es war ihm als einmalige Chance erschienen, und Stanton war dem Ruf nach Kalifornien voller Begeisterung gefolgt. Es war das erste Zentrum zur Erforschung von Prionen und Prionenkrankheiten in den USA. Unter Stantons Leitung sollten hier die rätselhaftesten Krankheitserreger der Welt diagnostiziert, erforscht und schließlich bekämpft werden. Doch so weit kam es nicht. Die Fleischindustrie startete eine erfolgreiche Kampagne, mit der deutlich gemacht werden sollte, dass sich in den USA nur ein einziger Mensch nachweislich mit Rinderwahnsinn infiziert hatte. Die Zuschüsse für Stantons Labor wurden gekürzt, und als in England keine weiteren Neuerkrankungen bekannt wurden, ließ das Interesse der Öffentlichkeit an dem Thema rasch nach. Das Budget für das Forschungszentrum war zusammengestrichen worden, und Stanton sah sich gezwungen, einige Mitarbeiter zu entlassen. Das Schlimmste aber war, dass es trotz jahrelanger Forschungsarbeit immer noch kein Heilmittel gab. Unzählige Wirkstoffe waren getestet worden, aber die Hoffnung auf eine wirksame Therapie hatte sich jedes Mal zerschlagen. Doch Stanton war immer schon ebenso dickköpfig wie optimistisch gewesen. Er glaubte immer noch fest daran, dass das nächste Experiment möglicherweise die Antwort lieferte, die er sich erhoffte. Als er vor den nächsten Käfig trat, bot sich ihm der gleiche Anblick: eine Schlange, die ihre Beute belauerte, und eine kleine Maus, die sich davon nicht im Geringsten beeindrucken ließ. Stanton und sein Team wollten mit diesem Experiment erforschen, ob Prionen eine Rolle bei der Unterdrückung »angeborener Instinkte« einschließlich der Angst spielten. Eine Maus musste nicht erst lernen, sich vor raschelndem Gras zu fürchten – es war in ihren Genen programmiert, dass dieses Geräusch Gefahr bedeutete, weil es das Anpirschen eines Feindes signalisierte. Doch nachdem ihre Prionen in einem früheren Experiment genetisch ausgeschaltet worden waren, verhielten sich die Mäuse aggressiv und irrational. Stanton und sein Team hatten daraufhin in weiteren Versuchen gezielt den Zusammenhang zwischen der Eliminierung von Prionen und den angeborenen Ängsten der Tiere untersucht. Stantons Handy vibrierte in der Tasche seines Laborkittels. »Hallo?« »Spreche ich mit Dr. Stanton?«, fragte eine unbekannte Frauenstimme. Das konnte nur eine Ärztin oder eine Krankenschwester sein – jeder andere hätte sich dafür entschuldigt, dass er vor acht Uhr morgens anrief. »Ja. Was kann ich für Sie tun?« »Mein Name ist Michaela Thane. Ich bin Assistenzärztin am East L.A. Presbyterian Hospital. Das Seuchenzentrum hat mir Ihre Nummer gegeben. Es geht um einen unserer Patienten. Es besteht der Verdacht, dass eine Prionenkrankheit vorliegt.« Stanton lächelte, schob seine Brille zurecht und sagte: »Okay«, während er vor den nächsten Käfig trat. Eine Maus scharrte mit den Pfötchen am Schwanz der Schlange, die angesichts dieser Umkehrung der natürlichen Ordnung ganz verdattert schien. »Okay? Ist das alles?«, fragte Thane. »Schicken Sie mir die Proben ins Labor, mein Team wird sie sich ansehen«, erwiderte Stanton. »Ein gewisser Dr. Davies wird Sie dann wegen der Ergebnisse anrufen.« »Und wann wird das sein? In einer Woche? Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Doktor. Manchmal rede ich zu schnell für meine Gesprächspartner. Wir glauben, dass der Mann an einer Prionenkrankheit leidet.« »Ja, das habe ich schon verstanden«, sagte Stanton. »Was ist mit den Gentests? Schon irgendwelche Ergebnisse?« »Nein, aber –« Stanton ließ sie nicht ausreden. »Hören Sie, Dr. … Thane, nicht wahr? Wir bekommen etliche Tausend Anrufe im Jahr, und nur bei einer Hand voll bestätigt sich der Verdacht einer Prionenerkrankung. Melden Sie sich wieder, wenn der Gentest positiv ist.« »Doktor, alle Symptome deuten darauf hin, dass –« »Lassen Sie mich raten. Ihr Patient hat einen unsicheren Gang.« »Nein.« »Gedächtnisverlust?« »Das wissen wir nicht.« Stanton klopfte an die Glasscheibe eines Käfigs. Aber keines der Tiere reagierte. »Und auf welche Symptome stützt sich dann Ihr Verdacht, Doktor?«, fragte er abwesend. »Demenz und Halluzinationen, irrationales Verhalten, Muskelzittern und starkes Schwitzen. Und ein ganz schlimmer Fall von Schlaflosigkeit.« »Schlaflosigkeit?« »Wir dachten zuerst an Alkoholentzug, als er eingeliefert wurde«, erklärte Thane. »Aber bei Alkoholmissbrauch hätte sich ein Folsäuremangel nachweisen lassen müssen, und das war nicht der Fall. Also habe ich weitere Tests gemacht, und ich denke, es könnte sich um letale familiäre Insomnie handeln.« Jetzt hatte sie Stantons volle Aufmerksamkeit. »Wann wurde er eingeliefert?« »Vor drei Tagen.« Bei der letalen familiären Insomnie – oder FFI, nach dem englischen Begriff Fatal Familial Insomnia – handelte es sich um eine rasch fortschreitende Krankheit, die durch ein mutiertes Gen hervorgerufen wurde. Sie gehörte zur Gruppe jener wenigen Prionenerkrankungen, die erblich waren. Stanton hatte in seiner Laufbahn ein halbes Dutzend Fälle gesehen. Die meisten FFI-Patienten begaben sich zunächst in ärztliche Behandlung, weil sie ständig schwitzten und an Schlafstörungen litten. Binnen kurzer Zeit konnten sie überhaupt nicht mehr schlafen. Hinzu kamen Impotenz, Panikattacken, Bewegungsstörungen. Der Schlafmangel, der die Patienten zwischen einem halluzinatorischen Wachzustand und einer Panik auslösenden Munterkeit gefangen hielt, führte meist nach wenigen Wochen zum Tod. Und es gab nichts, was Stanton oder irgendein anderer Arzt dagegen tun konnte. »Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte er. »FFI wird weltweit nur bei einem von dreiunddreißig Millionen Patienten diagnostiziert.« »Was sonst könnte die Ursache für totale Schlaflosigkeit sein?«, fragte Thane. »Eine fehldiagnostizierte Methamphetaminabhängigkeit.« »Wir sind hier in East L.A., Doktor. Ich habe das Vergnügen, jeden Tag eine Meth-Fahne zu riechen. Und der Drogentest war negativ.« »Weniger als vierzig Familien weltweit sind von FFI betroffen«, sagte Stanton, während er langsam an den Käfigen vorbeiging. »Und Sie hätten es mir sicher schon gesagt, wenn es eine entsprechende Vorgeschichte gäbe.« »Ehrlich gesagt konnten wir uns noch nicht mit dem Mann unterhalten, weil wir ihn nicht verstehen. Er sieht aus wie ein Latino, möglicherweise auch wie ein Indio aus Mittel- oder Südamerika. Wir haben schon einen Übersetzerdienst eingeschaltet. Aber heutzutage ist das meistens nur ein einziger Typ mit einem nicht näher qualifizierten Abschluss und einem Stapel ausgemusterter Wörterbücher.« Stanton spähte in den nächsten Käfig. Die Schlange darin verharrte regungslos. Ein kleiner, dünner grauer Schwanz hing ihr aus dem Maul. Das Gleiche würde in den nächsten vierundzwanzig Stunden, wenn auch die anderen Schlangen Hunger bekämen, in allen anderen Käfigen passieren. Selbst nach so vielen Jahren im Labor wollte Stanton lieber nicht zu lange darüber nachdenken, welche Rolle er im Leben dieser Mäuse spielte. »Wer hat den Patienten eingeliefert?«, fragte er. »Laut Aufnahmeformular eine Ambulanz, aber ich finde nirgends einen Hinweis darauf, von welcher Organisation.« Das passte zu dem, was Stanton sonst über das Presbyterian Hospital wusste. Nur wenige andere Einrichtungen in East L.A. waren so überfüllt und so verschuldet wie dieses Krankenhaus. »Wie alt ist der Patient?«, fragte er. »Wahrscheinlich Anfang dreißig. Ich weiß, das ist ungewöhnlich, aber ich habe Ihren Aufsatz über Altersabweichungen bei Prionenerkrankungen gelesen und dachte, dass wir es hier vielleicht mit einem solchen Fall zu tun haben.« Thane verstand etwas von ihrem Job, doch ihre Gründlichkeit änderte nichts an den Tatsachen. »Ich bin sicher, wenn Sie erst einmal die Ergebnisse der Gentests vorliegen haben, wird sich das alles schnell aufklären. Sie können Dr. Davies später gerne anrufen, falls Sie noch weitere Fragen haben.« »Halt! Nicht auflegen! Warten Sie, Doktor!« Stanton musste ihre Hartnäckigkeit bewundern. Als Assistenzarzt war er auch eine ganz schöne Nervensäge gewesen. »Ja?« »Letztes Jahr wurde eine Studie veröffentlicht, der zufolge Amylase ein biologischer Marker für Schlafmangel ist.« »Ja, ich kenne diese Studie. Und?« »Bei meinem Patienten wurden dreihundert Einheiten pro Milliliter gemessen, das heißt, er hat seit über einer Woche nicht mehr geschlafen.« Stanton trat von dem Käfig zurück. Über eine Woche ohne Schlaf? »Hat er epileptische Anfälle?« »Die Hirnuntersuchung hat Hinweise darauf ergeben«, antwortete Thane. »Wie sehen seine Pupillen aus?« »Stecknadelkopfgroß.« »Reaktion auf Lichteinfall?« »Nein, keine.« Tagelange Insomnie. Schwitzen. Anfälle. Stecknadelkopfgroße Pupillen. Von den wenigen Voraussetzungen, die diese Kombination von Symptomen auslösen konnten, waren die anderen noch seltener als FFI. Stanton streifte seine Handschuhe ab. Die Mäuse waren vergessen. »Lassen Sie niemanden zu dem Patienten. Ich komme, so schnell ich kann.« 2 Chel Manu kam wie immer, als der Gottesdienst schon fast zu Ende war. Die Fahrt von ihrem Büro im Getty Museum zur Kathedrale Our Lady of the Angels – der Mutterkirche für die vier Millionen Katholiken in Los Angeles – dauerte im dichten Berufsverkehr fast eine Stunde, aber sie genoss den allwöchentlichen Ausflug. Da sie die meiste Zeit in ihrem Forschungslabor im Museum oder in den Vorlesungssälen der UCLA eingesperrt war, war sie froh, wenn sie Gelegenheit hatte, aus dem westlichen Teil der Stadt herauszukommen, auf den Freeway einzubiegen und einfach nur zu fahren. Nicht einmal der Verkehr, der Fluch von Los Angeles, machte ihr etwas aus. Die Fahrt zur Kirche in Downtown L.A. war so etwas wie eine kleine Auszeit, eine besinnliche Pause, in der sie alle störenden Geräusche ausblenden konnte: die Forschungsarbeit, das Budget, die Kollegen, die Fakultätsausschüsse, ihre Mutter. Sie würde eine – oder auch zwei – rauchen, den Rocksender KCRW hören und ein bisschen abschalten. Jedes Mal, wenn sie sich ihrer Ausfahrt näherte, wünschte sie, sie könnte einfach weiterfahren. Vor der Kathedrale schnippte sie die Kippe ihrer zweiten Zigarette in den Mülleimer, der unter der eigenartigen androgynen Monumentalfigur der Muttergottes am Eingang angebracht war. Dann stieß sie die schwere Bronzetür auf. Im Inneren der Kirche ließ Chel die vertrauten Eindrücke auf sich wirken: den süßen Duft von Weihrauch, den Gesang von Kirchenliedern und das gedämpfte erdfarbene Licht, das durch die Alabasterfenster auf die Gesichter der kleinen Gemeinde von Maya-Einwanderern fiel. Am Predigtpult, unter fünf golden gerahmten Darstellungen der fünf Abschnitte im Leben Jesu, stand Maraka, der ältere bärtige »Hüter des Tages«, wie der Priester auch genannt wurde, und schwenkte ein Weihrauchfass. »Tewichim«, psalmodierte er in Qu’iche, jenem Maya-Dialekt, der in Guatemala von über einer Million indígenas gesprochen wurde. »Tewichim gukumatz, k’astajisaj.« Gelobt sei die gefiederte Schlange, die Spenderin des Lebens. Maraka wandte sich nach Osten und nahm dann einen kräftigen Schluck baalché, dem milchig weißen heiligen Trank, der aus Baumrinde, Zimt und Honig gemacht wurde. Als er fertig war, stimmten die Gläubigen auf sein Zeichen hin wieder ein Lied an. Das Ritual gehörte zu jenen uralten Bräuchen, die zu praktizieren der Erzbischof ihnen ein oder zwei Mal die Woche erlaubt hatte, vorausgesetzt, die indígenas besuchten auch weiterhin die traditionelle katholische Messe. Chel versuchte, sich möglichst unauffällig am Rand des Kirchenschiffs entlangzudrücken, doch einer der Männer bemerkte sie und winkte ihr eifrig. Sie hatte ihm geholfen, die Formulare für die Einwanderungsbehörde auszufüllen, und seitdem hatte er sie ein halbes Dutzend Mal gefragt, ob sie nicht mit ihm ausgehen wolle. Sie hatte abgelehnt und geschwindelt, sie sei in festen Händen. Mit ihren eins fünfundfünfzig unterschied sie sich sicherlich von den meisten Frauen, denen man hier in Los Angeles begegnete, aber viele Männer fanden sie ausgesprochen schön. Chel wartete neben dem Räucheraltar, bis der Gottesdienst zu Ende war. Sie ließ den Blick über die Gesichter der Gläubigen schweifen, unter denen sich mindestens zwei Dutzend Weiße befanden. Noch vor Kurzem hatte die Fraternidad nur sechzig Mitglieder gezählt, Nachfahren der Maya aus deren ursprünglichen Siedlungsgebieten, einschließlich Chels Heimat Guatemala, die sich montagmorgens hier versammelten, um zu den Göttern ihrer Vorfahren zu beten und die alten Traditionen zu pflegen. Doch dann waren immer mehr Anhänger der Apokalypse aufgetaucht. »2012er« wurden sie in der Presse genannt. Anscheinend glaubten sie, sie würden beim Weltuntergang, der ihrer Meinung nach in knapp zwei Wochen stattfinden würde, verschont, wenn sie an den Maya-Zeremonien teilnahmen. Es gab natürlich auch solche 2012er, die sich nicht die Mühe machten, hierherzukommen, sondern ihre Ansichten über das Ende der sogenannten Langen Zählung der Maya von der eigenen Kanzel aus predigten. Einige prophezeiten verheerende Überschwemmungen, katastrophale Erdbeben und die Umkehrung der Magnetfelder an den Polen, wodurch jegliches Leben auf der Erde ausgelöscht würde. Andere behaupteten, unsere hoch technisierte Welt werde zusammenbrechen und die Menschheit auf eine primitivere Entwicklungsstufe zurückgeworfen. Seriöse Maya-Experten, darunter auch Chel, fanden die Idee, am 21. Dezember könne die Welt untergehen, einfach absurd. Doch das hielt die 2012er nicht davon ab, das uralte Wissen der Maya zu benutzen, um T-Shirts oder Karten für ihre Vorträge an den Mann zu bringen oder um Chels Volk in nächtlichen Fernsehshows zur Zielscheibe des Spotts zu machen. »Chel?« Als sie sich umdrehte, stand Maraka hinter ihr. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Zeremonie zu Ende war und die Kirchenbesucher sich aus den Bankreihen schoben. Der »Hüter des Tages« legte ihr die Hand auf die Schulter. Er war inzwischen fast achtzig, und seine früher einmal schwarzen Haare waren ganz weiß geworden. »Willkommen. Du kannst ins Büro, es ist alles vorbereitet. Es wäre natürlich schön, wenn du auch einmal wieder den Gottesdienst besuchen würdest.« Chel zuckte mit den Schultern. »Ich versuch’s, versprochen. Ich hatte in letzter Zeit viel um die Ohren, Hüter des Tages.« Maraka lächelte. »Das weiß ich, Chel. In Lak’ech.« Ich bin du, und du bist ich. Chel neigte den Kopf. Die traditionelle Grußformel war sogar in Guatemala ungebräuchlich geworden, aber viele alte Menschen legten noch immer Wert darauf, und Chel fand, wenn sie schon kein Interesse mehr am Besuch des Gottesdienstes hatte, konnte sie Maraka wenigstens diesen Gefallen tun. Und so erwiderte sie leise: »In Lak’ech.« Dann ging sie in den hinteren Teil der Kirche. Vor dem Büro, in dem sie jede Woche eine Art Sprechstunde abhielt, warteten schon etliche Hilfesuchende. Die Larakams waren die Ersten. Chel hatte gehört, dass Vicente in die Fänge eines Kredithais geraten war, der sein Geschäft mit Leuten wie den Larakams machte – Einwanderer, die nicht glauben konnten, dass das Leben hier vielleicht noch schlimmer war als das, das sie in Guatemala hinter sich gelassen hatten. Chel fragte sich, ob Ina, Vicentes Frau, die einen intelligenten Eindruck auf sie machte, es vielleicht geahnt hatte. Ina trug einen bodenlangen Rock und eine huipil genannte Baumwollbluse mit einem komplizierten Zickzackmuster. Die traditionelle Kleidung unterstrich ihre traditionelle Rolle als Ehefrau, und das bedeutete, sie würde ihrem Mann nicht widersprechen, egal, wie schlecht sein Urteilsvermögen auch sein mochte. »Danke, dass wir kommen durften«, sagte sie ruhig. Vicente erklärte langsam, dass er sich Geld zu Wucherzinsen geliehen hatte, damit sie sich eine Einzimmerwohnung in Echo Park mieten konnten, und jetzt waren die Belastungen höher als sein Lohn als Landschaftsgärtner. Er machte ein Gesicht, als lastete die ganze Welt auf seinen Schultern. Ina stand stumm neben ihm, aber ihre Augen sahen Chel flehentlich an. Die beiden Frauen verstanden sich auch ohne Worte. Chel begriff, wie viel Überwindung es Vicente gekostet hatte, hierherzukommen und sie um Hilfe zu bitten. Wortlos gab er Chel den Vertrag des Halsabschneiders, den er unterschrieben hatte, und als sie das Kleingedruckte las, stieg eine vertraute Wut in ihr hoch. Vicente und Ina waren nur zwei von den zahllosen Einwanderern aus Guatemala, die sich, überwältigt von der Flut neuer Eindrücke, in diesem Land zurechtzufinden versuchten, und es gab genug Leute, die das gnadenlos ausnutzten. Andererseits waren die Nachfahren der Maya schlicht zu vertrauensselig. Nicht einmal fünfhundert Jahre Unterdrückung hatten es geschafft, sie mit einem Mindestmaß an überlebensnotwendigem Zynismus auszustatten, und dafür mussten sie teuer bezahlen. Doch zum Glück für die Larakams hatte Chel ausgezeichnete Kontakte, vor allem zu Rechtsanwälten und anderen Beratungsstellen. Sie schrieb ihnen den Namen eines Anwalts auf, mit dem sie sich in Verbindung setzen sollten. Doch bevor sie sich verabschieden konnte, griff Ina in ihre Tasche, zog eine Plastikdose heraus und reichte sie Chel. »Pepian«, sagte sie. »Meine Tochter und ich haben es für Sie gekocht.« Chels Tiefkühltruhe war bereits randvoll mit dem süßlichen Hühnergericht, das sie immer wieder von Mitgliedern der Fraternidad geschenkt bekam, aber sie bedankte sich und nahm es trotzdem. Der Gedanke, dass Ina und deren kleine Tochter es gemeinsam zubereitet hatten, machte sie glücklich. Die guatemaltekische Gemeinde hatte eine Zukunft in L.A., und darüber freute sie sich von ganzem Herzen. Chels eigene Mutter, die in einem kleinen Dorf in Guatemala aufgewachsen war, verbrachte den Morgen wahrscheinlich vor dem Fernseher, schaute sich Good Morning Amertca an und aß eine Schale Cornflakes dazu. »Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Chel, als sie Vicente die Unterlagen zurückgab. »Und seien Sie das nächste Mal vorsichtiger. Lassen Sie sich nicht auf irgendwelche Geschäfte mit jemandem ein, dessen Gesicht Sie an der Bushaltestelle sehen. Das macht diese Leute nicht zu Berühmtheiten. Jedenfalls nicht im positiven Sinne. Kommen Sie lieber zu mir.« Vicente nahm seine Frau bei der Hand und lächelte angespannt. Dann verließen sie das Büro. Eine Stunde lang kümmerte sich Chel um die Anliegen, die an sie herangetragen wurden. Sie erklärte einer Schwangeren ein Programm für Schutzimpfungen, schaltete sich für Marakas Vertreter wegen einer strittigen Kreditkartenabrechnung ein und befasste sich mit der Klage eines Vermieters gegen einen alten Freund ihrer Mutter. Als ihr letzter Besucher gegangen war, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Sie dachte an die antike Keramikvase im Getty Museum, in der man Überreste von Tabak gefunden hatte, einer der ältesten Tabakfunde überhaupt. Kein Wunder, dass es ihr so verdammt schwerfiel, das Rauchen aufzugeben. Die Menschen rauchten seit Jahrtausenden. Ein energisches Klopfen holte Chel in die Wirklichkeit zurück. Sie stand auf und ging zur Tür. Verblüfft sah sie den Mann an, der vor ihr stand. Sie hatte ihn seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Er gehörte zu einer völlig anderen Welt als die indígenas, die sich zu den Fraternidad-Messen versammelten, deshalb erschrak sie unwillkürlich bei seinem Anblick. »Was machen Sie hier?«, fragte sie, als Hector Gutierrez ins Büro trat. »Ich muss mit Ihnen reden.« Sie hatte Gutierrez nur ein paar Mal getroffen, aber er schien immer in guter körperlicher Verfassung zu sein. Jetzt hatte er dunkle Schatten unter den Augen, die müde und glasig starr blickten. Er schwitzte stark und tupfte sich mit einem Taschentuch nervös den Schweiß vom Gesicht. Chel hatte ihn noch nie unrasiert gesehen. Sein Bart wuchs bis zu dem portweinroten Fleck unter seiner linken Schläfe hinauf. Chels Blick fiel auf die Tasche in seiner Hand. »Woher haben Sie gewusst, dass ich hier bin?« »Ich habe in Ihrem Büro angerufen.« Chel nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass niemand in ihrem Labor diese Information noch einmal herausgab. »Ich habe etwas, das Sie sich unbedingt ansehen müssen«, fuhr er fort. Sie warf einen misstrauischen Blick auf den Matchsack in seiner Hand. »Sie sollten nicht hier sein.« »Ich brauche Ihre Hilfe. Sie haben meinen alten Lagerraum entdeckt, wo ich meinen Bestand deponiert hatte.« Chel spähte zur Tür, um sich zu vergewissern, dass niemand lauschte. »Sie« konnte nur eines bedeuten: Die Beamten der Einwanderungs- und Zollbehörde, die unter anderem gegen Antiquitätenschmuggel vorgingen, waren ihm auf den Fersen. »Ich hatte den Lagerraum schon ausgeräumt«, fuhr Gutierrez fort. »Aber sie haben ihn durchsucht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie bei mir zu Hause aufkreuzen.« Chel schnürte es unwillkürlich die Kehle zu, als sie an das Gefäß in Form eines Schildkrötenpanzers dachte, das sie ihm vor über einem Jahr abgekauft hatte. »Und Ihre Unterlagen? Haben sie die auch gefunden?« »Keine Sorge, im Moment sind Sie sicher. Aber Sie müssen das hier für mich aufbewahren, Dr. Manu. Nur so lange, bis keine Gefahr mehr besteht.« Er hielt ihr die Tasche hin. Chel schaute abermals zur Tür und flüsterte: »Sie wissen, dass ich das nicht tun kann.« »Sie haben Stahlkammern im Museum. Legen Sie es dorthinein. Nur für ein paar Tage. Kein Mensch wird etwas merken.« Sie sollte ihm einfach sagen, dass er das, was er da in der Tasche hatte, loswerden sollte. Sie wusste, dass sie das tun sollte. Sie wusste auch, dass es sich um etwas äußerst Wertvolles handeln musste, wenn er das Risiko eingegangen war, es herzubringen. Man konnte Gutierrez nicht trauen, aber wenn es darum ging, Antiquitäten zu beschaffen, war er ein absoluter Profi, und er kannte ihre Leidenschaft für die Artefakte ihres Volkes. »Kommen Sie«, raunte Chel ihm zu und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, ihr zu folgen. Einige vereinzelte Gläubige blickten kurz auf, als sie vor ihm in das Kellergewölbe der Kirche hinunterging und weiter durch die Glastüren mit Engelsgravuren in das Mausoleum, wo in Wandnischen die Urnen mit der Asche etlicher Tausend Katholiken aufbewahrt wurden. Chel betrat einen der Räume, in denen Steinbänke vor glänzenden weißen Wänden mit eingemeißelten Namen und Daten standen, eine akribische Bibliografie des Todes. Chel schloss sorgfältig die Tür hinter sich. »Lassen Sie sehen.« Gutierrez zog ein ungefähr sechzig auf sechzig Zentimeter großes quadratisches Holzkistchen, das in Plastikfolie eingewickelt war, aus seinem Beutel. Als er die Folie entfernte, stieg der unverkennbare scharfe Geruch von Fledermausexkrementen auf – der typische Geruch eines Gegenstands, der vor Kurzem erst aus einer alten Grabstätte geborgen worden war. »Es muss unbedingt fachkundig konserviert werden, bevor es noch mehr zerfällt.« Er nahm den Deckel der Kiste ab. Im ersten Moment begriff Chel nicht, was sie da vor sich hatte. Der Inhalt sah aus wie eine Art Verpackungsmaterial. Als sie sich darüberbeugte, erkannte sie jedoch, dass es sich um vergilbte, brüchige Blätter aus Baumrinde handelte, die lose in der Kiste lagen. Die Blätter waren mit Wörtern und sogar ganzen Sätzen in der Sprache ihrer Vorfahren beschrieben. Die alten Maya hatten eine Hieroglyphen-Schrift entwickelt, und die Fragmente waren nicht nur über und über mit diesen sogenannten Glyphen bedeckt, sondern auch mit Darstellungen von Göttern in farbenprächtigen Gewändern. »Ein Kodex?«, sagte Chel. »Kommen Sie, machen Sie sich doch nicht lächerlich!« Die Geschichtsaufzeichnungen der Maya, niedergeschrieben von einem Schreiber im Auftrag des Königs, wurden als Kodex bezeichnet. Chel hatte das Wort »selten« im Zusammenhang mit blauen Diamanten oder einer Gutenberg-Bibel gehört, aber verglichen mit dem überlieferten Schrifttum der Maya kamen Gutenberg-Bibeln oder blaue Diamanten geradezu oft vor: Nur vier solcher Bücher waren erhalten geblieben. Wie konnte Gutierrez auch nur eine Minute lang glauben, sie würde ihm abnehmen, dass er in den Besitz neuer Texte gelangt war? »Seit dreißig Jahren ist kein neuer Kodex mehr entdeckt worden«, fügte sie hinzu. »Bis jetzt.« Der Mann schälte sich aus seiner Jacke. Chel beugte sich abermals über die kleine Kiste. Während ihres Studiums hatte sie einmal die seltene Gelegenheit gehabt, einen Originalkodex zu sehen, daher wusste sie genau, wie einer aussehen und sich anfühlen musste. In einem Gewölbe in Deutschland hatte sie unter den wachsamen Blicken bewaffneter Wachleute die Seiten des Dresdner Kodex umgeblättert und war beim Anblick der Bilder und Zeichen tausend Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Es war ein Schlüsselerlebnis: Es hatte sie dazu bewogen, sich in ihrem weiteren Studium der Sprache und den Schriften ihrer Vorfahren zu widmen. »Das ist eine Fälschung, das ist doch klar«, sagte sie und zwang sich, den Blick abzuwenden. Heutzutage handelte es sich bei mehr als der Hälfte der Artefakte, die ihr angeboten wurden, um Fälschungen, selbst wenn sie ganz legal von einem renommierten Händler kamen. Sogar der Geruch nach Fledermausexkrementen ließ sich künstlich herstellen. »Und um eins klarzustellen: Als Sie mir das Tongefäß in Form eines Schildkrötenpanzers verkauft haben, wusste ich nicht, dass es sich um Diebesgut handelte. Sie haben mich mit den Papieren bewusst in die Irre geführt. Also versuchen Sie nicht, der Polizei etwas anderes zu erzählen.« Doch die Wahrheit war komplizierter. Als Kuratorin für die Kunst der Maya musste Chel jeden für das Getty Museum erworbenen Gegenstand dokumentieren und dessen Herkunft lückenlos bis zum Ursprung zurückverfolgen und belegen. Das hatte sie auch mit dem von Gutierrez gekauften antiken Gefäß getan, doch dann, Wochen später, hatte sie festgestellt, dass es Unstimmigkeiten gab. Ihre Entdeckung für sich zu behalten war ein Risiko, das war ihr klar, aber sie brachte es einfach nicht fertig, sich von diesem einzigartigen Zeugnis der Geschichte zu trennen, und so behielt sie es und schwieg. Der eigentliche Skandal war doch, dass das Erbe ihres Volkes auf dem Schwarzmarkt verhökert wurde und jedes Artefakt, das sie nicht kaufte, für immer im Haus irgendeines Sammlers verschwand. »Bitte«, sagte Gutierrez beschwörend und überging geflissentlich ihre Bemerkung über das Gefäß. »Heben Sie es nur ein paar Tage für mich auf.« Chel beschloss, die Sache an Ort und Stelle zu klären. Sie griff in ihre Handtasche und zog ein paar weiße Baumwollhandschuhe und eine Pinzette heraus. »Was haben Sie vor?«, fragte Gutierrez. »Ich werde Ihnen beweisen, dass das Ding da eine Fälschung ist.« Die Plastikfolie war noch feucht vom Schweiß des Mannes, und Chel spannte sich unwillkürlich an, als die Feuchtigkeit durch den Stoff ihrer Handschuhe sickerte. Gutierrez kniff sich in den Nasenrücken und rieb sich dann energisch die geröteten Augen. Sein Körpergeruch stach Chel noch schärfer in die Nase als der Geruch von Fledermausexkrementen. Doch als sie mit beiden Händen in die Kiste griff und vorsichtig die brüchigen Blätter untersuchte, vergaß sie alles um sich herum. Ihr erster Gedanke war, dass die Glyphen zu alt waren. Die Geschichte der Maya ließ sich in zwei Perioden unterteilen: in die klassische, die den Aufstieg ihrer Kultur von 200 v. Chr. bis 900 v. Chr. umfasste, und die postklassische, wie man die Zeit ihres Niedergangs bis zur Ankunft der Spanier um 1500 herum bezeichnete. Das Schrifttum der Maya hatte sich formal und auch inhaltlich im Lauf der Zeit unter äußeren Einflüssen entwickelt und verändert, und jede Periode hatte ihre eigene unverwechselbare Schrift. Aus der klassischen Periode war nicht ein einziges Stück beschriebenes Papier überliefert worden; alle vier bekannten Maya-Kodizes waren erst Jahrhunderte später entstanden. Nur Inschriften in Ruinen gaben Hinweise darauf, wie die Schrift in der klassischen Periode ausgesehen haben musste. Doch die Zeichen der Blätter, die Chel jetzt betrachtete, schienen irgendwann zwischen 800 und 900 v. Chr. niedergeschrieben worden zu sein, und das war ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn es echt wäre, würde es sich um das wertvollste Artefakt in der Geschichte der mesoamerikanischen Forschung handeln. Chel überflog die Zeilen auf der Suche nach einer Unstimmigkeit – eine unsauber gemalte Glyphe, die Darstellung eines Gottes ohne den richtigen Kopfputz, ein Fehler in der zeitlichen Abfolge. Doch sie konnte nichts finden. Die schwarze und die rote Tinte waren verblasst, wie es sein sollte, und die blaue leuchtete immer noch so, wie es in echten Maya-Texten der Fall war. Das Papier war verwittert, als hätte es tausend Jahre in einer Höhle überdauert, die Rinde war brüchig und spröde. Was Chel aber noch mehr beeindruckte, war die Tatsache, dass sich der Text ganz flüssig las. Die Kombination der Glyphen ergab intuitiv einen Sinn, genau wie die Piktogramme. Wie bei einem Kodex aus dieser Zeit zu erwarten war, schienen die Glyphen in einer frühen Version des klassischen Ch’olan geschrieben zu sein. Besonders die phonetischen Ergänzungen über den Glyphen, die dem Leser beim Entschlüsseln der Bedeutung helfen sollten, verblüfften Chel. Sie waren in Qu’iche geschrieben. Die bekannten postklassischen Handschriften mit ihren mexikanischen Einflüssen waren in Yucatec und in der Mayasprache Ch’olan verfasst worden. Chel vermutete aber schon länger, dass ein klassischer Text aus Guatemala Ergänzungen in dem Dialekt haben könnte, mit dem ihre Eltern aufgewachsen waren. Wer auch immer dieses Buch gefälscht haben mochte, musste ein tiefes und differenziertes Verständnis der Geschichte und der Sprache gehabt haben. Chel konnte nicht fassen, mit welcher Kunstfertigkeit der Fälscher zu Werke gegangen war. Wahrscheinlich hätten sich selbst einige ihrer fachkundigsten Kollegen davon täuschen lassen. Dann fiel ihr Blick auf eine Sequenz von Glyphen, und sie erstarrte. Auf einem der größten Papierstücke waren drei Piktogramme zu einem Satzfragment aneinandergereiht worden: Wasser, dazu gemacht, aus einem Stein emporzuschießen Chel blinzelte verwirrt. Der Verfasser konnte damit nur einen Brunnen meinen. Aber kein Fälscher der Welt hätte einen Brunnen erwähnen können, weil erst seit Kurzem bekannt war, dass die Maya jener Zeit bereits welche gekannt hatten. Erst vor knapp vier Wochen hatte ein Archäologe der Pennsylvania State University herausgefunden, dass, entgegen der landläufigen Meinung, nicht die Spanier die ersten Aquädukte in der Neuen Welt errichtet hatten: Die Maya hatten schon Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäer Wasserleitungen gebaut. Eine Handschrift wie diese konnte unmöglich in so kurzer Zeit gefälscht worden sein. Chel schaute auf und sah Gutierrez ungläubig an. »Wo haben Sie die her?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen, das wissen Sie doch.« Chel konnte sich schon denken, woher die Handschrift stammte: Sie war aus einem Grab in irgendeiner Maya-Ruine geraubt worden, wie so viele andere Schätze auch. »Wer weiß sonst noch davon?« »Nur meine Quelle«, antwortete Gutierrez. »Verstehen Sie jetzt, wie wertvoll dieser Fund ist?« Wenn sie sich nicht irrte, enthielten diese Texte mehr Informationen über die Geschichte der Maya als alle bisher bekannten Ruinen zusammen. Der Dresdner Kodex, der von den vier überlieferten Handschriften am besten erhalten war, würde auf einer Versteigerung zehn Millionen Dollar einbringen, aber die Seiten, die sie hier vor sich liegen hatte, würden alles in den Schatten stellen. »Haben Sie vor, das Buch zu verkaufen?« »Wenn der richtige Zeitpunkt kommt.« Selbst wenn sie das Geld hätte, würde dieser Zeitpunkt für sie wahrscheinlich nie kommen. Legal konnte sie die Handschrift nicht erwerben, weil sie offensichtlich gestohlen war, und die Rekonstruktion und Entzifferung der Texte würde so umfangreiche Nachforschungen erfordern, dass sie es nicht lange würde geheim halten können. Und wenn je herauskäme, dass sie im Besitz eines geraubten Kodex war, würde sie ihre Stelle verlieren und müsste wahrscheinlich mit einer Anzeige rechnen. »Warum sollte ich es für Sie aufbewahren?«, fragte sie. »Damit ich genug Zeit habe, die entsprechenden Papiere nachzumachen, damit es an ein amerikanisches Museum verkauft werden kann – an Ihres, hoffe ich. Und weil keiner von uns das Buch je wiedersehen wird, wenn es jetzt der Einwanderungs- und Zollbehörde in die Hände fällt.« Chel wusste, dass Gutierrez recht hatte. Wenn die Handschrift jetzt beschlagnahmt wurde, würde sie der guatemaltekischen Regierung zurückgegeben werden, die weder die finanziellen Mittel hatte noch die Experten, die für die Auswertung, Konservierung und Ausstellung einer so kostbaren Handschrift nötig waren. Das in Mexiko entdeckte Grolier-Fragment verrottete dort seit den 1980er-Jahren in einem Kellergewölbe. Gutierrez machte den Deckel der Holzkiste wieder zu und packte sie sorgfältig ein. Es juckte Chel regelrecht in den Fingern, den alten Text noch einmal zu berühren. Das spröde Papier zerfiel und musste unbedingt fachkundig konserviert werden. Vor allem aber musste die Welt erfahren, was in diesem Buch geschrieben stand, weil es ein Zeugnis der Geschichte ihres Volkes war. Und die Geschichte ihres Volkes geriet mit jedem Tag mehr in Vergessenheit. 3 Das East L.A. Presbyterian Hospital: vergitterte Fenster und draußen ein Grüppchen von Rauchern, wie sie vor heruntergekommenen Krankenhäusern immer herumstanden und pafften. Der Haupteingang war geschlossen, weil durch eine undichte Stelle in der Decke der Eingangshalle Wasser tropfte, und so wurden Besucher und Patienten gleichermaßen durch die Notaufnahme in das Krankenhaus gelotst. Eine wilde Mischung unterschiedlichster Gerüche schlug Stanton drinnen entgegen: Alkohol, Schmutz, Blut, Urin, Erbrochenes, Desinfektionsmittel, Luftverbesserer, Tabak. Im Wartezimmer saßen Dutzende Kranke und warteten darauf, dass sie aufgerufen wurden. Stanton kam nicht oft in solche Einrichtungen: In einem Krankenhaus, das sich Tag für Tag mit den Opfern von Bandenkriminalität beschäftigen musste, bestand kein Bedarf an einem Prionenspezialisten, der akademische Vorträge hielt. Während eine eindeutig gestresste Krankenschwester, die hinter einer kugelsicheren Scheibe saß, Dr. Thane zu erreichen versuchte, ging Stanton zu einer Gruppe von Besuchern, die sich um einen an der Wand angebrachten Fernseher geschart hatten. Ein Bergungsschiff der Küstenwache zog ein Flugzeug aus dem Meer. Rettungsboote und Helikopter kreisten um die Trümmer. Flug 126 der Aero Globale war auf dem Weg von L.A. nach Mexico City gewesen, als die Maschine vor der Küste von Baja California ins Meer stürzte. Zweiundsiebzig Passagiere und acht Besatzungsmitglieder waren ums Leben gekommen. So kann’s gehen, dachte Stanton. Auf einmal ist alles vorbei. Egal, wie oft das Leben ihn auch zu dieser Erkenntnis zwingen mochte, der Gedanke verblüffte ihn immer wieder aufs Neue. Man trieb Sport und ernährte sich gesund, man ließ sich einmal im Jahr durchchecken, arbeitete vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche, ohne sich zu beklagen, und dann stieg man eines Tages einfach ins falsche Flugzeug, und das war’s. »Dr. Stanton?« Das Erste, was ihm an der groß gewachsenen Schwarzen im grünen Overall auffiel, waren die breiten Schultern. Die Frau war Anfang dreißig, hatte kurz geschnittene Haare und trug eine Brille mit dicken Gläsern und schwarzem Gestell, was ihr das Aussehen einer Exrugbyspielerin verlieh, die einen auf hip machte. »Ich bin Michaela Thane.« »Gabriel Stanton.« Er schüttelte ihr die Hand. Thane schaute zum Fernseher hinauf. »Schrecklich, nicht wahr?« »Weiß man schon, wie es passiert ist?« »Angeblich menschliches Versagen.« Sie führte ihn aus der Notaufnahme. »Oder wie wir hier sagen: RDSA – Ruf die Scheißanwälte an.« »Apropos anrufen – ich nehme an, Sie haben das Gesundheitsamt informiert?«, fragte Stanton, als sie zum Lift gingen. Thane drückte mehrmals auf einen Knopf, der partout nicht aufleuchten wollte. »Sie haben versprochen, jemanden herzuschicken.« »Ich schätze, das kann dauern«, bemerkte Stanton trocken. Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Stanton lächelte. Endlich kam der Lift. In der Kabine drückte Thane auf den Knopf mit der Sechs. Ihr Ärmel rutschte dabei ein Stück hoch, und Stanton bemerkte die Tätowierung auf ihrem Trizeps – ein Weißkopfadler mit einer Schriftrolle zwischen den Schwingen. »Sie kommen von der Army?« »Ja, ich war bei der 565. Sanitätskompanie. Zu Ihren Diensten, Sir!« »Aus Fort Polk?« »Stimmt. Kennen Sie das Bataillon?« »Mein Vater war bei den Pionieren. Bei der 46. Wir haben drei Jahre in Fort Polk gewohnt. Waren Sie vor Ihrer Assistenzzeit im aktiven Dienst?« »Ich habe für mein Medizinstudium die Ausbildung für Reserveoffiziere absolviert, und nach meinem Praktikum haben sie mich geholt«, antwortete sie. »Zwei Jahre Luftrettung per Helikopter in der Nähe von Kabul. Als ich aus der Army entlassen wurde, war ich Captain.« Stanton war beeindruckt. Verwundete Soldaten über eine Luftbrücke von der Front zurückzuholen war so ziemlich der gefährlichste Einsatz im Sanitätsdienst. »Wie viele Fälle von FFI haben Sie schon gesehen?«, fragte Thane, als sich der Lift endlich in Bewegung setzte. »Sieben«, erwiderte Stanton. »Und alle Patienten sind gestorben?« Er nickte ernst. »Sind die Ergebnisse der Gentests schon da?« »Noch nicht, müssten aber bald kommen. Ich habe inzwischen übrigens herausgefunden, wie der Patient hierhergekommen ist. Die Polizei hat ihn in einem Super 8 Motel ein paar Blocks von hier festgenommen, weil er auf andere Gäste losgegangen ist. Als den Beamten klar wurde, dass der Mann krank ist, haben sie ihn hierher gebracht.« »Wir können von Glück sagen, dass er nach einer Woche ohne Schlaf nichts Schlimmeres verbrochen hat.« Schon eine einzige schlaflose Nacht konnte das Wahrnehmungsvermögen so stark beeinträchtigen wie ein Blutalkoholspiegel von 0,1 Promille. Halluzinationen, Delirium und starke Stimmungsschwankungen konnten die Folge sein. Nach mehreren Wochen sich verschlimmernder Insomnie trugen sich die Patienten mit Selbstmordgedanken. Doch die meisten, die Stanton gesehen hatte, starben an völliger psychischer und physischer Erschöpfung. »Sagen Sie, Dr. Thane, war es eigentlich Ihre Idee, den Amylasespiegel zu messen?« Der Aufzug hielt im sechsten Stock. »Ja, wieso?« »Die meisten Assistenzärzte wären nicht auf die Idee gekommen, FFI auf die Liste der Differentialdiagnosen zu setzen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Heute Morgen war ein Obdachloser in der Notaufnahme, der acht Tüten Bananenchips gefuttert hatte. Er wollte damit seinen Kaliumspiegel in die Höhe treiben, damit wir ihn stationär aufnehmen. Wenn Sie ein bisschen mehr Zeit hier verbringen würden, wäre Ihnen klar, dass wir einfach alles in Betracht ziehen müssen.« Sie näherten sich dem Nervenzentrum der Station. Stanton bemerkte, dass alle Angehörigen des Personals Thane im Vorbeigehen zulächelten oder zunickten oder zuwinkten. Der Empfangsbereich sah aus, als wäre er seit Jahrzehnten nicht mehr modernisiert worden. Sogar die Computer waren vorsintflutlich. Krankenschwestern und Assistenzärzte kritzelten Notizen in Schnellhefter, deren Farbe schon verblasste. Pflegekräfte beendeten ihre Runde und stapelten die leeren Tabletts aus den Krankenzimmern. Vor Zimmer 621 war ein Angestellter des Sicherheitsdienstes postiert worden. Der Mann war mittleren Alters, hatte eine dunkle Hautfarbe und einen Bürstenschnitt und trug einen rosaroten Mundschutz, der bis auf die Augen das ganze Gesicht verdeckte. »Alles in Ordnung da drin, Mariano?«, fragte Thane. »Ja, im Moment ist er recht ruhig«, antwortete der Mann und klappte sein Kreuzworträtselheft zu. »Ein paar kurze Ausbrüche, sonst nichts.« »Das ist Mariano«, stellte Thane den Angestellten vor. »Mariano, das ist Dr. Stanton. Er wird uns bei dem Fall unseres unbekannten John Doe behilflich sein.« Marianos dunkelbraune Augen richteten sich auf Stanton. »Seit er vor drei Tagen eingeliefert wurde, hat er die meiste Zeit wie wild um sich geschlagen und herumgebrüllt. Kann ganz schön laut werden da drin. Wuuh wuuh wuuh, das ist alles, was er von sich gibt.« »Was sagt er?«, fragte Stanton stirnrunzelnd. »Wuuh oder wuudsch. So ähnlich hört es sich jedenfalls an. Weiß der Teufel, was das zu bedeuten hat.« »Ich habe es bei Google eingegeben, aber nichts gefunden, das irgendeinen Sinn ergeben würde, egal, in welcher Sprache«, sagte Thane. Mariano zog die Gummischlaufen seines Mundschutzes fest hinter die Ohren. »Hey, Doc, Sie sind doch der Experte hier. Kann ich Sie was fragen?« Stanton streifte Thane mit einem flüchtigen Blick. »Sicher.« »Das ist doch nicht ansteckend, was der Typ da hat, oder?« »Nein, machen Sie sich keine Sorgen.« Stanton folgte Thane in das Krankenzimmer. »Ich glaube, er hat sechs Kinder oder so«, flüsterte Thane, als sie außer Hörweite waren. »Er hat Angst, er könnte etwas von hier mit nach Hause bringen. Ich habe ihn noch nie ohne Mundschutz gesehen.« Stanton zog einen Mundschutz aus einem Automaten an der Wand und band ihn sich um. »Wir sollten seinem Beispiel folgen«, sagte er und gab Thane ebenfalls eine Maske. »Insomnie schwächt das Immunsystem, wir müssen verhindern, dass unser John Doe mit einer Erkältung oder irgendeinem Erreger infiziert wird, gegen den er keine Abwehrkräfte hat. Der Raum darf nur mit Mundschutz und Handschuhen betreten werden. Sorgen Sie dafür, dass ein entsprechender Hinweis an der Tür angebracht wird.« Stanton hatte schon schlimmere Krankenzimmer gesehen, allerdings nicht in den Vereinigten Staaten. Zwei Metallbetten, Nachttische mit gesprungener Platte, zwei orangerote Stühle, Vorhänge mit ausgefransten Kanten. Spender mit Handdesinfektionsmittel hingen wackelig an der Wand, die Decke war durch Stockflecken von einem Wasserschaden verfärbt. Der unbekannte John Doe lag in dem Bett, das gleich beim Fenster stand. Er war ungefähr eins fünfundsechzig groß, dünn, mit dunkler Haut und langen schwarzen Haaren, die über seinen Schultern lagen. Elektroden, die mit dünnen Drähten an einen Elektroenzephalographen zur Messung der Hirnströme angeschlossen waren, standen ihm vom Kopf ab. Das Krankenhaushemd klebte ihm am Körper wie Seidenpapier, und er stöhnte leise. Die beiden Ärzte beobachteten, wie der Patient sich unruhig hin und her warf. Stanton fielen die Augenbewegungen auf, die seltsam abgehackte Atmung und das unkontrollierte Muskelzucken in den Händen. Stanton hatte in Österreich einmal eine an FFI erkrankte Frau behandelt. Man hatte sie ans Bett fesseln müssen, so heftig war ihr Tremor gewesen. Hilflos mitansehen zu müssen, wie ihre Mutter sich quälte, und gleichzeitig zu wissen, dass sie eines Tages möglicherweise das gleiche Schicksal ereilen würde, hatte die Kinder der Frau ungeheuer belastet. Es war eine niederschmetternde Erfahrung für Stanton gewesen. Thane bückte sich und schüttelte John Does Kissen auf. »Wie lange kann man ohne Schlaf überleben?«, fragte sie. »Bei totaler Insomnie maximal zwanzig Tage«, antwortete Stanton. Selbst die Ärzte wussten so gut wie nichts über das Phänomen Schlaf. In vier Jahren Ausbildungszeit zum Mediziner wurde diesem Thema nicht einmal ein ganzer Tag gewidmet. Was Stanton darüber wusste, hatte er durch seine FFI-Fälle gelernt. Bis jetzt war noch nicht einmal klar, warum Menschen und andere Lebewesen überhaupt Schlaf brauchten: Funktion und Bedeutung des Schlafs waren so rätselhaft wie die Existenz der Prionen. Einige Fachleute glaubten, Schlaf diene der Erholung des Gehirns, trage zur Wundheilung bei und unterstütze den Stoffwechsel. Andere wiederum vertraten die Auffassung, Schlafen schütze Tiere durch den Rückzug in eine sichere Umgebung vor nächtlichen Gefahren und sei eine Methode, um Energie zu sparen. Aber noch niemand hatte eine Erklärung dafür gefunden, warum der extreme Schlafmangel Stantons FFI-Patienten tötete. Plötzlich riss John Doe seine blutunterlaufenen Augen auf und stöhnte laut: »Wuuh wuuh wuuh!« Stanton studierte die Hirnaktivität des Patienten auf dem Überwachungsmonitor wie ein Musiker, der die Noten eines Stückes betrachtet, das er schon unzählige Male gespielt hat. Der normale Schlaf ließ sich in vier Phasen unterteilen, die im Abstand von jeweils etwa neunzig Minuten aufeinanderfolgen und an charakteristischen Hirnstromkurven zu erkennen sind, die hier jedoch wie erwartet vollständig fehlten. Kein Non-REM-Schlaf, kein REM, gar nichts. Das Gerät bestätigte, was Stanton bereits intuitiv und aus Erfahrung wusste: Es handelte sich hier definitiv nicht um eine Methamphetaminabhängigkeit. »Wuuh wuuh wuuh!« »Und, was halten Sie davon?«, fragte Thane. Stanton sah ihr in die Augen. »Ich denke, das könnte der erste Fall von FFI in der Geschichte der Vereinigten Staaten sein.« Obwohl sie sich in ihrer Diagnose bestätigt sehen konnte, machte Thane kein besonders glückliches Gesicht. »Er wird sterben, oder?« »Höchstwahrscheinlich.« »Und wir können nichts für ihn tun?« Diese Frage hatte Stanton zehn Jahre lang gestellt. Vor der Entdeckung der Prionen waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass lebensmittelbedingte Krankheiten von Bakterien, Viren oder Pilzen herrührten, die ihre DNA oder RNA dann replizierten. Doch Prionen hatten weder das eine noch das andere: Sie bestanden aus reinem Eiweiß und »vermehrten« sich, indem sie andere, normale Proteine in pathogene umwandelten. Das bedeutete, dass ihnen mit den herkömmlichen Therapien gegen bakterielle oder virale Infektionen nicht beizukommen war. Sie konnten weder durch Antibiotika noch durch antivirale oder sonstige Medikamente bekämpft werden. »Ich habe wissenschaftliche Beiträge über Pentosan-Polysulfat und das Malariamedikament Quinacrine gelesen«, sagte Thane. »Was ist damit?« »Quinacrine zerstört die Leber«, erklärte Stanton. »Und Pentosan-Polysulfat kriegen wir nicht ins Gehirn, ohne noch größeren Schaden anzurichten.« Es werde zwar mit verschiedenen Therapien experimentiert, fügte er hinzu, aber noch sei keine für den Versuch am Menschen geeignet und keine von der staatlichen Gesundheitsbehörde FDA zugelassen. Aber sie konnten es John Doe immerhin so angenehm wie möglich machen, bevor das Unausweichliche eintrat. »Wo befindet sich der Temperaturregler?«, fragte Stanton. »Die Temperaturen werden zentral über eine Anlage unten im Keller geregelt«, antwortete Thane. Stanton sah sich prüfend um. Dann trat er ans Fenster, riss die Vorhänge zu, damit kein Licht mehr von draußen hereinfiel, und begann, Möbelstücke zu verrücken. »Rufen Sie unten an, sagen Sie ihnen, sie sollen die Klimaanlage für diesen Stock auf die höchste Stufe drehen. Wir müssen die Temperatur im Zimmer so weit wie möglich senken.« »Dann erfrieren die anderen Patient hier oben.« »Wozu gibt’s Decken? Außerdem brauchen wir frische Bettwäsche und Hemden für ihn. Er wird im Nu alles nass schwitzen; sagen Sie den Schwestern, dass sie seine Sachen jede Stunde wechseln sollen.« Nachdem Thane hinausgeeilt war, löschte Stanton überall das Licht und schloss die Tür. Dann warf er ein Handtuch über den EEG-Monitor, um auch diese Lichtquelle auszuschalten. Der Thalamus – eine winzige Ansammlung von Neuronen im Zwischenhirn – entschied, welche sensorischen Eindrücke ins Bewusstsein gelangten, und diente gleichsam als »Schlafschutzschild« des Körpers. Wenn es Zeit war zu schlafen, sorgte er dafür, dass Signale von der Außenwelt, wie Geräusche und Licht, abgeblockt wurden. Stanton hatte bei jedem FFI-Patienten, den er behandelt hatte, die katastrophalen Auswirkungen eines nicht mehr funktionsfähigen Thalamus erlebt. Der Kranke reagierte hochgradig empfindlich auf Licht und Geräusche, weil er praktisch einem sensorischen »Dauerbeschuss« ausgesetzt war. Stanton hatte versucht, Clara, seiner österreichischen Patientin, wenigstens ein bisschen Linderung zu verschaffen, indem er ihr Zimmer in eine Art Höhle verwandelt hatte. Er berührte John Doe sanft an der Schulter. »Habla Español?« »Tinimit wuuh, tinimit wuuh.« Stanton gab es auf. Ohne Dolmetscher würden sie nicht weiterkommen. Er untersuchte den Patienten. John Does Puls raste, sein Nervensystem arbeitete auf Hochtouren. Er atmete keuchend durch den Mund, seine Zunge war geschwollen, sein Verdauungsapparat hatte die Arbeit eingestellt. Weitere Hinweise auf FFI. Thane kam zurück. Sie zog sich einen frischen Mundschutz über. In ihrer behandschuhten Hand hielt sie einen Ausdruck, den sie Stanton gab. »Der Gentest ist da.« Sie hatten John Does DNA untersucht und besonderes Augenmerk auf Chromosom 20 gelegt, weil die für FFI charakteristische Mutation des Prionen-Proteins immer auf Chromosom 20 auftrat. Das wäre der endgültige Beweis. Stanton überflog die Ergebnisse. Er konnte nicht fassen, was er da sah: eine völlig normale DNA-Sequenz. Keinerlei Auffälligkeiten. »Das kann nicht sein, da muss im Labor irgendwas schiefgegangen sein«, sagte er mit einem flüchtigen Blick auf Thane. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie das Labor in einem Krankenhaus wie diesem wohl aussah und wie oft es zu Verwechslungen kommen musste. »Sie sollen die Tests wiederholen, sagen Sie ihnen das.« »Wieso?« Er gab ihr den Ausdruck zurück. »Weil keine Mutation vorliegt.« »Sie haben die Tests zwei Mal durchlaufen lassen. Sie wussten, wie wichtig es ist.« Thane studierte die Ergebnisse. »Ich kenne die Genetikerin, sie arbeitet äußerst sorgfältig. So was würde sie niemals vermasseln.« Stanton fragte sich, ob er das klinische Bild falsch gedeutet hatte. Wie war es möglich, dass keine Mutation vorlag? In jedem früheren Fall von FFI war eine DNA-Mutation nachgewiesen worden, was zu einer Umwandlung der Prionen im Thalamus und schließlich zu den typischen Symptomen geführt hatte. »Könnte es etwas anderes sein als FFI?«, fragte Thane. John Doe schlug wieder die Augen auf, und Stanton konnte einen flüchtigen Blick auf seine höchstens stecknadelkopfgroßen Pupillen erhaschen. Er war sich seiner Sache so sicher gewesen. Alle Symptome sprachen für FFI, auch wenn die Krankheit ungewöhnlich schnell fortschritt. »Wuuh wuuh wuuh!«, schrie der Mann wieder. »Wir müssen unbedingt einen Weg finden, uns mit ihm zu verständigen«, sagte Stanton. »Ein Dolmetscherteam ist schon unterwegs. Die können praktisch jede zentral- und südamerikanische Sprache erkennen. Wenn wir erst mal wissen, was für eine Sprache er spricht, werden wir jemanden hinzuziehen, der sie perfekt beherrscht.« Stanton nickte. »Sie sollen sich beeilen.« Thane schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Wenn keine genetische Mutation vorliegt, kann er nicht an FFI erkrankt sein, richtig?« Stanton blickte flüchtig zu ihr auf. Seine Gedanken überschlugen sich. »Richtig.« »Dann handelt es sich also nicht um eine Prionenerkrankung?« »Doch, ganz sicher. Aber wenn keine genetische Veränderung vorliegt, muss er sich auf andere Weise infiziert haben.« »Und wie?« Seit Jahrzehnten schon war eine seltene genetisch bedingte Prionenkrankheit namens Creutzfeldt-Jakob-Krankheit – oder CJD – bekannt. Dann erkrankten in England plötzlich mehrere Dutzend Menschen nach dem Verzehr von Rindfleisch. Die Krankheit verlief tödlich, und die Symptome waren die gleichen wie bei CJD. So bekam der auf den Menschen übertragene Rinderwahnsinn seinen korrekten Namen: Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Diese unterschied sich von CJD nur dadurch, dass sie durch verseuchtes Fleisch übertragen worden war. Und dass sie die Wirtschaft in unzähligen Ländern auf Jahre hinaus nachhaltig schädigte und völlig neue Richtlinien für die Produktion von Lebensmitteln erforderte. Es hatte ganz den Anschein, als würde jetzt etwas Ähnliches mit FFI passieren. »Er muss verseuchtes Fleisch gegessen haben«, sagte Stanton. John Doe warf sich wild hin und her, die Gitter an seinem Bett klapperten. Stanton hatte so viele Fragen: Was sagte der Patient? Wo kam er her? Welcher Art von Arbeit ging er nach? »Großer Gott«, murmelte Thane. »Sie meinen, eine neue Variante von Prionen, die die Symptome von FFI nachahmt? Woher wissen Sie, dass der Erreger durch Fleisch übertragen wurde?« »Wuuh wuuh wuuh …!« »Weil das die einzige andere Möglichkeit ist, sich mit einer Prionenkrankheit zu infizieren.« Und wenn er recht hatte – und dieser neue Cousin von FFI tatsächlich durch den Verzehr von Fleisch übertragen wurde –, dann mussten sie die Spur zurückverfolgen. Sie mussten herausfinden, woher das Fleisch stammte und wie es in den Verkauf gelangt war. Vor allem aber mussten sie klären, ob nicht noch mehr Menschen sich bereits infiziert hatten. John Doe brüllte jetzt wie ein Wahnsinniger: »Wuuh wuuh wuuh …!« »Und was machen wir jetzt?«, rief Thane ihm über den Krach hinweg zu. Stanton zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer in Atlanta, die nicht einmal fünfzig Leute auf der Welt kannten. Am anderen Ende wurde sofort abgenommen: »Seuchenzentrum CDC. Sie sind mit der abhörsicheren Notrufhotline verbunden.« 4 Auf der abgewetzten Ledercouch in Chels Arbeitszimmer stapelten sich Zeitungsartikel und alte Ausgaben des Journal of Mayan Linguistics. Auf dem Schreibtisch stand ein kaputter PC, und sowohl der Schreibtisch als auch der Bürosessel waren begraben unter einer Flut von Einwanderungsformularen, Hypothekenanträgen und anderem Papierkram für die Mitglieder der Fraternidad. Die Regale quollen über von Büchern, und der Fußboden war übersät damit, bis auf einen kleinen Fleck auf dem Orientteppich. Dort saß Chel seit einer Stunde und starrte auf die kleine Kiste vor sich. Sie dachte an die Kostbarkeit, die sich darin befand und auf die sie einen kurzen Blick hatte werfen dürfen – die Glyphen, die eine fantastische Geschichte über ihre Vorfahren erzählten, über die Kunstfertigkeit der Darstellung ihrer Götter. Chel hatte ihre berufliche Laufbahn dem Studium alter Maya-Inschriften gewidmet, und sie wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als die Plastikfolie zu entfernen und die Glyphen ein weiteres Mal zu betrachten, sie zu fotografieren und zu erforschen, welche Schätze noch in der Kiste waren außer jenen, die sie schon kannte. Doch seit sie sich vor der Kirche von Gutierrez verabschiedet hatte, hatte sie ein Bild im Kopf, das sie nicht mehr loswurde. Sie sah ihre ehemalige Kollegin vor sich, die sich, im Blitzlicht von Fernsehkameras aus aller Welt, heute vor einem italienischen Gericht verantworten musste. Gegen die frühere Kuratorin des Getty Museums, die für den Bereich archäologische Funde zuständig gewesen war und die nur ein paar Meter von Chel entfernt ihr Büro gehabt hatte, war Anklage erhoben worden, als sich herausstellte, dass Artefakte, die sie für das Museum erworben hatte, aus Gräbern geraubt worden waren. Sie hatte nicht nur das Museum in eine äußerst peinliche Situation gebracht, sondern auch sich selbst großen Schaden zugefügt: Sie war geächtet in der Welt der Wissenschaft und hatte außerdem im Gefängnis gesessen. Chel war sich im Klaren darüber, dass sowohl das Museum als auch die Einwanderungs- und Zollbehörde ein Exempel an ihr statuieren würden. Es war eine Sache, nach dem Erwerb eines Tongefäßes herauszufinden, dass dessen Herkunftspapiere gefälscht worden waren, so wie es ihr mit Gutierrez’ tönernem Schildkrötenpanzer passiert war. Aber ein Kodex war etwas ganz anderes. Kein Museumsdirektor auf der ganzen Welt würde auch nur eine Sekunde lang glauben, dass sie nicht genau gewusst hatte, was sie tat, als sie die Handschrift vor der Kirche angenommen hatte. Chel hob die Kiste vorsichtig hoch. Sie wog höchstens fünf Pfund. Sie stellte sie auf den Schoß und hielt sie fest. Wie war es möglich, dass diese Handschrift bis heute überdauert hatte? Mitte des 16. Jahrhunderts versuchten die Inquisitoren der katholischen Kirche, die den spanischen Eroberern nach Mittelamerika gefolgt waren, die heidnischen Einflüsse auszurotten. Sie verbrannten etliche Tausend Maya-Schriften und heilige Bücher, zerstörten Kunstwerke und Inschriften. Chel und andere Maya-Experten waren bis heute der Meinung gewesen, dass nur vier Handschriften erhalten waren. Das Grolier-Fragment beschrieb die Phasen der Venus; der Madrider Kodex befasste sich mit den Vorzeichen, die auf eine gute oder eine schlechte Ernte hindeuteten; der Pariser Kodex schilderte rituelle Handlungen und Zeremonien zu Beginn des neuen Jahres. Der von Chel besonders geschätzte Dresdner Kodex – die älteste der Maya-Handschriften, entstanden etwa um 1200 v. Chr. – enthielt astronomische Berechnungen, Geschichten über Könige, Weissagungen über die Ernte. Doch auch dieser letzte Kodex stammte nicht aus der klassischen Periode der Maya-Kultur. Wie war es also möglich, dass diese Handschrift so lange unentdeckt geblieben war? Es klingelte an der Tür. Es war schon nach acht. Wer konnte das sein? Gutierrez etwa? Warum nur hatte sie die Kiste nicht aufgemacht und den Inhalt genauer untersucht? Oder war das die Polizei? War Gutierrez vielleicht schon verhaftet worden? Hatte die Einwanderungs- und Zollbehörde ihn vielleicht beschattet, als er zur Kirche gekommen war? Chel packte die Kiste, sprang auf und eilte zum Wandschrank in ihrem Arbeitszimmer. Kein Mensch wusste von dem Versteck, das sie dort entdeckt hatte. Einer ihrer Vormieter hatte alle möglichen Erinnerungsstücke an das Los Angeles der 1920er-Jahre dort aufbewahrt. Sie versteckte die Handschrift unter einem Stapel uralter Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Wolfskill Farm, dem heutigen Westwood. Sie war schon auf dem Weg zur Tür, als es ein zweites Mal klingelte. Sie spähte durch das Fenster und atmete erleichtert auf. Draußen stand ihre Mutter. Doch Chels Erleichterung schlug rasch um in Gereiztheit. »Willst du mich die ganze Nacht hier draußen stehen lassen?«, brummte Ha’ana, als ihre Tochter ihr öffnete. Sie war nur knapp über eins fünfzig groß und trug ein knielanges marineblaues Baumwollkleid, eines von vielen, die sie von dem Hersteller erworben hatte, bei dem sie als Näherin arbeitete, seit sie in Amerika waren. Auch mit ihren silbergrauen Haaren und einigen überflüssigen Pfunden strahlte Ha’ana immer noch große Ruhe aus. »Mom, was machst du denn hier?« Ha’ana hielt ein paar Stofftaschen in die Höhe. »Dir das Abendessen kochen, weißt du nicht mehr? Willst du mich nicht endlich hereinbitten oder soll ich noch länger in dieser Kälte herumstehen?« Über den aufwühlenden Ereignissen des Tages hatte Chel ihre Verabredung zum Abendessen vollkommen vergessen. »Früher war es ordentlicher hier«, bemerkte Ha’ana, als sie eintrat und sah, in was für einem Zustand das Haus war. »Als Patrick noch da war.« Patrick. Natürlich. Das musste ja kommen. Chel war fast ein Jahr mit Patrick zusammen gewesen. Dann hatten sie sich getrennt, aus Gründen, die so kompliziert waren, dass Chel nie mit ihrer Mutter darüber gesprochen hatte. Aber Ha’ana hatte recht: Seit er vor vier Monaten ausgezogen war, hatte Chel ihr Haus unweit des Campus der University of California praktisch nur noch als Zwischenstation benutzt auf dem Weg von ihrem Büro in der Universität zum Getty Museum. Wenn sie nach einem anstrengenden Tag abends nach Hause kam, zog sie sich oft einfach nur aus und ließ sich vor den Fernseher fallen, wo eine Sendung des Discovery Channel lief, und schlief ein. »Willst du mir nicht helfen?«, rief Ha’ana aus der Küche. Chel ging zu ihr und packte die Einkaufstaschen aus. Seit einiger Zeit hatte Ha’ana Rückenschmerzen, die sie in ihrer Beweglichkeit einschränkten. Und obwohl Chel nicht die geringste Lust hatte, sich zum Essen hinzusetzen, schaffte sie es nicht, Nein zu sagen zu ihrer Mutter. Das konnte sie noch nie. Das Abendessen war eine aus vier verschiedenen Käsesorten und Spinat und viel Knoblauch zusammengemischte Lasagne. Als Kind hatte Chel ihre Mutter kaum je einmal dazu bewegen können, Speisen aus der Heimat ihrer Vorfahren zu kochen. Stattdessen war sie mit Makkaroni und Weißbrotsandwiches vollgestopft worden. Mittlerweile sah sich Ha’ana fast ununterbrochen irgendwelche Kochsendungen an, und ihre Kochkünste hatten Fortschritte gemacht. Während sie aßen, starrte Chel abwesend auf ihren Teller. Ihre Mutter erzählte von ihrer Arbeit in der Fabrik. Chel hörte kaum hin. Sie war mit den Gedanken ganz woanders: bei der Handschrift im Zimmer nebenan. »Alles in Ordnung mit dir?« Sie blickte auf und sah, dass Ha’ana sie prüfend betrachtete. »Ja, ja, alles in Ordnung, Mom.« Sie streute Paprikapulver über ihre Lasagne. »Weißt du, ich bin schon ganz aufgeregt, dass du nächste Woche in meinen Unterricht kommst.« »Oh, das habe ich dir ja noch gar nicht gesagt. Ich kann nicht kommen. Tut mir leid.« »Und warum nicht?« »Ich habe auch einen Job, Chel.« Ha’ana hatte in dreißig Jahren kaum einen Tag gefehlt. »Wenn du deiner Chefin sagst, warum du nicht kommen kannst, hat sie bestimmt nichts dagegen. Im Gegenteil, sie wird wollen, dass du kommst. Ich kann mit ihr reden, wenn du willst.« »Ich habe an dem Tag eine Doppelschicht.« »Mom, ich habe meinen Studenten so viel über die Geschichte des Dorfes erzählt, sie wären sicher begeistert, wenn sie mit jemandem sprechen könnten, der tatsächlich in Kiaqix gelebt hat.« Ha’ana nickte. »O ja, irgendjemand muss ihnen unbedingt alles über unser unglaubliches Gründertrio erzählen.« Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Viele Mythen und Legenden rankten sich um Beya Kiaqix, das winzige Dorf, in dem Ha’ana und Chel geboren worden waren. Der Sage nach war der Ort von einem Adligen und dessen beiden Ehefrauen gegründet worden, die vor der Herrschaft eines tyrannischen Königs geflohen waren. Seitdem hatten mehr als fünfzig Generationen von Chels Familie im Tal des scharlachroten Ara gelebt, im Bezirk Petén im nördlichen Guatemala. Chel und ihre Mutter gehörten zu den wenigen, die von dort weggegangen waren. Als Chel zwei Jahre alt war, befand sich die revolutionäre Bewegung im vom Bürgerkrieg erschütterten Guatemala, dem längsten und blutigsten in der Geschichte Mittelamerikas, auf dem Höhepunkt. Aus Angst um ihre Tochter und um sich selbst war Ha’ana aus Kiaqix geflohen und in die Vereinigten Staaten emigriert. Das war dreiunddreißig Jahre her. Ha’ana hatte Arbeit gefunden und sich selbst Englisch beigebracht. Als ihre Tochter vier Jahre alt war, hatte Ha’ana ihre Arbeitserlaubnis in der Tasche, und es dauerte nicht lange, bis beide die amerikanische Staatsbürgerschaft bekamen. »Na, dann kannst du ihnen ja alles darüber erzählen«, erwiderte Chel trocken. »Du kennst die Sagen von Kiaqix genauso gut wie ich, Chel«, sagte Ha’ana und schob sich eine Gabel voll Lasagne in den Mund. »Du brauchst mich nicht.« Ha’ana hatte es immer schon nach Kräften vermieden, über die Vergangenheit zu reden. Selbst wenn Chel einen Weg gefunden hätte, ihr zu beweisen, dass jedes Wort der überlieferten Geschichte ihres Dorfes stimmte, hätte sich Ha’ana darüber lustig gemacht. Chel hatte schon vor vielen Jahren begriffen, dass das Ha’anas Art war, die traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit zu bewältigen. Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte die uralte Handschrift aus dem Versteck geholt und sie ihrer Mutter in den Schoß gelegt. Nicht einmal Ha’ana hätte sich ihrer Magie entziehen können. »Wann hast du das letzte Mal ein Buch in der Sprache deiner Vorfahren gelesen?«, fragte Chel. »Warum sollte ich das tun, wo ich doch so viel Zeit darauf verwendet habe, Englisch zu lernen?«, entgegnete ihre Mutter. »Außerdem sind in letzter Zeit keine guten Kriminalromane in Qu’iche veröffentlicht worden, soweit ich weiß«, fügte sie spöttisch hinzu. »Mom, du weißt genau, was ich meine. Ich rede nicht von modernen Büchern. Ich rede von uralten Texten. Von Büchern wie dem Popol Vuh.« Ha’ana verdrehte die Augen. »Ich habe neulich in einer Buchhandlung tatsächlich eine Ausgabe des Popol Vuh gesehen. Gleich neben diesem ganzen Unsinn vom Weltuntergang im Dezember 2012. Großmäulige Affen und blumengeschmückte Götter – das ist alles, was man in der Sprache der Maya bekommt.« Chel schüttelte den Kopf. »Vater hat seine Briefe doch auch in Qu’iche geschrieben, Mom.« 1979, zwei Jahre, nachdem Chel auf die Welt gekommen war, war ihr Vater ins Gefängnis geworfen worden. Die Militärs warfen ihm vor, er sei Mitglied der revolutionären Bewegung und habe die Bewohner von Kiaqix gegen die Regierung aufgewiegelt. Alvar Manu gelang es, Briefe aus dem Gefängnis zu schmuggeln, in denen er sein Dorf beschwor, sich niemals zu ergeben. Ha’ana hatte seine Botschaften an ein paar Dutzend Dorfälteste in ganz Petén weitergeleitet und so dafür gesorgt, dass sich die Zahl der Freiwilligen, die sich den Aufständischen anschlossen, innerhalb weniger Wochen verdoppelte. Doch mit den Briefen hatte Chels Vater sein Todesurteil unterschrieben: Als die Wärter dahinterkamen, wurde er ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet. »Warum müssen wir immer wieder davon anfangen?« Ha’ana stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Chel seufzte frustriert. Sie liebte ihre Mutter, und sie würde ihr immer dankbar sein für alles, was sie für sie getan hatte. Aber ganz tief drinnen wurde sie das Gefühl nicht los, dass Ha’ana ihr Volk verraten hatte, als sie geflohen war, und dass sie deshalb auch nicht an die Vergangenheit erinnert werden wollte. Es wäre sinnlos, ihr die Handschrift zu zeigen. Solange Chel die Bedeutung der Zeichen nicht entziffert hatte, würde Ha’ana nur verrottende Baumrinde sehen und sonst gar nichts. Chel erhob sich ebenfalls. »Lass das Geschirr stehen.« »Wieso, das ist doch schnell gespült. Sonst türmt es sich am Ende noch so wie alles hier im Haus.« Chel atmete tief durch. »Ich muss noch mal weg, Mom.« Ha’ana drehte sich um. »Weg? Wohin?« »Ins Museum.« »Jetzt? Um neun Uhr abends? Was für ein Job ist das denn?« »Danke für das Abendessen, Mom, aber ich muss jetzt wirklich los.« »In Kiaqix wäre das eine Beleidigung«, erwiderte Ha’ana. »Wenn eine Frau für einen gekocht hat, schickt man sie danach nicht weg.« Wenn es ihr gelegen kam, führte Ha’ana gern die alten Bräuche an, über die sie sich sonst nur lustig machte. »Na, dann ist es ja gut, dass wir nicht mehr in Kiaqix sind«, versetzte Chel. *** Im Lauf der vergangenen acht Jahre hatte Chel eine hochmoderne Forschungsabteilung für mesoamerikanische Kulturen im einstmals konservativsten Museum Kaliforniens eingerichtet. Wenn sie nach der Arbeit noch ein bisschen Zeit hatte, schlenderte sie gern durch die leeren Säle, vorbei an van Goghs Schwertlilien oder an Pontormos Der Hellebardier. Sie musste jedes Mal schmunzeln, wenn sie sich vorstellte, wie der Großindustrielle, Ölmagnat und Multimilliardär Paul Getty wohl reagiert hätte, wenn er die Tonfiguren von knienden, zu ihren Göttern betenden Mayas und die Darstellungen mesoamerikanischer Gottheiten neben seinen geliebten europäischen Kunstwerken gesehen hätte. Doch an diesem Abend war ihr die Lust zu schmunzeln vergangen. Es war kurz nach zwei Uhr nachts, und sie stand, umgeben von hochauflösenden Kameras, Massenspektrometern und Instrumenten zur Konservierung antiker Gegenstände, neben Dr. Rolando Chacon, ihrem erfahrensten Experten für die Restaurierung von Antiquitäten, im Forschungslabor 214 A. Normalerweise lagen Jadeklumpen, Tonzeug, alte Masken auf den langen aneinandergereihten Holztischen, aber jetzt hatten sie im hinteren Teil des Raumes auf einigen davon Platz gemacht und die Handschrift darauf ausgebreitet. An den Wänden hingen Fotografien von Maya-Ruinen, die sie bei Ausgrabungen gemacht hatte – stille Erinnerungen an die emotionale Achterbahnfahrt, die stets mit der Rückkehr in die Heimat ihrer Familie verbunden war. Chel und Rolando trennten die Blätter der alten Handschrift vorsichtig mithilfe von Spatellöffeln und hoben sie dann mit langen Pinzetten Stück für Stück behutsam aus der Holzkiste, um sie auf Glastische zu legen, die von unten beleuchtet wurden. Manche Fragmente waren nur so groß wie eine Briefmarke, aber auch diese waren aus dem festen Papier, das aus der Rinde von Feigenbäumen hergestellt wurde und das durch Schmutz und Feuchtigkeit noch schwerer geworden war. Die Arbeit dauerte Stunden. Danach begannen sie mit dem Entziffern des Textes. Obwohl sie bisher gerade einmal den obersten Teil der ersten Seite geschafft hatten, hatten der Ruhm und die Herrlichkeit ihrer Vorfahren Chel schon ganz in ihren Bann geschlagen. Die ersten Worte schienen den Regen und die Sterne zu beschwören, ein Gebet, das sie wie durch Zauberei in eine andere Welt versetzte. »Das heißt also, dass wir nachts daran arbeiten müssen?«, fragte Rolando. Er war eine Bohnenstange, über eins achtzig groß und dünn, und er hatte sich seit mindestens einer Woche nicht mehr rasiert, wie man an den dunklen Stoppeln auf Gesicht und Hals erkennen konnte. »Du kannst ja tagsüber schlafen«, versetzte Chel ungerührt. »Tut mir leid für deine Freundin.« »Hoffentlich merkt sie überhaupt, dass ich nicht da bin. Na ja, vielleicht wird das Geheimnisvolle ein bisschen Schwung in unsere Beziehung bringen. Und du? Wann schläfst du?« »Irgendwann. Ich habe niemanden, der bemerken würde, dass ich weg bin.« Rolando legte ein weiteres Fragment behutsam auf der Glasplatte ab. Chel kannte niemanden, der so viel Fingerspitzengefühl im Umgang mit zerbrechlichen Objekten hatte oder einen besseren Instinkt bei der Rekonstruktion antiker Gegenstände. Chel vertraute ihm. Er gehörte länger zu ihrem Team als irgendjemand sonst, und er war immer loyal gewesen. Es war ihr nicht recht, dass sie ihn in Gefahr brachte, aber sie brauchte seine Hilfe. »Wär’s dir denn lieber, wenn ich jemand anderen hinzuziehen würde?«, fragte Chel. »Verdammt, nein!«, antwortete Rolando. »Ich bin doch dein einzig wahrer ladino, und ich lasse nicht zu, dass du diese Bombe ohne mich hochgehen lässt.« Mit ladino wurden in der Umgangssprache die sieben Millionen Nachkommen der Spanier in Guatemala bezeichnet. Chel hatte ihr Leben lang von ihrer Mutter zu hören bekommen, wie die ladinos den vom Militär begangenen Völkermord an den Indios unterstützt hatten und wie sie die indígenas für ihre wirtschaftliche Misere verantwortlich machten. Trotz der immer noch bestehenden Spannungen zwischen den beiden Gruppen hatte die langjährige enge Zusammenarbeit mit Rolando dazu geführt, dass Chel die Dinge ein wenig differenzierter sah. Während der Revolution hatte sich Rolandos Familie für die Indios eingesetzt. Sein Vater war einmal sogar verhaftet worden wegen seines Engagements. Nicht lange danach war er mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten ausgewandert. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Fund aus einer der größeren Ruinen stammt«, murmelte Rolando, während er das Fragment hin und her drehte, bis er das passende Anschlussstück gefunden hatte. Die über sechzig bekannten Maya-Ruinen aus der klassischen Periode in Guatemala, Honduras, Mexiko, Belize und El Salvador waren das ganze Jahr über voller Archäologen, Touristen und Einheimischen. Keine idealen Bedingungen für Plünderer, auch wenn sie noch so gerissen waren. Daher vermutete Chel, dass die Handschrift aus einer bislang unentdeckten Stätte stammte. Jedes Jahr wurden rein zufällig vom Dschungel überwucherte Ruinen entdeckt: von Satelliten, Hubschraubertouristen, Holzfällern. Der Plünderer, wahrscheinlich ein professioneller Schatzsucher, musste die antike Stätte durch einen solchen Zufall gefunden haben und dann mit einem Team wiedergekommen sein. »Glaubst du, der Plünderer könnte auf eine versunkene Stadt gestoßen sein?«, fragte Rolando. Chel zuckte die Achseln. »Jedenfalls werden die Leute das glauben wollen.« Rolando lächelte. »Und überall in Guatemala werden die indígenas sie als ihre eigene beanspruchen.« In vielen Indiodörfern wurden Geschichten überliefert, die von einer sagenhaften versunkenen Stadt erzählten, in der die jeweiligen Vorfahren einst gelebt hatten. Während der Revolution hatte ein Cousin von Chels Vater sogar einmal behauptet, er habe die versunkene Stadt von Kiaqix entdeckt, jene Stadt, aus der die drei ursprünglichen Gründer angeblich geflüchtet waren. Doch die Wirklichkeit war keineswegs so aufregend: Die Maya hatten zu einem großen Teil immer schon in kleinen Dörfern im Dschungel gelebt. Sich auf eine Verbindung zu einer versunkenen Stadt zu berufen war für die Menschen aus Chels Volk in etwa so, wie wenn ein weißer Amerikaner behaupten würde, einer seiner Vorfahren sei auf der Mayflower nach Amerika gekommen: Das konnte man zwar leicht sagen, aber nur schwer beweisen. »Schön, ich frage dich also nicht noch mal, wo du das herhast«, sagte Rolando, während er ein weiteres Fragment anfügte, »aber wenn ich mir die Ikonografie ansehe, würde ich sagen, es ist Ende der klassischen Periode entstanden. So zwischen 800 und 925? Unglaublich.« Chel nickte. »Ich bin gespannt, was die Karbondatierung ergibt.« Rolando legte seine Pinzette weg. »Ich weiß, die Sache muss geheim bleiben, aber … die Syntax ist über weite Strecken verdammt kompliziert. Wir könnten Victor dringend brauchen. Keiner kennt sich damit besser aus als er.« Der Gedanke war Chel auch schon gekommen. Als sie die Handschrift sah, hätte sie Victor Granning am liebsten sofort angerufen, aber sie fürchtete sich vor seiner Reaktion. Sie hatten seit Monaten keinen Kontakt gehabt, und Chel hatte allen Grund, ihm aus dem Weg zu gehen. »Wir schaffen das auch allein«, erwiderte sie. »Wie du meinst.« Rolando drängte sie nicht weiter. Er wusste, dass Granning ein wunder Punkt war. Chel liebte ihren alten Mentor, aber er war ein Starrkopf. Und ein bisschen verrückt. Chel versuchte, den Gedanken an Granning zu verscheuchen, und konzentrierte sich stattdessen auf die Glyphen, die Rolando bisher zusammengestellt hatte: Wie alle Maya-Glyphen handelte es sich entweder um eine Kombination von aneinandergehängten Silben, die zusammen ein Wort ergaben (wie zum Beispiel die Buchstaben im Englischen), oder (ähnlich wie etwa im Chinesischen) um eine Kombination aus Silben und Bildern, die zusammengenommen eine Idee darstellten. Nachdem Chel die Zeichengruppen in einzelne Bausteine untergliedert hatte, entzifferte sie jedes Element mithilfe von Katalogen, die die einhundertfünfzig dekodierten Silben und die über achthundert bekannten Bilder-Glyphen auflisteten. Dann reihte sie sie zu Sätzen aneinander. Einige Wörter wie jäb waren vertraut: Dasselbe Wort wurde im modernen Qu’iche für »Regen« verwendet. Für andere wie zum Beispiel wulij gab es keine wörtliche Übersetzung: »Vernichten« traf es noch am ehesten, auch wenn es keine religiöse Nebenbedeutung hatte wie in der Sprache der Maya. Etwa einhundertfünfzig Glyphen waren bisher identifiziert worden, aber noch nicht entziffert, und Chel entdeckte einige davon gleich auf der ersten Seite der Handschrift. Hinzu kamen weitere, die sie noch nie gesehen hatte. Sie nahm an, dass Dutzende neue Glyphen analysiert werden müssten, wenn der Text erst einmal vollständig rekonstruiert war. Drei Stunden später hatte Chel Krämpfe in den Beinen vom langen Sitzen, und ihre Augen waren so trocken und gereizt, dass sie ihre Kontaktlinsen herausnehmen und die verhasste Brille aufsetzen musste. Aber sie hatten eine grobe Übersetzung der ersten Gruppe von Glyphen: Fallen Regen ist nicht – Nahrung – halbe Sternenphase. Ernte, vernichten Felder von Kanuataba, Erdboden gleich – und Bäume, verjagen Wild, Vögel, Jaguar, Wächter des Landes. Neue Bestimmung –Ackerflächen. Öde und kahl die Hügel, Schwärme Insekten, nähren Blätter Böden nicht. Nicht haben, sicherer Ort, Tiere, Schmetterlinge, Pflanzen, gegeben vom Heiligen Lebensspender, für beseelte Leben. Ohne Fleisch, Tiere, uns kochen. Aber das war natürlich keine vollständige Übersetzung, die den Sinn dessen wiedergab, was der Schreiber auszudrücken versuchte. Ein Kodex war immer aus der Sicht eines allwissenden Erzählers geschrieben und im Ton oft sehr nüchtern gehalten. Chel begann nun, anhand des Kontexts und aufgrund von typischen Wortpaarungen, wie sie sie aus den anderen Handschriften kannte, die fehlenden Wörter zu ergänzen, bis der Text einen einigermaßen annehmbaren Sinn ergab: Kein Regen ist gefallen, der Nahrung gegeben hätte, in einer halben Phase des großen Sterns. Die Felder von Kanuataba sind abgeerntet und vernichtet, Bäume und Pflanzen dem Erdboden gleichgemacht worden, und das Wild und die Vögel und die Jaguar-Wächter des Landes sind verjagt worden. Ackerflächen können nicht neu bestellt werden. Die Hügel sind öde und kahl, Insekten schwärmen, und keine fallenden Blätter nähren den Boden. Die Tiere und Schmetterlinge und Pflanzen, die der Heilige Lebensspender gegeben hat, haben keinen Ort mehr, an dem sie weiterleben könnten. Die Tiere haben kein Fleisch mehr, das Essen liefern könnte. »Da wird eine Dürre beschrieben«, staunte Rolando. »Wem wäre erlaubt worden, so etwas zu schreiben?« Chel fragte sich genau das Gleiche. Die Aufzeichnungen der Maya waren im Allgemeinen »Presseverlautbarungen« für den jeweiligen Herrscher. Ein königlicher Schreiber – halb Pressesekretär, halb religiöser Führer – hätte es niemals gewagt, etwas zu berichten, was seinen Herrscher in ein schlechtes Licht gerückt hätte. Chel hatte noch keinen Text gesehen, der von den Sorgen und Nöten des Alltags handelte. Man hatte zwar in Ruinen gemeißelte Voraussagen für Regen und ähnliche Weissagungen im Madrider und im Dresdner Kodex gefunden, aber man hatte noch nie ein Schriftstück entdeckt, in dem eine Dürrekatastrophe geschildert wurde. Es war die Aufgabe des Königs, für Regen zu sorgen, und eine solche Diskussion hätte jeden König, der den lebensnotwendigen Regen nicht liefern konnte, in größte Verlegenheit gebracht. »Nur ein offizieller Schreiber kann so viel Kunstfertigkeit besessen haben.« Rolando deutete auf eine perfekt ausgeführte Darstellung des Maisgottes. Chel studierte den Text abermals. Wer auch immer der Verfasser gewesen sein mochte – wenn er erwischt worden wäre, hätte ihm wahrscheinlich die Todesstrafe gedroht. Kein Regen ist gefallen, der Nahrung gegeben hätte, in einer halben Phase des großen Sterns. Der »große Stern« war die Venus, und eine »halbe Phase« umfasste beinah fünfzehn Monate. Der Text beschrieb die längste Dürreperiode in der bisher bekannten Geschichte der Maya. »Was ist?«, fragte Rolando, der ihre nachdenkliche Miene bemerkt hatte. »Es geht nicht nur um eine außergewöhnliche Trockenheit. Er erzählt auch von leeren Maisspeichern. Von Tieren, die gefährdet sind, und davon, dass die Anbauflächen immer knapper werden. Keinem wäre erlaubt worden, so etwas aufzuzeichnen. Er schildert praktisch das Ende seiner Kultur.« Ein Lächeln zuckte um Rolandos Mundwinkel. »Du glaubst …« Chel nickte. »Er schildert den Zusammenbruch.« Die Frage, die Chel im Lauf der Jahre mehr beschäftigt hatte als jede andere Frage, war die nach den Gründen für den Untergang der Kultur ihrer Vorfahren gegen Ende des ersten Jahrtausends. Siebenhundert Jahre lang hatten die Maya Städte gebaut und auf den Gebieten Kunst, Architektur, Landwirtschaft, Mathematik, Astronomie und Handel zu den fortschrittlichsten Völkern ihrer Zeit gehört. Doch dann, sechshundert Jahre vor der Ankunft der spanischen Eroberer, hörten die Stadtstaaten auf, sich auszudehnen, die Bautätigkeit kam zum Erliegen, die Schreiber in den Tiefebenen des heutigen Guatemala und Honduras machten keine Aufzeichnungen mehr. Binnen eines halben Jahrhunderts nur wurden die Städte aufgegeben, die Institution des Königtums verschwand, und die klassische Periode der Maya-Kultur ging zu Ende. Es gab zahlreiche Spekulationen über die Gründe für diesen Zusammenbruch. Einige von Chels Kollegen sahen die Ursache in einer extremen wirtschaftlichen Nutzung, im rücksichtslosen Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen wie Ackerland und Waldflächen. Andere vertraten die Auffassung, dass die Maya durch ihren Hang zu gewaltsamen Eroberungen, durch übertriebene Religiosität, durch blutrünstige Opferrituale ihren Untergang selbst herbeigeführt hatten. Chel stand diesen Mutmaßungen skeptisch gegenüber, weil sie ihrer Meinung nach geprägt waren von der westlichen Arroganz den Eingeborenen gegenüber. Erst seit die Spanier nach Mittelamerika gekommen waren, haftete den Maya der Ruf an, sie hätten rituelle Menschenopfer gebracht, und der Untergang ihrer Kultur war jahrhundertelang als Beweis dafür angeführt worden, dass die spanischen Eroberer sehr viel weiter entwickelt waren als die Wilden, die sie unterworfen hatten, und dass die Maya nicht imstande waren, sich selbst zu regieren. Chel hingegen sah die Ursachen für den Zusammenbruch des Maya-Reiches in natürlichen Dürreperioden, die Jahrzehnte andauerten und eine Landwirtschaft in größerem Umfang unmöglich machten. Man hatte die Flussbetten in dem einst von den Maya besiedelten Gebiet untersucht und festgestellt, dass das Ende der klassischen Ära mit einer der trockensten Perioden in siebentausend Jahren zusammenfiel. In solchen Dürrezeiten passten sich die Maya an, indem sie die Städte verließen und sich in kleinen Dörfern wie Kiaqix ansiedelten, wo sie dem kargen Boden gerade so viel abtrotzten, dass sie ihre Familien ernähren konnten. »Wenn wir beweisen könnten, dass das tatsächlich die Schilderung des Weltuntergangs ist, dann wäre das ein Meilenstein in der Geschichte«, sagte Rolando aufgeregt. Chel nickte zerstreut. Sie versuchte sich vorzustellen, was sie noch auf diesen Blättern finden würden. Inwieweit die Handschrift Fragen beantworten würde, auf die sie bisher keine Antwort gefunden hatten. Sie malte sich schon aus, wie sie der Welt eines Tages diesen Kodex präsentieren würde. »Wenn wir beweisen könnten, dass der Untergang eine Folge von Dürreperioden gigantischen Ausmaßes war, könnten wir auch diesen Generälen endlich das Maul stopfen«, fügte Rolando hinzu. Der Gedanke jagte einen Adrenalinstoß durch Chels Adern. Seit drei Jahren gab es wieder Spannungen zwischen ladinos und indígenas. Bürgerrechtler waren ermordet worden, und dieselben, die für den Tod von Chels Vater verantwortlich waren, hatten weitere Verbrechen begangen. Sogar auf der politischen Bühne war der Untergang der Maya als Argument gegen die Indios angeführt worden: Die Maya seien Wilde, die schon einmal ihre Umwelt zerstört hätten und die das wieder tun würden, wenn man ihnen ihr kostbares Land überließe. Konnte diese Handschrift ein für alle Mal beweisen, dass dem nicht so war? In Chels Büro im rückwärtigen Teil des Labors klingelte das Telefon. Sie schaute auf die Uhr. Kurz nach acht Uhr morgens. Höchste Zeit, den Kodex zusammenzupacken und in der Stahlkammer einzuschließen. Bald würden die ersten Angestellten kommen, und sie konnten nicht riskieren, dass irgendjemand Fragen stellte. »Ich geh schon«, sagte Rolando. »Ich bin nicht da«, rief Chel ihm nach. »Du hast keine Ahnung, wann ich wieder da bin.« Als Rolando eine Minute später zurückkam, lag ein seltsamer Ausdruck auf seinem Gesicht. »Das war ein Dolmetscherdienst von einem Krankenhaus.« »Und?« »Die haben dort einen Patienten, der vor drei Tagen eingeliefert wurde, und kein Mensch kann ihn verstehen. Jetzt haben sie irgendwie rausgekriegt, dass er Qu’iche spricht.« »Sag ihnen, sie sollen später in der Kirche anrufen«, erwiderte Chel. »Dort findet sich bestimmt jemand, der dolmetschen kann.« »Das wollte ich ja. Aber dann meinten sie noch, der Patient wiederholt immer wieder ein Wort, wie eine Art Mantra.« »Was für ein Wort?« »Wuj.« 12.19.19.17.10 – 12. DEZEMBER 2012 5 Die Gentests wurden im Zentrum für Prionenforschung noch einmal durchgeführt. John Does Hirnstromkurve, seine Laborwerte und die Aufnahmen der Kernspintomografie wurden von den Experten im Seuchenzentrum in Atlanta genauestens unter die Lupe genommen. Nach zahllosen Konferenzschaltungen und Debatten, die die ganze Nacht dauerten, waren alle Ärzte der gleichen Meinung wie Stanton: Der Patient litt an einer neuen Variante der Prionenkrankheit und musste sich durch verseuchtes Fleisch infiziert haben. Draußen war es gerade hell geworden, als Stanton und sein Stellvertreter Alan Davies die Ergebnisse noch einmal zusammenfassten. Die beiden Männer hatten sich in Stantons Büro im Zentrum für Prionenforschung zurückgezogen. Davies, ein hervorragender Arzt, stammte aus England und hatte jenseits des Atlantik jahrelang über den Rinderwahnsinn geforscht. »Ich habe gerade mit dem Landwirtschaftsministerium telefoniert«, sagte Davies. Das USDA war nicht nur zuständig für die Landwirtschaft, sondern auch für Ernährung und Lebensmittelkontrolle. »Keine positiven Prionentests bei den großen Fleischverpackungsfirmen. Nichts Verdächtiges bei den Rindermastbetrieben oder bei den Futtermittelherstellern.« Davies trug einen dreiteiligen Nadelstreifenanzug und hatte das Jackett ausgezogen. Seine langen braunen Haare waren so perfekt frisiert, dass man hätte glauben können, er trüge ein Toupet. Er war die einzige »Laborratte«, die Stanton kannte, die einen Anzug trug. Das war Davies’ Art, den Amerikanern zu zeigen, wie viel kultivierter ihre britischen Verwandten waren. »Ich will mir die Tests selbst ansehen«, sagte Stanton müde und rieb sich die Augen. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten vor Erschöpfung. »Das sind ja nur die großen Betriebe«, meinte Davies. »Die Leute können nicht jede kleine Farm überprüfen, auch wenn sie ein ganzes Jahr Zeit hätten. Ganz zu schweigen von den Schaffarmen und den Schweinemastbetrieben. Irgendwo da draußen verarbeitet irgend so ein leichtsinniger Idiot immer noch das Hirn oder weiß der Teufel was von Schlachttieren und liefert es Gott weiß wohin.« Das Entscheidende bei jeder lebensmittelbedingten Erkrankung war, den Infektionsherd ausfindig zu machen. Gemüse, das mit Escherichia coli verseucht war, musste zurückverfolgt werden bis zu den Gemüsebauern, die es angebaut hatten, damit die Betriebe geschlossen und die Ware aus dem Handel genommen werden konnte. Mit Salmonellen belastete Eier mussten bis in den Hühnerstall zurückverfolgt werden, von dem sie stammten, damit die Verbraucher vor dem Verzehr der bereits in den Handel gelangten Eier gewarnt werden konnten. Das rasche Aufspüren des Infektionsherds konnte darüber entscheiden, ob es ein Opfer gab oder Tausende. Doch Stanton und sein Team wussten nicht einmal, auf welche tierische Quelle sie sich konzentrieren sollten. Da die Prionen von Rindern nachweislich auf andere Spezies übertragen werden konnten, waren sie die Hauptverdächtigen. Aber die Prionen von Schweinen waren denen von Rindern auffallend ähnlich. Und eine Prionenkrankheit namens Scrapie hatte in Europa mehrere Hunderttausend Schafe getötet. Stanton hatte schon lange die Befürchtung, dass eines Tages mutierte Prionen auch von Schafen auf den Menschen übertragen werden könnten. Die eigentliche Arbeit begann jedoch, sobald sie herausgefunden hatten, was genau John Doe krank gemacht hatte. Durch die unnatürliche Art und Weise, wie Fleisch verarbeitet und verpackt wurde, konnte das Fleisch eines einzigen Tieres in unzähligen Produkten auftauchen und über die ganze Welt verteilt werden. Stanton hatte Fleisch von ein und derselben Kuh in Hackfleisch in Columbus, Ohio, gefunden und in Hamburgern in Düsseldorf. »Unsere Leute sollen alle Krankenhäuser in der Stadt überprüfen«, sagte er. Eine Prionenerkrankung war schwer zu diagnostizieren, und Stanton war sich ziemlich sicher, dass John Doe nicht der einzige Fall bleiben würde. »Sie sollen auf ungewöhnliche Fälle von Insomnie achten. Oder auf Patienten mit anderen ungewöhnlichen Symptomen. Und frag bei den Notfallpsychologen nach, ob jemand mit auffälligem Verhalten oder mit Wahnvorstellungen zu ihnen gekommen ist.« Davies lächelte verzagt. »Das wär dann wohl jeder Einwohner von L.A.« Sich über die Südkalifornier lustig zu machen war sein zweitliebster Zeitvertreib nach der sorgfältigen Auswahl seiner Kleidung. »Sonst noch was?«, fragte Stanton. »Cavanagh hat angerufen.« Da das Zentrum für Prionenforschung dem Seuchenzentrum angegliedert war, war Emily Cavanagh, die Stellvertretende Direktorin, Stantons Vorgesetzte. Sie war bekannt für ihre geradezu übernatürliche Ruhe, nahm andererseits aber auch nichts auf die leichte Schulter. Sie wusste um die potenziellen Gefahren einer Prionenerkrankung. Stanton hatte sich mit zahllosen Leuten in Atlanta überworfen, weil ihm Forschungsgelder verweigert oder weil seine Therapieansätze nicht akzeptiert worden waren. Cavanagh war eine seiner wenigen Verbündeten geblieben. »Wie wollen wir das Ding eigentlich nennen?«, fragte Davies. »Vorläufig einmal VFI«, antwortete Stanton. »Variante der familiären Insomnie. Aber sobald du herausgefunden hast, woher der Erreger stammt, werden wir sie Davies’ Krankheit nennen. Versprochen.« *** Stanton hörte seine Mailbox ab. Nach einem Dutzend neuen Nachrichten, die alle mit seinen Nachforschungen zu tun hatten, hörte er endlich Ninas Stimme. »Ich hab deine Nachrichten bekommen«, sagte sie. »Ich nehme an, du willst mich mal wieder dazu bringen, dass ich Veganerin werde. Keine Bange. Das meiste von dem Fleisch im Kühlschrank war eh schon hinüber und ist in den Müll gewandert. Ich schätze, dein vierbeiniger Freund und ich werden uns hier draußen eine Weile von Fisch ernähren. Ruf an, wenn du kannst. Und pass auf dich auf.« Stanton streifte seine Leute, die an ihren Laborplätzen saßen, mit einem flüchtigen Blick. Das Seuchenzentrum in Atlanta hatte strikte Anweisung erteilt, den Fall vorerst geheim zu halten. Sobald auch nur der leiseste Verdacht aufkam, dass durch den Verzehr von Fleisch BSE übertragen werden könnte, entstand in der Öffentlichkeit Panik, der Markt für Rindfleisch brach ein, und es gab wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe. Stanton hatte Nina daher nichts von John Doe erzählt, sondern nur angedeutet, dass es eine sehr gute Idee wäre, seine zahllosen Warnungen vor dem Verzehr von Fleisch zu beherzigen. »Dr. Stanton, ich hab was für Sie.« Eine seiner Assistentinnen winkte ihn zu sich. Stanton schaltete sein Telefon aus und eilte zu der Sicherheitswerkbank auf der anderen Seite des Labors. Neben Jiao Chen saß Michaela Thane. Stanton hatte sie gebeten, nach ihrer Schicht im Krankenhaus ins Labor zu kommen, damit sie die weitere Entwicklung aus nächster Nähe verfolgen konnte. Falls sich ihr Verdacht bestätigte und sie es tatsächlich mit einem durch den Verzehr von verseuchtem Fleisch übertragenen neuen Erreger vom Typ FFI zu tun haben sollten, wollte Stanton dafür sorgen, dass Thane die Anerkennung bekam, die ihr gebührte. »Die Form ist identisch mit der von FFI«, sagte Jiao und machte ihren Platz für ihn frei. »Aber Sie werden es nicht glauben, wie der Verlauf ist. Sie bewegen sich viel schneller.« Stanton blickte durch das Okular des leistungsstarken Elektronenmikroskops. Normale Prionen-Proteine waren spiralförmig angeordnet wie DNA-Bausteine, aber hier hatten sich die Helices aufgedröselt und neu zusammengefaltet, sodass sie aussahen wie der Balg eines Akkordeons. »Wie alt ist die Probe?«, fragte Stanton. »Gerade mal zwei Stunden«, antwortete Jiao. Bei den Prionen, die Stanton bis jetzt kannte, dauerte es Wochen oder sogar Monate, bis sie andere Eiweißmoleküle in pathogene Formen umgewandelt hatten. Bei den von ihm untersuchten Fällen von Rinderwahnsinn hatte er nicht selten drei oder vier Jahre zurückgehen müssen, bis er den Ursprung – das verseuchte Fleisch – gefunden hatte. Doch diese Proteine hier veränderten sich schneller als alles, was er je gesehen hatte. Mit der Geschwindigkeit eines Virus. »Bei dem Tempo wird es höchstens ein paar Tage dauern, bis der Thalamus vollständig ausgeschaltet ist«, sagte Jiao. »Und noch mal ein paar Tage später wird der Hirntod eintreten.« »Er kann sich also erst vor Kurzem infiziert haben«, sagte Stanton nachdenklich. Jiao nickte. »Sonst wäre er schon längst tot.« Stanton blickte zu Davies auf. »Wir müssen die Antikörper einsetzen.« »Gabe …« »Welche Antikörper?«, fragte Thane. Es handle sich dabei um einen völlig neuen Therapieansatz, erklärte Stanton. Das menschliche Immunsystem konnte keine Antikörper gegen fremde Prionen bilden, weil es diese mit den normalen Prionen-Proteinen verwechselte, die im Hirngewebe vorkamen. Das Team des Zentrums für Prionenforschung hatte nun im Laborversuch bei Mäusen die normalen Prionen quasi ausgeschaltet (mit dem Nebeneffekt, dass die Tiere keine Angst mehr vor Schlangen zeigten) und ihnen anschließend pathogene Prionen injiziert. Die Mäuse produzierten daraufhin Antikörper gegen die fremden Prionen, die aus dem Blutserum extrahiert und theoretisch zu Therapiezwecken verwendet werden konnten. Stanton und sein Team hatten die Methode zwar noch nicht am Menschen getestet, aber in einer Petrischale hatte sie sich als äußerst vielversprechend erwiesen. »Glaub mir, ich würde diesen Bürohengsten von der FDA nur zu gern sagen, sie können uns mal«, meinte Davies. »Aber du brauchst nicht noch einen Prozess, Gabe.« »Was für ein Prozess?«, fragte Thane. »Das tut nichts zur Sache«, antwortete Stanton. »Da bin ich anderer Meinung«, widersprach Davies. An Thane gewandt fuhr er fort: »Er hat einen an einer genetisch bedingten Prionenkrankheit Leidenden mit einem nicht zugelassenen Medikament behandelt.« »Die Familie hat gesagt, er sollte alles versuchen, auch die Antikörpertherapie«, warf Jiao ein. »Aber nachdem er ihm das Präparat injiziert hatte und der Patient es nicht schaffte, haben sie ihre Meinung geändert und ihn verklagt.« Thane schüttelte den Kopf. »Solche Leute muss man einfach gern haben«, knurrte sie. Ein weiterer von Stantons Assistenten trat zu ihnen. Dass Christian sogar die Kopfhörer abgenommen hatte, durch die er sich normalerweise zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten von hartem Rap beschallen ließ, war der beste Hinweis auf die erhöhte Anspannung im Labor. »Die Polizei hat gerade angerufen«, sagte er. »Sie haben das Motelzimmer durchsucht, in dem man unseren John Doe gefunden hat, und die Quittung eines mexikanischen Restaurants gefunden. Das liegt gleich neben dem Hotel.« »Woher beziehen die ihr Fleisch?«, fragte Stanton. »Von einem Großbetrieb im San Joaquin Valley. Die produzieren ungefähr eine Million Pfund Rindfleisch im Jahr. Bis jetzt haben sie nie gegen die Bestimmungen verstoßen, aber sie schlachten nicht nur, sondern haben auch ihre eigene Tierkörperverwertung.« Stanton warf seinem Partner einen vielsagenden Blick zu. »Möglich wär’s«, meinte Davies. Thane schaute von einem zum anderen. »Ich verstehe nicht ganz.« »Wissen Sie, was in der Zahnpasta ist, die Sie benutzen?«, sagte Davies, der nur zu gern über die hässlichen Seiten der Fleischproduktion sprach. »Oder in dem Mundwasser, mit dem Sie gurgeln? Ach ja, nicht zu vergessen die Spielsachen für Kleinkinder. Da sind überall Abfallprodukte von geschlachteten Tieren drin.« »So kam es wahrscheinlich zum Ausbruch des Rinderwahnsinns«, fügte Stanton hinzu. »Rinder wurden mit dem infizierten Hirn anderer Rinder gefüttert.« »Zwangskannibalismus«, murmelte Thane. Stanton wandte sich wieder seinem Assistenten zu. »Wie heißt der Betrieb?« »Havermore Farms«, antwortete Christian. Stanton setzte sich kerzengerade auf. »Diese mexikanische Kneipe wird von Havermore beliefert?« »Warum? Sagt Ihnen der Name etwas?«, fragte Thane. Stanton griff nach seinem Telefon. »Die liefern das ganze Fleisch für den gesamten Schulbezirk von Los Angeles.« *** Havermore Farms schmiegte sich in das Tal der San Emigdio Mountains, von wo seine Ausdünstungen nicht in die Nähe der Wohngebiete geweht werden konnten. Im morgendlichen Berufsverkehr dauerte die Fahrt dorthin eine Stunde. Falls es Stanton und Davies nicht innerhalb der nächsten zwei Stunden gelang, den Nachweis dafür zu erbringen, dass das mutierte Prion von dort stammte, konnten sie nicht verhindern, dass an den öffentlichen Schulen von L.A. zum Mittagessen Fleisch an eine Million Schüler ausgegeben wurde. Die beiden Ärzte rasten vorbei an den Pferchen, in denen Tausende Rinder gehalten wurden. Das waren die Schlachttiere, die Stanton am meisten Sorgen machten. Sie wurden mit Mais gemästet, und wahrscheinlich wurden Proteinkuchen, die von der anderen Seite des Betriebs stammten, unter das Futter gemischt – eine mögliche Quelle für die neue Variante des Prions. Sie gingen direkt zur Verwertungsanlage, wo die Proteinkuchen hergestellt wurden, der wahrscheinlichste Ort für eine Verseuchung. Stanton und Davies folgten Mastras, dem Vorarbeiter, vorbei an Fließbändern, auf denen Köpfe, Hufe und Füße von Schweinen, Rindern, Pferden befördert wurden sowie Katzen und Hunde, die eingeschläfert worden waren. Männer, die bunte Halstücher und Schutzbrillen und Halbmasken trugen und sich auf Spanisch laute Befehle zubrüllten, schoben mit ihren Bulldozern gehäutete, fleischlose Gerippe in eine große Grube, wo sich Rinderknochen mit Schweinekiefern, Borsten und Gliedmaßen vermischten. Wenn Stanton und Davies sich, als sie angekommen waren, nicht Wick Vaporub unter die Nase geschmiert hätten, wäre der Gestank nicht auszuhalten gewesen. »Wir haben den Kontrolleuren nie etwas verheimlicht«, beteuerte Mastras. »Sie gucken sich hier um, und sie kriegen alles von uns, was sie haben wollen, sämtliche Unterlagen. Wir waren immer sauber.« »Sie meinen, der winzige Bruchteil von Proben, die kontrolliert worden sind, ist sauber gewesen«, entgegnete Davies. »Ihr wisst ganz genau, dass wir am Arsch sind, wenn sich herumspricht, dass ihr Jungs bei uns herumschnüffelt«, brüllte Mastras über den Lärm der Bulldozer hinweg. Er hatte rote Haare und eine kränklich blasse Haut, und er war Stanton sofort unsympathisch gewesen. »Irgendwas bleibt immer hängen, auch wenn sich hinterher herausstellt, dass der Verdacht unbegründet war.« »Die Öffentlichkeit wird nichts erfahren, bis wir den Seuchenherd gefunden haben«, versicherte Davies. »Das Seuchenzentrum hält die Angelegenheit unter Verschluss.« Stanton versuchte anhand der Überreste zu schätzen, wie viele Tierkadaver sich in der Grube befanden. »Das ist viel mehr, als hier geschlachtet wird«, sagte er dann. »Nehmen Sie auch Schlachtabfälle von anderen Farmen an?« »Ja, manchmal«, antwortete Mastras. »Aber wir nehmen kein abgepacktes Fleisch aus den Supermärkten, und diese Flohhalsbänder mit Insektiziden dran werden auch nicht mit vermahlen. Im Tierheim werden die Halsbänder abgenommen, bevor sie die Kadaver anliefern. Sonst nehmen wir sie nicht. Die Bosse legen Wert darauf, dass die Richtlinien eingehalten werden.« »Oder, wie wir es nennen, das Gesetz«, sagte Davies trocken. Sie blieben vor einer Reihe von Fließbändern stehen, auf denen die gehäuteten Kadaver verschiedener Tiere von den Lastwagen hereinkamen, die sie angeliefert hatten. Alle Fließbänder waren überzogen mit einer breiigen Masse aus Organen, blutigen Häuten, Knochen, zerschmetterten Gebissen. Davies wandte sich zu dem Band hin, auf dem die Überreste von Schweinen hereinbefördert wurden, während sich Stanton auf die Rinder konzentrierte. Mit einer Zange und mit einem Schablonenmesser säbelte Davies Proben von verschiedenen Stücken ab und gab sie in einen Probenbehälter für das antikörperbasierte Nachweisverfahren ELISA. Er hatte diese Methode vor etlichen Jahren als Test zur Bestimmung von BSE entwickelt. Stanton hatte eine Plastikschale mit zwanzig Vertiefungen vor sich, von der jede mit einer klaren eiweißhaltigen Flüssigkeit gefüllt war. Er gab kleine Fleischstückchen in jede Vertiefung. Wenn sie mutierte Prionen enthielten, würde sich die Lösung dunkelgrün färben. Zehn Minuten später hatten sie etwa ein Dutzend Proben genommen und untersucht. Keine einzige Lösung hatte reagiert. Stanton wiederholte den Vorgang, doch das Ergebnis blieb das gleiche. »Keine Reaktion«, meinte Davies achselzuckend. »Vielleicht spricht der Erreger auf ELISA nicht an.« Stanton wandte sich an Mastras. »Wo sind Ihre Lastwagen?« Mastras führte sie zu den Verladerampen, wo sie jeden Quadratzentimeter der Fahrzeuge untersuchten, in denen die Tierkadaver aus den Schlachthöfen hertransportiert wurden. Stanton und Davies tupften mit Wattestäbchen die blutverschmierten Wände und den Boden von zweiundzwanzig Lkw ab. Jede Probe war negativ. Keine der ELISA-Lösungen hatte sich verfärbt. Jetzt lächelte Mastras. Er sprang von der Ladefläche des letzten Lastwagens, griff zum Telefon und gab seinem Vorgesetzten Bescheid, dass unverzüglich mit der Auslieferung des Fleisches an die Schulkantinen begonnen werden konnte. Eine Million Kinder und Jugendliche würden an diesem Tag Fleisch von Havermore auf dem Teller haben, und Stanton konnte nichts dagegen tun. »Ich hab’s Ihnen doch gesagt«, triumphierte Mastras. »Wir sind sauber.« Stanton hoffte inständig, dass sie nichts übersehen hatten, und machte sich Vorwürfe, weil er allen Ernstes geglaubt hatte, sie würden den Fall im Handumdrehen aufklären. Die Verarbeitung von Schlachtabfällen war nur eine von vielen gefährlichen Arten, wie der Mensch das Fleisch, das er aß, manipulierte. Sie würden ihre Suche nach dem Infektionsherd ausweiten müssen. Mit jeder Stunde konnten sich weitere Menschen infizieren. Als Stanton aus dem Lastwagen kletterte, sah er, dass Mastras von der Laderampe gesprungen war und ein Stück die Straße hinunterging. Er starrte auf irgendetwas in der Ferne. Stanton folgte ihm. Dann sah er es auch. In Staubwolken gehüllte Vans, auf deren Dach Antennen in alle Richtungen zeigten, näherten sich mit hoher Geschwindigkeit. Mastras drehte sich zu Stanton um und knurrte: »Dreckskerl.« Fernsehteams rasten auf sie zu. 6 Die Reportermeute vor dem Presbyterian Hospital machte Chel noch nervöser, als sie ohnehin schon war. Die Ärztin, mit der sie telefoniert hatte, hatte gesagt, der Fall müsse absolut vertraulich behandelt werden. Chel war das nur recht. Ihre Beweggründe hier waren kompliziert, und je weniger Aufmerksamkeit sie auf sich zog, desto besser. Aber irgendetwas musste passiert sein, irgendetwas Schlagzeilenträchtiges: Der Parkplatz des Krankenhauses wimmelte regelrecht von Fernsehteams und Kameras und Reportern. Chel blieb einen Augenblick im Auto sitzen und überlegte, wie groß die Chance war, dass die Anwesenheit der Medien etwas mit dem Grund ihres Besuchs hier zu tun haben könnte. Wenn sie hineinging und es stellte sich heraus, dass es eine Verbindung gab zwischen dem Patienten und dem Maya-Kodex, kam sie womöglich in ernste Schwierigkeiten. Wenn sie aber nicht hineinging, würde sie vielleicht nie erfahren, warum ein kranker Indio das Maya-Wort für »Buch« oder »Kodex« ständig wiederholte – und das einen Tag, nachdem Gutierrez aufgetaucht und ihr das möglicherweise bedeutendste Dokument in der Geschichte ihres Volkes anvertraut hatte. Chels Neugier siegte über ihre Angst. Zehn Minuten später stand sie neben Dr. Thane am Bett des Patienten im sechsten Stock des Krankenhauses. Zutiefst bestürzt betrachtete sie den Mann, der sich schwitzend und offenbar unter Schmerzen hin und her wälzte. Chel wusste nicht, wie er hierhergekommen war, aber weit weg von zu Hause an einem fremden Ort zu sterben war das denkbar schlimmste Schicksal. »Wir müssen herausfinden, wie er heißt, wie er hierhergekommen ist, wie lange er schon in den Staaten ist und wann er krank geworden ist«, sagte Thane. »Alles, was Sie in Erfahrung bringen können. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.« Chel nickte und sah wieder John Doe an. »Chaqi’j, i’j-chi …«, murmelte er auf Qu’iche. »Er möchte Wasser«, sagte Chel zu Thane. »Können Sie ihm welches holen?« Thane zeigte auf den Tropf des Patienten. »Er ist garantiert nicht so ausgetrocknet wie ich im Moment.« »Er sagt, er hat Durst.« Die Ärztin nahm den Krug vom Nachttisch neben John Does Bett, füllte ihn am Waschbecken mit Wasser und schenkte ihm dann einen Becher voll ein. Der Mann griff mit beiden Händen danach und trank ihn hastig aus. »Ist es gefährlich, wenn man näher rangeht?«, fragte Chel. Thane schüttelte den Kopf. »Die Krankheit wird durch verseuchtes Fleisch übertragen. Mit dem Mundschutz soll verhindert werden, dass wir ihn mit irgendetwas infizieren. Sein Immunsystem ist stark geschwächt.« Chel zog ihren Mundschutz zurecht und trat näher an das Bett. Sie betrachtete den Mann aufmerksam. Es war unwahrscheinlich, dass er ein Händler war: Die Maya, die an den größeren Straßen von Guatemala den vorbeikommenden Touristen ihre Waren anboten, schnappten ein paar Brocken Spanisch auf. Er hatte weder Tätowierungen noch Piercings, er war also auch kein Schamane oder Priester. Aber seine Handflächen waren schwielig, am Ansatz der Finger hatte sich eine harte Hornhaut gebildet, und die Haut war vom Knöchel bis zum Daumenballen aufgesprungen und rissig. So sah eine Hand aus, die mit der Machete arbeitete, jenem Werkzeug, das die Indios zum Roden des Urwalds benutzten – und mit dem sich Plünderer auf der Suche nach antiken Ruinen einen Weg durchs Dickicht bahnten. Konnte es sein, dass das der Mann war, der die Handschrift entdeckt hatte? »Okay, fangen wir mit seinem Namen an«, sagte Thane. »Wie ist der Name deiner Familie, Bruder?«, fragte Chel ihn. »Ich bin eine Manu. Mein Taufname ist Chel. Wie nennt man dich?« »Rapapem Volcy«, flüsterte er mit rauer Stimme. Rapapem bedeutete »Flug«. Volcy war ein gängiger Familienname. Seiner Aussprache nach dürfte der Mann aus dem südlichen Petén stammen, vermutete Chel. »Meine Familie kommt aus Petén. Und deine?« Volcy schwieg. Chel stellte die Frage anders, doch sie bekam keine Antwort mehr. »Wann ist er in die Vereinigten Staaten gekommen?«, fragte Thane. Chel übersetzte. »Er sagt, vor sechs Sonnen.« Thane machte ein überraschtes Gesicht. »Erst vor sechs Tagen?« Chel wandte sich wieder zu Volcy hin. »Bist du über Mexiko hierhergekommen?« Der Mann wand sich im Bett und antwortete nicht. Er schloss die Augen und stöhnte wieder: »Wuuh …« »Und was hat es damit auf sich?«, fragte Thane. »Wuuh oder wuudsch, oder? Was bedeutet das? Ich habe alle möglichen Schreibweisen nachgeschaut, aber nichts gefunden.« »Es heißt W-u-j, das Qu’iche-Wort für das Popol Vuh, das heilige Buch, das den Schöpfungsmythos unseres Volkes erzählt.« Diese Version hatte sich Chel gerade einfallen lassen. »Er weiß, dass er schwer krank ist, das Buch gibt ihm wahrscheinlich Trost.« »Sollen wir ihm eine Kopie besorgen?« »Nicht nötig.« Chel zog ein abgegriffenes Exemplar des heiligen Buches aus ihrer Tasche und legte es auf den Nachttisch. »Für ihn ist dieses Buch ungefähr das Gleiche wie für einen Christen die Bibel.« Ein Indio würde niemals nur Wuh sagen, wenn er das Popol Vuh meint. Wuh bedeutete in der Sprache der Maya »altes Buch«. Doch hier würde niemand ihre Behauptung infrage stellen. »Mal sehen, ob er uns sagen kann, wann er krank wurde«, sagte Thane. »Fragen Sie ihn, ob er sich erinnern kann, wann er das erste Mal Probleme mit dem Schlafen hatte.« Chel übersetzte in Qu’iche. Volcy öffnete die Augen ein wenig und murmelte: »Im Dschungel.« Chel sah ihn verdutzt an. »Du bist schon im Dschungel krank geworden?« Er nickte. »Du warst also schon krank, als du hierhergekommen bist, Volcy?«, fragte Chel, um ganz sicherzugehen. »Ich habe drei Sonnen, bevor ich hierherkam, nicht geschlafen.« »Er ist schon in Guatemala krank gewesen?«, fragte Thane. »Sie sind absolut sicher, dass er das gesagt hat?« Chel nickte. »Warum? Was heißt das?« »Das heißt, dass ich dringend ein paar Anrufe erledigen muss.« *** Chel legte Volcy die Hand auf die Halsbeuge und massierte die Stelle mit sanften Bewegungen. Ihre Mutter hatte das oft bei ihr gemacht, als sie noch klein war, um zu beruhigen, wenn sie schlecht geträumt hatte oder wenn sie hingefallen war und sich wehgetan hatte. Und ihre Großmutter hatte das Gleiche bei ihrer Mutter getan. Es dauerte nicht lange, bis Chel spürte, wie die verkrampften Muskeln des Kranken sich lockerten. Sie wusste nicht, wie lange die Ärztin weg sein würde. Daher beschloss sie, die Gelegenheit zu nutzen. »Sag mir, Bruder«, flüsterte sie, »warum bist du von Petén hierhergekommen?« »Riq to’-ib che u banik Janotha«, murmelte Volcy heiser. Hilf mir, Janotha zu finden. Janotha. Das war ein gängiger Maya-Name. »Bitte. Ich muss zurück zu meiner Frau und zu meiner Tochter.« Chel beugte sich näher zu ihm hin. »Du hast eine Tochter?« Er nickte schwach. »Sama. Sie ist gerade geboren. Jetzt muss Janotha allein für sie sorgen.« Chel kam ins Grübeln. Durch eine Laune des Schicksals hätten die Rollen vertauscht und sie hätte ganz leicht Janotha sein können, die in ihrer mit Palmwedeln gedeckten Hütte ihr Neugeborenes versorgte und darauf wartete, dass ihr Mann nach Hause zurückkam, in die leere Hängematte, die vom Dach baumelte. Irgendwo in Guatemala knetete Janotha Tortillas aus Maismehl, die sie über der Feuerstelle backen würde, und redete beruhigend auf ihre kleine Tochter ein, versprach ihr, dass ihr Vater bald zu ihnen zurückkommen würde. Volcy schien immer wieder das Bewusstsein zu verlieren, doch Chel beschloss, die Zeit zu nutzen. »Kennst du das alte Buch, Bruder?« Er nickte. »Ich habe das Wuj gesehen, Bruder. Kannst du mir etwas darüber sagen?« Volcy wirkte plötzlich ganz klar. Er starrte sie an und erwiderte: »Ich habe nur getan, was jeder Mann tun würde, der eine Familie zu ernähren hat.« »Was hast du denn getan? Hast du das Buch verkauft?« »Es war ganz zerfallen«, flüsterte er. »Auf dem Boden des Tempels … ausgetrocknet in hunderttausend Tagen.« Chel hatte also recht gehabt: Der Mann da vor ihr war ein Plünderer. Die angespannte Lage in Guatemala ließ den Indios wie Volcy, die von ihrer Hände Arbeit leben mussten, keine große Wahl. Aber dann war er wider Erwarten auf einen Tempel gestoßen, in dem er ein Buch gefunden hatte, ein Buch, das, wie er instinktiv erkannt hatte, in Amerika ein Vermögen bringen würde. Das Erstaunliche daran war nur, dass es ihm gelungen war, das Buch tatsächlich hierher zu bringen. »Hast du das Buch nach Amerika gebracht, um es zu verkaufen, Bruder?« »Je’«, antwortete Volcy. Ja. Chel warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass sie noch allein waren. »Und, hast du es verkauft? Hast du es Hector Gutierrez verkauft?« Volcy schwieg. Chel versuchte es anders. Sie zeigte auf ihre Wange und fragte: »Hast du es einem Mann verkauft, der hier einen roten Tintenfleck hat? Da, wo sein Bart aufhört?« Volcy nickte. »Wo hast du ihn getroffen? Hier oder in Petén?« Er zeigte auf den Fußboden, auf dieses fremde Land, in dem er zweifellos sterben würde. Volcy hatte eine Tempelruine entdeckt, das Buch an sich genommen, die weite Reise hierher gemacht und war dann irgendwie an Gutierrez geraten. Binnen einer Woche hatte die alte Handschrift ihren Weg zu Chels Labor im Museum gefunden. »Wo ist dieser Tempel, Bruder?«, fragte sie. »Es könnte viel Gutes für unser Volk dabei herauskommen, wenn du mir sagst, wo er ist.« Doch statt zu antworten, warf er sich auf die Seite, die wild rudernden Arme nach dem Wasserkrug ausgestreckt. Telefon und Wecker fielen krachend zu Boden. Volcy packte den Wasserkrug mit zitternden Händen und schüttete sich den Rest Wasser in den Mund. Chel war erschrocken zurückgewichen und hatte dabei ihren Stuhl umgeworfen. Als Volcy erschöpft in die Kissen zurücksank, stellte Chel ihren Stuhl wieder auf und setzte sich hin. Dann trocknete sie ihm mit einem Zipfel seiner Decke das Gesicht ab. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, um die Antworten zu bekommen, die sie brauchte. »Kannst du mir sagen, wo Janotha wohnt? Aus welchem Dorf seid ihr? Wir können deiner Familie eine Nachricht zukommen lassen, damit sie wissen, wo du bist.« Der Tempel konnte nicht allzu weit von seinem Haus entfernt sein. Volcy sah verwirrt drein. »Wen willst du dahin schicken?« »Die Fraternidad Maya hat viele Mitglieder aus ganz Guatemala. Irgendjemand kennt bestimmt den Weg zu deinem Dorf.« »Fraternidad?« »Das ist unsere Kirche«, erklärte Chel. »Wo die Maya sich hier in Los Angeles zum Beten versammeln.« Ein misstrauischer Ausdruck trat in Volcys Augen. »Fraternidad ist Spanisch. Ihr betet mit den ladinos?« »Nein, nein. Die Fraternidad ist ein sicherer Ort für die indı´genas.« »Einem ladino sage ich gar nichts!« Chel begriff, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Fraternidad war Spanisch für »Bruderschaft«. Für die Menschen in Los Angeles war der Mix aus Spanisch, Englisch und der Maya-Sprache ganz normal. Aber da, wo Volcy herkam, stand man einer Maya-Kirche mit einem spanischen Namen misstrauisch gegenüber. »Die Fraternidad weiß gar nichts«, fuhr Volcy mit erstaunlich fester Stimme fort. »Ich werde die ladinos nie zu Janotha und Sama führen. Du bist ajwaral!« Es gab kein englisches Wort dafür. Wörtlich bedeutete es: »Du bist eine von hier.« Volcy wollte damit seine Verachtung zum Ausdruck bringen. Obwohl Chel aus einem kleinen Dorf stammte so wie er, obwohl sie ihr Leben dem Studium ihrer Vorfahren gewidmet hatte, würde sie für Menschen wie Volcy immer eine Außenseiterin bleiben, eine Fremde. »Dr. Manu?«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um. Ein Mann in einem weißen Laborkittel stand in der Tür. »Ich bin Gabriel Stanton.« *** Chel folgte dem Arzt an dem Sicherheitsbeamten vorbei, der ebenfalls einen Mundschutz trug, hinaus auf den Flur. Stanton sprach mit Bestimmtheit, und seine Größe verlieh ihm ein Ehrfurcht gebietendes Auftreten. Chel fragte sich, wie lange er wohl schon in der Tür gestanden hatte. Ahnte er, dass sie eine persönliche Beziehung zu diesem Patienten hatte? Er wandte sich zu ihr um. »Mr Volcy sagt also, er sei schon krank gewesen, bevor er in die Staaten gekommen ist?« »Ja, das hat er gesagt.« »Wir müssen ganz sicher sein«, sagte Stanton. »Wir haben hier in L.A. nach dem Infektionsherd gesucht. Aber wenn das stimmt, was er sagt, müssen wir in Guatemala suchen. Hat er gesagt, wo genau er herkommt?« Chel schüttelte den Kopf. »Seinem Akzent nach dürfte er aus Petén kommen. Das ist der größte Regierungsbezirk des Landes. Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen. Er will auch nicht sagen, wie er in die Staaten gekommen ist.« »So oder so – wir können uns bei unserer Suche auf Fleisch aus Guatemala konzentrieren. Und wenn er aus einem kleinen Dorf stammt, muss es etwas sein, zu dem er Zugang hat. Soviel ich weiß, sind dort unten etliche Tausend Hektar Regenwald abgeholzt worden, um Platz für Viehherden zu schaffen. Ist das richtig?« Stanton kannte sich offenbar gut aus, und er schien ein kluger Bursche zu sein, wenn auch etwas einschüchternd. »Für die Viehherden und Maisfelder der Weißen, die ladinos für sich arbeiten lassen«, betonte Chel. »Für die Indios bleibt nicht viel übrig.« »Volcy könnte sich über verseuchtes Fleisch von einer dieser Rinderfarmen infiziert haben. Wir müssen unbedingt wissen, was für Fleisch er gegessen hat, bevor die ersten Symptome aufgetreten sind. Er soll sich so weit wie möglich zurückerinnern. Rind vor allem, aber auch Huhn, Schwein – alles.« »Die Dorfbewohner können bei einer einzigen Mahlzeit Fleisch von einem halben Dutzend verschiedener Tiere essen«, gab Chel zu bedenken. Stanton betrachtete sie nachdenklich. Seine Brille war ein bisschen verbogen, wie ihr jetzt auffiel, und sie verspürte den unerklärlichen Drang, sie geradezubiegen. Er war mindestens dreißig Zentimeter größer als sie, und sie musste sich regelrecht den Kopf verrenken, um zu ihm aufzublicken. Das war etwas, was sie an Patrick gemocht hatte – dass er eher klein war für einen Weißen. »Er muss sich unbedingt erinnern, er soll sich anstrengen, sagen Sie ihm das«, sagte Stanton. »Ich tue, was ich kann.« »Hat er gesagt, warum er hierhergekommen ist? Sucht er Arbeit?« »Ich weiß es nicht, er hat nichts gesagt«, log sie. »Er ist immer wieder kurz bewusstlos geworden und hat gar nicht richtig geantwortet auf meine Fragen.« Stanton nickte. »Das ist nicht ungewöhnlich für Patienten, die an Insomnie leiden.« Sie gingen ins Krankenzimmer zurück. »Versuchen wir es anders.« Volcy hatte die Augen geschlossen, sein Atem ging schwer und keuchend. Chel war nervös. Sie fragte sich, wie er reagieren würde, wenn er sie sah, und für den Bruchteil einer Sekunde war sie drauf und dran, Stanton die Wahrheit über die Handschrift und über Volcys Rolle dabei zu erzählen. Doch sie tat es nicht. Sie fürchtete, die Einwanderungs- und Zollbehörde oder das Museum könnten Wind davon bekommen. Und dann würde sie vielleicht nicht nur alles verlieren, wofür sie so hart gearbeitet hatte, sondern auch den Maya-Kodex. »Von Alzheimer-Patienten wissen wir, dass Menschen mit so einer Hirnschädigung oft besser auf Fragen reagieren, wenn bestimmte Schlüsselwörter vorkommen«, fuhr Stanton fort. »Das Entscheidende ist, dass man immer einen Schritt nach dem anderen macht und sie von Frage zu Frage führt.« Volcy schlug die Augen auf. Er sah erst Stanton an und richtete den Blick dann auf Chel. Sie betrachtete sein Gesicht prüfend. Doch es lag keine Feindseligkeit in seinem Ausdruck. »Fangen Sie mit seinem Namen an«, forderte Stanton sie auf. »Wir kennen seinen Namen doch.« »Genau. Sagen Sie ihm: Dein Name ist Volcy.« Chel wandte sich dem Patienten zu. »A bi’ Volcy.« Als er nicht antwortete, versuchte sie es erneut: »A bi’ Volcy.« »Nu bi’ Volcy«, sagte er schließlich. Mein Name ist Volcy. Seine Stimme klang ganz normal, ohne jede Spur von Aggressivität. Als hätte er die Sache mit der Fraternidad völlig vergessen. »Er hat mich verstanden«, flüsterte Chel. Stanton nickte. »Und jetzt fragen Sie ihn: Haben deine Eltern dich Volcy genannt?« »Meine Eltern haben mich den Wagemutigen genannt«, lautete die Antwort. »Nur weiter«, ermunterte Stanton sie. »Fragen Sie ihn, warum.« Chel tat es. Und stellte erstaunt fest, dass Volcys Augen mit jeder Frage und mit jeder Antwort klarer wurden und dass sein Blick sich immer mehr schärfte. »Warum haben sie dich den Wagemutigen genannt?« »Weil ich immer Dinge gewagt habe, die kein anderer Junge gewagt hat.« »Was war das?« »Furchtlos durch den Dschungel streifen.« »Wenn du als Junge furchtlos durch den Dschungel gestreift bist, wie hast du da überlebt?« »Ich habe durch den Willen der Götter überlebt.« »Die Götter haben dich als Junge im Dschungel beschützt?« »Sie haben mich beschützt, bis ich sie als erwachsener Mann beleidigt habe.« »Was ist passiert, nachdem sie dich als erwachsenen Mann nicht mehr beschützt haben?« »Sie haben mich im Dschungel nicht mehr auf die andere Seite gelassen.« »Die andere Seite? Du meinst, in den Traumzustand?« »Sie haben nicht zugelassen, dass meine Seele sich ausruhen oder in der Geistwelt Kraft sammeln konnte.« Chel unterbrach das Frage-und-Antwort-Spiel. Sie musste sichergehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte. Sie beugte sich näher zu ihm hinunter und sagte: »Volcy. Du konntest nicht mehr in den Traumzustand hinüberwechseln, seit du im Dschungel warst? Seit du das alte Buch gefunden hast?« Er nickte. »Was ist?«, fragte Stanton. »Was sagt er?« Chel achtete nicht auf ihn. Sie musste es wissen. Unbedingt. »Wo im Dschungel war dieser Tempel?« Doch Volcy verfiel wieder in Schweigen. Stanton wartete ungeduldig. »Warum antwortet er nicht mehr? Was haben Sie zu ihm gesagt?« »Er sagt, er sei das erste Mal im Dschungel krank geworden«, antwortete Chel ausweichend. »Warum war er im Dschungel? Stammt er von dort?« »Nein.« Chel zögerte nur einen Atemzug lang. »Er ist in den Dschungel gegangen, um zu meditieren. Da habe er zum ersten Mal nicht mehr schlafen können.« Stanton sah sie prüfend an. »Sind Sie sicher?« »Ja, ganz sicher.« Was spielte es für eine Rolle, warum der Mann in den Dschungel gegangen war? Ob er nun das alte Buch gesucht oder meditiert hatte – fest stand, dass er irgendwo im Regenwald krank geworden war. »Und dann hat er den Dschungel verlassen und ist nach Norden gegangen?«, fragte Stanton. »Scheint so.« »Warum? Warum ist er ausgerechnet in die Staaten gekommen?« »Das hat er nicht gesagt.« »Könnte es dort im Dschungel, wo er … meditiert hat, Rinderfarmen geben?« »Ich weiß nicht, über welchen Teil von Petén wir hier reden«, erwiderte Chel wahrheitsgemäß. »Aber Rinderfarmen gibt es überall im Hochland.« »Was könnte er während seiner Zeit im Dschungel gegessen haben?« »Alles, was man sammeln oder durch Fallenstellen erlegen kann.« »Er schlägt also im Dschungel oder am Rand einer dieser Rinderfarmen sein Lager auf und bleibt ein paar Wochen dort. Er muss sich ja von irgendetwas ernähren. Kann es sein, dass er eine Kuh getötet hat?« »Schon möglich.« Stanton bat sie, weiterzumachen mit der Wortverknüpfungstechnik, was sie auch tat. Doch sie vermied es tunlichst, noch einmal nachzuhaken, warum Volcy in den Dschungel gegangen war. »Hast du im Dschungel das Fleisch von einem Rind gegessen?« »Es gab kein Rindfleisch, das ich hätte essen können.« »Hast du im Dschungel das Fleisch eines Huhns gegessen?« »Was für Hühner sollen denn im Dschungel leben?« »Es gibt Hirsche und sonstiges Wild im Dschungel. Hast du ihr Fleisch gegessen?« »Ich habe nie das Fleisch eines Hirschs über meiner Feuerstelle gekocht.« »Hast du in der Wildnis eine steinerne Feuerstelle benutzt?« »Wir haben Tortillas über dem Feuer gebacken.« »Wurde in deinem Dorf Fleisch über dieser steinernen Feuerstelle zubereitet?« »Chuyum-thul erlaubt kein Fleisch auf dem Feuer. Ich bin Chuyum-thul, der vom Himmel aus über den Regenwald herrscht und der meine menschliche Form seit meiner Geburt leitet.« Chuyum-thul war ein Falke, offenbar Volcys Krafttier, das ihm der Schamane seines Dorfes zugewiesen hatte. Das wayob eines Menschen symbolisierte seine Eigenschaften: Der Furchtlose, ein König etwa, war ein Jaguar; der Lustige ein Brüllaffe, der Langsame eine Schildkröte. Vom Altertum bis zum heutigen Tag waren bei den Maya der Name eines Menschen und sein wayob austauschbar. »Ich bin Pape, der Tigerstreifenschmetterling«, sagte Chel. »Meine menschliche Form erweist der Form meines wayob jeden Tag aufs Neue Ehre. Chuyum-thul weiß, dass du ihm die nötige Achtung erwiesen hast, wenn du seine Anweisungen für die Mahlzeiten befolgst.« »Ich habe seine Anweisungen zwölf Monde lang befolgt«, flüsterte Volcy. Als er sah, dass Chel sich in ihn hineinzuversetzen vermochte, nahmen seine Augen einen fast zärtlichen Ausdruck an. »Er hat mir die Seelen der Tiere im Dschungel gezeigt und wie er über sie wacht. Er hat mir gesagt, dass kein Mensch sie zerstören darf.« »Was sagt er?«, fiel Stanton ihr ins Wort. Chel beachtete ihn auch diesmal nicht. Sie hatte Volcys Vertrauen zurückgewonnen, und sie wollte Antworten auf ihre eigenen Fragen haben, bevor er wieder das Bewusstsein verlor. »War es der Falke, der dich zu dem großen Tempel geführt hat, zu dem Ort, der dir gegeben hat, was du brauchtest, um für deine Familie zu sorgen? Für Janotha und Sama?« Er nickte langsam. »Wie weit war es von deinem Dorf bis zu dem Tempel, zu dem Chuyum-thul dich geführt hat?« »Drei Tagesmärsche.« »In welche Richtung?« Er antwortete nicht. »Bitte, du musst mir sagen, in welche Richtung du drei Tagesmärsche gegangen bist.« Aber Volcy hatte sich wieder in sich selbst zurückgezogen. Frustriert änderte Chel ihre Taktik. »Zwölf Monde bist du den Anweisungen von Chuyum-thul gefolgt. Was für Anweisungen hat er dir gegeben?« »Wenn ich mich zwölf Monde lang einer inneren Reinigung unterziehe, wollte er dafür sorgen, dass ich meinem Dorf zu großem Reichtum verhelfe«, murmelte Volcy. »Dann hat er mich zu dem Tempel geführt.« Chel glaubte, sie hätte sich verhört. Eine innere Reinigung? Zwölf Monde lang? Wie war das möglich? Die innere Reinigung war ein uralter Brauch, der normalerweise von Schamanen oder Medizinmännern praktiziert wurde: Sie zogen sich in die Einsamkeit ihrer Höhle zurück, wo sie das Zwiegespräch mit den Göttern suchten und monatelang nur von Wasser und ein paar Früchten lebten. »Du hast dich zwölf Monde lang einer inneren Reinigung unterzogen, Bruder?«, sagte Chel langsam. »So, wie Chuyum-thul es dir befohlen hat?« Er nickte. »Was zum Teufel sagt er?«, wollte Stanton wissen. Chel drehte sich zu ihm um. »Sie haben gesagt, diese Krankheit wird durch Fleisch übertragen, nicht wahr?« »Jede nicht genetisch bedingte Prionen-Erkrankung wird durch Fleisch übertragen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir herausfinden, was für Fleisch er gegessen hat. Je weiter er sich zurückerinnern kann, desto besser.« »Er hat überhaupt kein Fleisch gegessen.« Stanton sah sie verblüfft an. »Was sagen Sie da?« »Er hat sich einer sogenannten inneren Reinigung unterzogen. Das heißt, kein Fleisch. Nicht einen einzigen Bissen.« »Das ist unmöglich!« »Wenn ich es Ihnen doch sage«, beharrte Chel. »Er ernährt sich seit einem Jahr vegetarisch.« 7 Volcys Mund, seine Kehle und sogar sein Magen waren so ausgetrocknet, als hätte er zwei Tage am Stück Beete angelegt und ausgesät. So musste Janotha sich gefühlt haben, als sie Sama zur Welt brachte. Sie hatte über schrecklichen Durst geklagt, unstillbaren Durst. Seine flatternden Lider blendeten das Licht ein und wieder aus, während er sich zu erinnern versuchte, wie er in dieses Bett gekommen war. Ich werde Sama nie wiedersehen. Ich werde verdursten, und sie wird nie erfahren, dass ich das Buch unserer Väter nur für sie genommen habe, nur für sie. Als die Dürre kam, flehte der Schamane jeden Tag zu Chaak und brachte ihm Opfer dar, aber der Regen kam nicht. Familien zerbrachen, Kinder wurden in die Stadt zu Verwandten gebracht, alte Menschen starben durch die Hitze. Janotha sorgte sich, dass ihre Milch versiegte. Aber das würdest du – der Falke – niemals zulassen. Niemals. Als Volcy noch ein kleiner Junge war, hatte seine Mutter oft gehungert, damit genug zu essen blieb für ihre Kinder. Dann hatte er sich nachts, wenn seine Eltern schliefen, aus der Hütte geschlichen und Mais vom Feld einer Familie gestohlen, die mehr hatte, als sie brauchte. Der furchtlose Falke. Viele Jahre später war Volcy dem Ruf seines wayob gefolgt, als seine Familie wieder einmal in Not war. In der Zeit seiner inneren Reinigung hatte er den Ruf vernommen, der ihn zu den Ruinen führen sollte. Er und Malcin, sein Partner, waren drei Tage lang im Regenwald unterwegs gewesen. Nur Ix Chel, die Mondgöttin, hatte ihnen Licht gespendet. Malcin hatte Angst, sie könnten die Götter erzürnen. Aber die Weißen zahlten viel Geld für kleine Tonscherben, weil das Ende des Langzeitzyklus bevorstand. Die Götter hatten sie zu den Ruinen geführt. Zwischen turmhohen Bäumen waren sie auf verwitterte, überwucherte Mauern gestoßen, die wahre Schätze in ihrem Inneren bargen: Klingen aus Obsidian, stuckverzierte bauchige Gefäße, Kristalle, Perlen und Tongefäße. Eine Maske und Totenköpfe mit Jadezähnen. Und das Buch. Das verfluchte Buch. Sie hatten keine Ahnung, was die Zeichen auf dem brüchigen Papier zu bedeuten hatten, aber das Buch schlug sie in ihren Bann. Und jetzt lag er allein in der Dunkelheit – aber wo? Wo war er? Der Mann und die Qu’iche-Frau waren gegangen. Volcy tastete nach seinem Glas. Es war leer. Er schwang seine Beine aus dem Bett und richtete sich schwankend auf. Seine Gliedmaßen gehorchten ihm nicht mehr, sein Körper ließ ihn im Stich, genau wie sein Augenlicht. Aber er musste unbedingt etwas trinken. Er zog den Ständer, mit dem er durch einen Schlauch verbunden war, hinter sich her, wankte ins Bad, drehte den Wasserhahn auf, hielt das Gesicht in den Wasserstrahl und trank gierig. Doch es war nicht genug. Das Wasser lief ihm in die Nase und in den Mund und über das Gesicht, aber er brauchte mehr. Der Fluch des Buches trocknete ihn aus. Er hatte sich dazu verleiten lassen, die Ehre seiner Vorfahren der fixen Idee der Weißen zu opfern, die besessen waren vom Maya-Kalender. Der Falke hob den Kopf vom Wasserhahn und sah sein Gesicht im Spiegel. Das Wasser lief ihm über die Haare und über das Gesicht, aber der Durst quälte ihn noch immer. *** Stanton ging im Hof vor dem Krankenhaus auf und ab, während er mit Davies telefonierte. Ringsum zuckten rote und blaue Lichter: Sie hatten die Polizei rufen müssen, damit sie die metastasierende Presse in Schach hielten. Bei der undichten Stelle, die die Fernsehteams auf die Spur der Havermore Farms geführt hatte, handelte es sich offenbar um einen Krankenpfleger. Er hatte zufällig gehört, wie Thane sich mit einem Arzt über John Doe und dessen mysteriöse Erkrankung unterhalten hatte, und dann in einem Forum einen Beitrag über Rinderwahnsinn geschrieben. Inzwischen hatte jede größere Nachrichtenagentur im Land ein Team hergeschickt. »Was, wenn John Doe uns einen Haufen Lügen erzählt?«, fragte Davies. »Warum sollte er das tun?« »Was weiß ich. Vielleicht ist seine Frau überzeugte Veganerin und darf nicht wissen, dass ihr Mann Big Macs gefuttert hat.« »Ach, komm!« »Na schön. Aber kann es nicht sein, dass er krank geworden ist, bevor er aufgehört hat, Fleisch zu essen?« »Du hast doch die Proben unter dem Mikroskop gesehen. Die Infektion kann nicht so lange zurückliegen.« Davies seufzte. »Deine Dolmetscherin hat doch gemeint, es sei denkbar, dass er Käse gegessen oder Milch getrunken hat, nicht wahr? Höchste Zeit, über Milchprodukte zu reden.« Der Aussage eines einzigen Patienten standen die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungen gegenüber, und Stanton hielt es immer noch für unwahrscheinlich, dass etwas anderes als Fleisch als Infektionsquelle infrage kam. Aber sie mussten auch dieser Möglichkeit nachgehen. In Kuhmilch waren schon Escherichia coli, Listerien und Salmonellen gefunden worden, und Stanton befürchtete schon lange, dass Prionen auch in Milchprodukte gelangen könnten. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Rindfleisch lag in den Vereinigten Staaten bei vierzig Pfund im Jahr – bei Milchprodukten waren es über dreihundert Pfund. Und die Milch einer einzigen Kuh wurde im Laufe ihres Lebens in Tausenden verschiedenen Produkten verwertet, was die Suche nach der Quelle erheblich erschwerte. »Ich werde die Kollegen in Guatemala bitten, zu überprüfen, welche Möglichkeiten sie haben, ihre Milchprodukte bis zur Quelle zurückzuverfolgen«, sagte Davies. »Aber wir reden hier von einem Gesundheitssystem in der Dritten Welt, das Nachforschungen über eine Krankheit anstellen soll, von der keiner wissen darf, dass sie dort ausgebrochen ist. Keine guten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Epidemiologie.« »Wie sieht’s mit den Nachforschungen in den Krankenhäusern hier aus?« »Bis jetzt haben wir nichts gefunden«, antwortete Davies. »Das Team hat jede Notaufnahme in L.A. angerufen, und ich habe Jiao losgeschickt, damit sie sich ein paar verdächtige Patienten anschaut, aber es war jedes Mal falscher Alarm.« »Behalte die Leute im Auge. Lass sie alle vierundzwanzig Stunden checken.« Stanton beendete das Gespräch und eilte um die Ecke des Gebäudes. Auf dem Parkplatz herrschte Hochbetrieb. Neben den Fahrzeugen der Fernsehteams stand ein ganzer Pulk von Rettungswagen mit eingeschaltetem Blaulicht vor dem Eingang der Notaufnahme. Es wimmelte von Rettungssanitätern, Ärzten und Krankenschwestern. Alle liefen geschäftig hin und her und riefen sich Anweisungen zu, während Patienten ausgeladen und auf fahrbaren Tragen in die Notaufnahme gerollt wurden. Auf der Schnellstraße 101 war es zu einer Massenkarambolage gekommen, und man hatte Dutzende Verletzte in kritischem Zustand hierher gebracht. Auf dem Weg zum Haupteingang telefonierte Stanton noch einmal. »Ich bin’s«, sagte er leise, als Ninas Mailbox ansprang. Er blickte sich rasch um, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war. »Tu mir einen Gefallen und wirf auch die Milch und den Käse über Bord.« *** In der Notaufnahme drückte sich Stanton an die Wand, um Platz für die fahrbaren Krankentragen zu machen. Ein älterer Mann, eine Aderpresse um den in Gaze gewickelten Arm, schrie vor Schmerzen. Patienten, deren Zustand so kritisch war, dass sie nicht erst in den OP geschafft werden konnten, wurden an Ort und Stelle in der nicht sterilen Notaufnahme operiert. Stanton war gottfroh, dass Unfallchirurgie nicht sein Gebiet war. Er fuhr mit dem Lift in den sechsten Stock hinauf, wo er Chel Manu im Wartebereich fand. Selbst mit ihren hochhackigen Schuhen war sie ein winziges Persönchen. Stantons Blick heftete sich auf ihren Nacken, der von ihren schwarzen Haaren fast verdeckt wurde. Da sie eine kluge Frau zu sein schien und ihm als Dolmetscherin bereits eine wertvolle Hilfe gewesen war, hatte er sie gebeten zu bleiben. »Möchten Sie auch einen Kaffee, bevor wir wieder hineingehen?«, fragte er mit einer Kopfbewegung zum Automaten hin. »Nein, aber ich könnte jetzt eine Zigarette brauchen«, antwortete Chel. Stanton warf ein paar Münzen in den Schlitz und wartete, bis der Kaffee in den Styroporbecher gelaufen war. Nicht ganz das, was er von Groundwork gewohnt war, aber etwas Besseres würde er hier kaum bekommen. »Kann mir nicht vorstellen, dass Sie hier welche finden.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich hab mir sowieso vorgenommen, Ende des Jahres damit aufzuhören.« Stanton nippte an dem dünnen Kaffee. »Dann glauben Sie wohl nicht, dass der von den Maya prophezeite Weltuntergang kommt.« »Nein, das glaube ich nicht.« »Ich auch nicht.« Er lächelte, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. Anscheinend hielt sie nichts von zwangloser Unterhaltung. Oder aber das war kein Thema, über das sie Scherze machte. »Und was machen wir jetzt?«, fragte sie sachlich. »Wir müssen versuchen, noch einmal mit Volcy zu reden. Bringen Sie ihn dazu, dass er Ihnen alle Milchprodukte aufzählt, die er in den letzten vier Wochen oder so zu sich genommen hat.« »Ich werd’s versuchen, aber ich bin mir nicht sicher, ob er mir vertraut.« »Machen Sie einfach weiter, okay?« *** Als sie auf Volcys Zimmer zugingen, sah Stanton, dass Mariano, der Mann vom Sicherheitsdienst, nicht mehr da war. Stanton schaute sich verblüfft um, aber Mariano war nirgends zu sehen. Dann fiel ihm ein, dass vermutlich alle Sicherheitsleute unten gebraucht wurden, um Ordnung in das durch die Einlieferung der zahlreichen Verletzten entstandene Chaos zu bringen. Sie betraten das Zimmer, fanden aber nur ein leeres Bett vor. »Ist er verlegt worden?«, fragte Chel. Stanton war genauso verwirrt wie sie. Er schaltete alle Lichter ein und blickte sich kurz um. Plötzlich hörten sie ein zischendes Geräusch, das aus dem Bad zu kommen schien. Stanton horchte an der geschlossenen Tür. »Volcy?« Das Zischen war schrill, und es klang so, als ob Dampf aus einem Leck strömen würde. »Fragen Sie ihn, ob alles in Ordnung ist«, forderte er Chel auf. »Volcy, ja ’e?« Keine Antwort. Stanton drehte den Türknauf. Die Tür war nicht verschlossen. Er öffnete sie und sah Volcy auf dem Boden liegen, mit dem Gesicht nach unten, als wäre er bewusstlos zusammengebrochen. Das Bad glich einem Trümmerfeld: Fliesen waren kaputt geschlagen, das Waschbecken war aus der Halterung gerissen, Kupferrohre ragten aus der Wand, und Wasser lief heraus. »Masam … ahrana … Janotha«, murmelte der Indio. Stanton kniete sich neben Volcy, packte dessen Arm und legte ihn sich über die Schultern, fasste den Mann dann um die Taille und zog ihn vom Boden hoch. Arme, Beine und Oberkörper waren angeschwollen und sahen aus wie aufgeblasen. Als drohte der Mann zu platzen, wenn er nicht punktiert würde. Seine Haut war eiskalt. »Einen Arzt, schnell!«, schrie Stanton. Chel stand wie gelähmt in der Tür zum Bad. »Los, worauf warten Sie noch! Beeilen Sie sich!« Endlich kam Bewegung in sie. Sie rannte aus dem Zimmer, und Stanton wandte sich wieder zu dem Kranken hin. »Halten Sie sich an mir fest, Volcy.« Er schleppte den Indio zum Bett. »Nicht ohnmächtig werden«, keuchte er. »Bleib bei mir, hörst du? Komm schon!« Eine Ärztin und zwei Schwestern stürzten ins Zimmer. Volcy atmete kaum noch. Er hatte so viel Wasser getrunken, dass sein Herz überlastet war. Man injizierte ihm Medikamente gegen einen drohenden Herzstillstand und presste ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Doch es war abzusehen, dass sie den Kampf verlieren würden. Drei Minuten später blieb Volcys Herz stehen. Die Anästhesistin griff zu den Paddles des Defibrillators und jagte dem Patienten eine Reihe von Stromstößen, jeder stärker als der vorige, in den aufgedunsenen Körper. Volcy bäumte sich jedes Mal auf, und dort, wo die Paddles aufgesetzt worden waren, wies die Haut Verbrennungen auf. Stanton begann mit der Herzmassage, etwas, was er seit seiner Zeit als Assistenzarzt nicht mehr gemacht hatte. Die Hände oberhalb des Brustbeins übereinandergelegt, drückte er ein paar Mal kurz hintereinander auf den Brustkorb, so fest er konnte. Eins, zwei, drei, vier … Nach einer Weile fasste die Anästhesistin Stanton am Arm und zog ihn mit sanfter Gewalt vom Bett weg. »Todeszeitpunkt 12 Uhr 26«, stellte sie sachlich fest. *** Von der Schnellstraße 101 jagten weitere Rettungswagen heran. Stanton versuchte, ihre heulenden Sirenen auszublenden, während er und Thane zusahen, wie die Pfleger Volcys Leichnam in einen Leichensack hoben. »Er hat eine Woche lang stark geschwitzt«, bemerkte Thane. »Er muss völlig dehydriert gewesen sein.« Stanton schaute auf den blau verfärbten, aufgedunsenen Körper und meinte: »Das kommt nicht von den Nieren, sondern vom Gehirn.« Thane machte ein verwirrtes Gesicht. »Sie meinen, so was wie Polydipsie?« Stanton nickte. Patienten mit psychogener Polydipsie litten an einem übermäßigen Durstgefühl. Ihr Durst quälte sie so sehr, dass sogar das Wasser von Waschbecken und Toilette abgestellt werden musste. Im schlimmsten Fall, wie in diesem hier, kam es zu Herzversagen aufgrund der übermäßigen Flüssigkeitszufuhr. Stanton hatte zwar noch keinen FFI-Patienten mit Polydipsie erlebt, aber jetzt war er wütend auf sich selbst, weil er diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen hatte. »Ich dachte, das sei ein Symptom von Schizophrenie.« Thane sah Volcys Krankenakte durch auf der Suche nach Hinweisen, die zur Klärung der Todesursache beitragen könnten. »Nach einer Woche ohne Schlaf sind Symptome von Schizophrenie durchaus denkbar.« Stanton stellte sich die schrecklichen letzten Minuten in Volcys Leben vor, während die Pfleger den Reißverschluss des Leichensacks zuzogen. Schizophrenie äußerte sich unter anderem durch Halluzinationen und Wahnvorstellungen. FFI-Patienten zeigten nicht selten die gleichen Symptome. Stanton hatte sich schon oft gefragt, ob Schlaf das Einzige war, das geistig Gesunde gesund erhielt. »Wo ist eigentlich Dr. Manu geblieben?«, fragte Thane. »Vor einer Minute war sie noch da.« »Na ja, man kann es ihr nicht verdenken, dass sie bei dem Anblick die Flucht ergriffen hat.« »Sie war die Letzte, die mit ihm gesprochen hat«, sagte Stanton. »Wir müssen sie finden. Sie soll alles, was er gesagt hat, so genau wie möglich aufschreiben.« Volcys Leichnam wurde auf eine fahrbare Trage gehoben und aus dem Zimmer gerollt. Stanton würde die Obduktion später gemeinsam mit den Pathologen durchführen. »Eigentlich hätte ich hier oben sein müssen«, sagte Thane. »Aber ich wurde unten in der Notaufnahme gebraucht. Die schicken uns viel zu viele Schwerverletzte von diesem Unfall. Da unten sieht es aus wie in einem gottverdammten Feldlazarett in Afghanistan.« »Sie hätten nichts mehr tun können.« Stanton nahm seine Brille ab. »Da schläft irgend so ein Arschloch auf der Schnellstraße in seinem Geländewagen ein, und alle anderen Patienten bei uns müssen es büßen«, knurrte Thane. Stanton trat ans Fenster, schob den Vorhang auf und schaute hinunter. Ein weiterer Rettungswagen raste mit heulender Sirene heran und hielt vor der Notaufnahme. »Der Fahrer, der die Massenkarambolage verursacht hat, ist am Steuer eingeschlafen?« Thane zuckte die Achseln. »Das hat die Polizei jedenfalls gesagt.« Stanton starrte angestrengt auf die zuckenden Lichter der Einsatzfahrzeuge. 8 Hector Gutierrez hasste es, seine Frau belügen zu müssen, aber er wollte nicht, dass sie erfuhr, in was für Schwierigkeiten er steckte. Noch mehr aber quälte ihn der Gedanke, dass Ernesto, sein kleiner Sohn, seinen Vater vermutlich nicht mehr wiedererkennen würde, wenn dieser aus dem Gefängnis entlassen würde. Zum Glück hatte er seinen Lagerraum ausgeräumt, bevor die Bullen angerückt waren und alles durchsucht hatten. Aber früher oder später würden sie sich garantiert auch sein Haus vornehmen. Sein Informant bei der Einwanderungs- und Zollbehörde, von dem der Tipp gekommen war (für den er großzügig bezahlt worden war), hatte ihm gesteckt, dass schon seit Monaten gegen ihn ermittelt wurde. Noch reichten die Beweise allerdings nicht aus für eine Anklage. Aber falls sie alles herausfänden, drohten Hector bis zu zehn Jahre Gefängnis. Deswegen hatte er die letzten Tage so viel Zeit mit seinem Sohn verbracht wie nur möglich. Letzten Sonntag war er mit ihm in den Vergnügungspark Six Flags gefahren, wo sie sich in alten Achterbahnen hatten durchschütteln lassen. Ernesto hatte viel Spaß gehabt, was Hector ganz glücklich machte. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass sie auf Schritt und Tritt verfolgt wurden. Er hatte verschwommene Gesichter bei der Arkade entdeckt und merkwürdige Schatten auf den Funnelcakes, den süßen Kuchen, die zum Besuch eines Freizeitparks gehörten. Und obwohl es endlich Winter geworden war in Los Angeles, hatte er den ganzen Tag fürchterlich geschwitzt. Als sie nach Hause kamen, waren Hemd und Socken nassgeschwitzt. An dem Abend hatte er die Klimaanlage auf die höchste Stufe gestellt und sich dann mit Maria vor den Fernseher gesetzt. Während sie sich Comedyserien anschauten, zerbrach sich Hector den Kopf, wie er ihr beichten sollte, in was für Schwierigkeiten er steckte. Um zwei Uhr früh, als Maria schon lange selig schlief, saß Hector immer noch hellwach und schweißgebadet vor dem Fernseher. Seit seinem Teenagerflirt mit Kokain hatte er sich nicht mehr so angespannt gefühlt, so reizempfindlich. Jedes Geräusch tat ihm in den Ohren weh: das Summen des Kabelkastens, Ernestos Zähneknirschen im Schlaf, die Autos auf der 94. Straße, die sich alle anhörten, als wären sie unterwegs, um ihn zu holen. Es war schon nach drei, als Hector ins Bett fiel. Sein Mund war staubtrocken, und obwohl er die Augen kaum noch offen halten konnte, fand er keinen Schlaf. Die Zeiger der Uhr rückten unerbittlich weiter. Mit jeder Minute, die verstrich, kam der Morgen näher, und Hector hatte einen anstrengenden Tag vor sich: Er musste die im Haus versteckte Ware fortschaffen. Schließlich weckte er seine Frau – ein letzter Versuch, sich zu verausgaben, damit er endlich einschlafen konnte. Es war der beste Sex seit Monaten, aber Hector konnte danach immer noch nicht einschlafen. Fast zwei Stunden lag er nackt neben seiner Frau, sein Schweiß durchtränkte das Bettzeug, bis es ihm an der Haut klebte. Frustriert schlug er den Kopf gegen die Matratze. Schließlich stand er auf, schaltete den PC ein und surfte im Internet, wo er auf Tabletten aus Kanada stieß, die erholsamen Schlaf innerhalb von zehn Minuten nach dem Einnehmen versprachen. Aber natürlich wurden Bestellungen nur während der regulären Geschäftszeiten angenommen. Bald zwitscherten die ersten Vögel, und hinter den Jalousien dämmerte der neue Tag herauf. Hector lag eine weitere Stunde wach im Bett. Dann stand er auf und ging ins Bad. Er schnitt sich beim Rasieren, so heftig zitterten seine Hände vor Erschöpfung. Nach dem Frühstück, Haferbrei und Kaffee, spürte er einen Energieschub. Als er das Haus verließ und zur Bushaltestelle ging, empfand er die kühle Brise als wahre Wohltat. Um sieben Uhr erreichte er die Parkgarage unweit des Los Angeles International Airport, wo er seinen grünen Ford Explorer mit den gefälschten Kennzeichen abgestellt hatte, den er immer zum Transport geraubter Antiquitäten benutzte. Als er sicher sein konnte, dass Maria und Ernesto das Haus verlassen hatten, fuhr er zurück, um die restlichen Stücke einzuladen und zu dem neu angemieteten Lagerraum in West Hollywood zu schaffen. Als er bei der Kathedrale Our Lady of the Angels ankam, wo er Chel Manu getroffen hatte, war er schon wieder schweißgebadet. Aber er hatte vor ihr verbergen können, wie schlecht es ihm ging, und sie überredet, den Kodex für ihn aufzubewahren. Entweder sie würde einen Weg finden, die Handschrift zu erwerben, oder aber sie war die perfekte Lösung für sein Problem. Falls man ihn schnappte, würde er gegen sie aussagen und sich dadurch Straffreiheit sichern. Verglichen mit ihr war er für die Ermittlungsbehörden nur ein kleiner Fisch. Nach dem Besuch der Kirche setzte er sich wieder ans Steuer. Er hatte Mühe, sich auf den vorbeirauschenden Verkehr zu konzentrieren. Die Neonwerbung an der 101 kam ihm seltsam stumpf vor, so als hätte jemand die Farben abgewaschen. Die ganz normalen Geräusche des Wagens und des Motors dröhnten in seinen Ohren wie Hammerschläge. Den Rest des Tages verbrachte er damit, die Orte abzuklappern, an denen er oft seine verschiedenen Geschäfte abwickelte. Er schmierte Motelangestellte und Werkstattmechaniker und die Türsteher von Striplokalen. Er sorgte dafür, dass es nichts gab, was irgendwie gegen ihn verwendet werden konnte. Auf halbem Weg nach Hause an diesem Abend bemerkte er im Rückspiegel einen schwarzen Lincoln. Hector geriet in Panik. Wurde er beschattet? Obwohl er den Wagen später aus den Augen verlor, konnte er an nichts anderes mehr denken. Maria stand am Fenster, als er in die Einfahrt in Inglewood einbog. Er hatte das Haus kaum betreten, da fing sie an, auf ihn einzureden. Er kam gar nicht zu Wort. Er hatte seit fast sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen. Seine Augen waren stark gerötet, weil er sie in einem fort rieb. Maria schenkte ihm ein Glas Rotwein ein, suchte einen Sender mit klassischer Musik, zündete Kerzen an. Ihre Mutter hatte an Schlaflosigkeit gelitten, daher kannte sie alle Tricks, wie man jemandem half, innerlich zur Ruhe zu kommen. Doch es nützte nichts. Um zwei Uhr morgens lag Hector immer noch wach. Er dachte über sein Leben nach, ging mit sich selbst ins Gericht: Um drei Uhr befand er, dass er ein guter Vater war, um vier Uhr, dass er ein schlechter Ehemann war. Irgendwann schmiegte er sich wieder an Maria und streichelte ihre Brüste. Aber als sie die Hand zwischen seine Beine schob, ihn massierte, bekam er keine Erektion. Sie setzte sich auf ihn, aber es tat sich nichts. Sein Körper ließ ihn im Stich, was er als Verrat empfand. Er entschuldigte sich bei Maria und quälte sich aus dem Bett. Schwer atmend, mit zitternden Händen und verschwommenem Blick taumelte er aus dem Haus und setzte sich auf die Veranda, wo er in der kühlen Nachtluft sitzen blieb, bis die ersten Flugzeuge in der Morgendämmerung über die Stadt hereinschwebten. Wieder war eine Nacht vergangen, in der er nicht geschlafen hatte, und zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürte Hector das dringende Bedürfnis zu weinen. Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich. Sie kam aus dem Haus. Wer zum Teufel trieb sich um fünf Uhr morgens in seinem Haus herum? Hector stürmte hinein und rannte in die Küche. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, wer der Mann war, der da stand. Es war der Vogelmann. Der Vogelmann saß am Küchentisch. »Was hast du hier zu suchen?«, herrschte Hector ihn an. »Verschwinde! Raus hier!« Der Vogelmann stand auf, aber noch bevor der etwas sagen konnte, versetzte Hector ihm einen Kinnhaken, sodass er zu Boden ging. Maria kam hereingelaufen. »Was hast du getan?«, schrie sie. »Warum hast du ihn geschlagen?« Hector zeigte auf den Vogelmann und wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch dann erstarrte er mitten in der Bewegung. Das war Ernesto, der sich auf dem Fußboden krümmte und seinen Vater entsetzt anstarrte. »Papa!«, schrie der Junge mit vor Angst und Bestürzung weit aufgerissenen Augen. Hector hatte das Gefühl, als müsste er sich übergeben. Vor langer Zeit hatte er Maria hoch und heilig versprochen, dass er seine Wut niemals an ihr oder ihrem Sohn auslassen werde, so wie sein eigener Vater es früher mit seiner Familie getan hatte. Maria ging auf ihn los, hieb mit beiden Fäusten auf ihn ein. Ohne nachzudenken, stieß er sie zu Boden. Maria Gutierrez sah ihren Ehemann zum letzten Mal, als er in seinem Geländewagen rückwärts aus der Einfahrt schoss, mit quietschenden Reifen anfuhr und davonjagte. 9 Die Notaufnahme des Presbyterian Hospital war bis in den letzten Winkel belegt mit Verletzten. Stanton eilte durch das Chaos, das der schwere Unfall auf der Schnellstraße verursacht hatte. Er prallte mit Pflegern zusammen. Stieß Notfallwägelchen um. Suchte hektisch nach dem Mann, der das alles angerichtet hatte. Autounfälle wurden oft im Zusammenhang mit Fällen von FFI genannt. Für Zeugen, wie bei einem Fall, der sich in Deutschland ereignet hatte, sah es so aus, als ob der Fahrer auf der Autobahn am Steuer eingenickt wäre. Stanton riss die Vorhänge auf, mit denen die Betten abgeschirmt waren, einen nach dem anderen, und sah, wie Assistenzärzte Operationen durchführten, die sie niemals allein hätten durchführen dürfen, und Schwestern, die selbstständig medizinische Entscheidungen trafen, weil nicht genug Ärzte da waren. Das Einzige, was er nicht sah, war jemand, der ihm sagen konnte, wer der Unfallverursacher war, ob er noch lebte und ob er ebenfalls hier eingeliefert worden war. Stanton blieb stehen und schaute sich ratlos um. Sein Blick fiel auf zwei Rettungssanitäter auf der anderen Seite, die aushalfen, weil das Krankenhaus viel zu wenig Personal hatte. Stanton lief zu ihnen hin. Sie versorgten einen Patienten über eine Maske mit Sauerstoff. »Wart ihr Jungs an der Unfallstelle? Wisst ihr, wer den Unfall verursacht hat?« »Ein Latino«, antwortete der eine. »Und wo ist er jetzt? Hier?« Der Mann nickte. »Suchen Sie nach einem John Doe.« Stanton wandte sich um und überflog die Liste mit den Namen der eingelieferten Patienten. Noch ein John Doe? Selbst wenn der Fahrer keine Papiere bei sich hatte, hätte der Fahrzeughalter doch inzwischen ausfindig gemacht werden müssen. Ziemlich weit unten auf der Liste fand Stanton, was er suchte. Er rannte zurück zu Abteil Nr. 14 und riss den Vorhang auf. Schwestern huschten geschäftig hin und her, Ärzte erteilten mit lauter Stimme knappe Anweisungen. Der Mann auf dem Bett war blutüberströmt und krümmte sich vor Schmerzen. »Ich muss unbedingt mit diesem Mann reden.« Stanton zückte seinen CDC-Ausweis. Ärzte und Schwestern blickten verwirrt drein, traten dann aber zur Seite, um ihm Platz zu machen. Stanton beugte sich zu dem Patienten hinunter und fragte leise: »Sir, leiden Sie in letzter Zeit an Schlafstörungen?« Keine Antwort. »Sind Sie in letzter Zeit krank gewesen, Sir?« Ein Monitor begann laut zu piepsen. »Der Blutdruck fällt«, sagte eine der Krankenschwestern warnend. Ein Notarzt schob Stanton energisch zur Seite und erhöhte die intravenöse Medikamentengabe. Alle starrten auf den Monitor. Der Blutdruck fiel weiter ab, die Herztätigkeit verlangsamte sich. »Notfallwagen!«, schrie ein anderer Arzt. »Sir!«, rief Stanton über die anderen hinweg. »Wie heißen Sie?« »Ernesto sah aus wie er«, stöhnte der Mann. »Ich wollte ihn nicht schlagen …« »Bitte«, rief Stanton noch einmal, »Ihren Namen!« Die Augen des Mannes flackerten. »Ich dachte, Ernesto wäre der Vogelmann. Der Vogelmann hat mir das angetan.« Stanton spürte, wie es ihm bei diesen Worten kalt über den Rücken lief. »Der Vogelmann«, wiederholte er. »Wer ist der Vogelmann?« Der Schwerverletzte stieß einen lang gezogenen Seufzer aus. Die weitere Abfolge der Ereignisse war wie ein Déjà-vu: Nulllinie, scharfe Befehle, Notfallwagen, Defibrillator, Injektionen, laute, aufgeregte Stimmen. Dann Stille. Und der Todeszeitpunkt. *** Chel saß in ihrem Büro im Museum und rauchte die letzte Zigarette aus der Schachtel. Sie hatte noch nie jemanden sterben sehen. Der Anblick des todgeweihten Volcy, der vergebliche Kampf um sein Leben, hatte sie so erschüttert, dass sie aus dem Krankenhaus gelaufen war, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Seit Stunden saß sie einfach nur da, starrte dumpf auf ihren Computermonitor und rief immer wieder die aktualisierten Seiten auf. Sie ging nicht ans Telefon, nahm auch die Anrufe aus dem Krankenhaus, darunter zwei von Stanton, nicht entgegen. Obwohl das Seuchenzentrum wusste, dass Volcy sich vegetarisch ernährt hatte, konzentrierten die Medien ihre Berichterstattung immer noch auf verseuchtes Fleisch als Infektionsherd. In den Blogs jagten sich die Beiträge über das Ende des Maya-Kalenders und hirnrissige Vermutungen darüber, dass es unmöglich ein Zufall sein konnte, dass nur eine Woche vor dem 21. Dezember eine neue Variante des Rinderwahnsinns ein erstes Opfer gefordert hatte. Ein leises Klopfen an der Tür, dann wurde sie einen Spaltbreit geöffnet, und Rolando Chacon steckte den Kopf herein. »Hast du eine Minute Zeit?« Chel winkte ihn herein. Er hatte sie nicht verurteilt, als sie ihm von ihrem Besuch im Krankenhaus erzählt hatte und dass sie die Ärzte belogen hatte über die wahren Gründe, warum Volcy in die Staaten gekommen war. »Wie geht’s dir?«, fragte Rolando und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Chel zuckte mit den Schultern. »Willst du nicht nach Hause und ein bisschen schlafen?« »Nicht nötig, mir geht’s gut«, antwortete sie. »Hast du was für mich?« »Die Ergebnisse der C-14-Datierung sind da: 930 plus/minus 150 Jahre. Wie wir vermutet haben. Ende der klassischen Periode.« Eigentlich hätte das ein Grund zum Jubeln sein müssen. Das war der lang ersehnte Beweis. »Das ist eine großartige Nachricht«, murmelte Chel dumpf. Es war die Bestätigung ihrer langjährigen Forschungsarbeiten, und der Kodex könnte ihnen ein tieferes Verständnis der Geschichte ihres Volkes erschließen. Aber in diesem Moment empfand Chel gar nichts. »Ich bin auch mit der Rekonstruktion des Textes weitergekommen«, fuhr Rolando fort. »Aber es gibt da ein Problem.« Er gab Chel einen Zettel, auf den er zwei Symbole gezeichnet hatte: In der antiken Maya-Sprache wurden sie chit und unen ausgesprochen. »Ein Vater und ein männliches Kind des Vaters«, sagte Chel abwesend. »Ein Vater und sein Sohn.« »Der Schreiber verwendet sie aber nicht in dieser Bedeutung.« Rolando gab ihr einen zweiten Zettel. »Das ist eine grobe Übersetzung des zweiten Absatzes.« Der Vater und sein Sohn ist nicht adlig von Geburt, deshalb gibt es vieles, das dem Vater und seinem Sohn verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das der Vater und sein Sohn nicht hört von den Worten, die die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden. »Er bezieht sich offenbar auf einen einzigen Menschen«, sagte Rolando. »Auf einen Adligen. Einen König. Oder so etwas Ähnliches. Jedenfalls findet sich dieses Symbolpaar in der ganzen Handschrift.« Chel betrachtete die Glyphen genauer. Es war nicht ungewöhnlich, dass Wortpaare zur stilistischen Ausschmückung in einer anderen als der wörtlichen Bedeutung verwendet wurden. Chel vermutete, dass das auch hier der Fall war. »Kann das etwas damit zu tun haben, dass Adelstitel vom Vater auf den Sohn vererbt werden?«, fragte Rolando. »Ein patrilineares Verwandtschaftssystem?« Chel bezweifelte das zwar, aber sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. »Lass mir ein bisschen Zeit, ich muss mir das noch mal genauer ansehen.« Rolando beugte sich vor und tippte mit dem Zeigefinger auf ihren Schreibtisch. »Ich weiß, du hörst das nicht gern, und ich kann deine Bedenken auch verstehen. Wirklich. Aber hier geht es um die Syntax, und auf diesem Gebiet ist Victor nun mal der Beste. Er könnte uns ein großes Stück weiterhelfen. Findest du nicht, dass das wichtiger ist als eure persönlichen Differenzen?« »Wir schaffen das auch allein«, erwiderte Chel störrisch. »Solange wir nicht wissen, was diese Kombination zu bedeuten hat, kommen wir nicht weiter«, wandte Rolando ein. »Allein auf der ersten Seite kommt sie nach dem ersten Absatz zehn Mal vor. Weiter hinten bis zu zwölf Mal auf einer einzigen Seite.« »Ich werde daran arbeiten«, sagte Chel mit Nachdruck. »Danke«, fügte sie hinzu. Rolando nickte und ging zurück ins Labor, und Chel wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Als sie die Homepage der Los Angeles Times aufrief, fand sie neue Artikel über Volcy und das Presbyterian Hospital. Aber noch etwas anderes erregte ihre Aufmerksamkeit: schockierende Fotos von einer grauenhaften Massenkarambolage auf der Schnellstraße 101 mit brennenden, ineinander verkeilten Fahrzeugwracks, aus denen Menschen geborgen wurden. Und mitten in dem rauchenden Trümmerfelds sah man einen grünen Geländewagen. *** Stanton und Davies standen in der Leichenhalle im Keller des Krankenhauses bei den zwei Edelstahltischen, auf denen die Leichen des Unfallfahrers und Volcys lagen. Davies trat an den Tisch mit dem Unfallfahrer. Nachdem er einen Schnitt über den Schädel von einem Ohr zum anderen ausgeführt und die Haut zurückgeklappt hatte, entfernte er die Schädeldecke und legte das Gehirn frei. »Fertig«, sagte er. Stanton durchtrennte die Hirnrinde und das Rückenmark, griff dann in die Hirnschale und nahm das Gehirn heraus, wobei er versuchte zu ignorieren, dass es noch warm war. Irgendwo in den Windungen dieses Organs hoffte er, Aufschluss über VFI zu finden. Er legte das Hirn auf einen sterilen Tisch. Als sie es seziert und einen ersten Blick auf den Thalamus geworfen hatten, bemerkte Stanton das löchrige Gewebe. Unter dem Mikroskop glich es einer Kraterlandschaft. FFI wie aus dem Lehrbuch. Nur sehr viel aggressiver. »Und?«, fragte Davies. »Gib mir eine Sekunde.« Stanton rieb sich die Augen. »Du siehst total fertig aus.« »Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.« »Du siehst echt beschissen aus, Gabe. Du musst dich unbedingt ausruhen, du brauchst ein paar Stunden Schlaf.« »Das brauchen wir alle.« Davies lachte spöttisch. »Ich hab noch genug Zeit zum Schlafen, wenn ich hier liege, so wie die beiden.« »Jetzt hör aber auf.« »Was? Noch zu früh?« Als sie mit dem Unfallfahrer fertig waren, unterzogen sie Volcy der gleichen Prozedur. Wieder setzte sich Stanton ans Mikroskop und drehte den Lichtregler höher. Die Krater in Volcys Hirn waren tiefer, und die Hirnrinde war stärker deformiert. Er war eindeutig derjenige, der sich zuerst infiziert hatte. Stanton hatte das zwar schon vermutet, aber er hatte bislang nicht gewusst, was er mit dieser Information anfangen sollte. »Ich will, dass du alle diese Proben fotografierst«, sagte er zu Davies. »Und wir brauchen die MRTs, die wir von Volcy gemacht haben. Wenn wir sie miteinander vergleichen, können wir feststellen, wie schnell sich der Erreger in seinem Gehirn ausgebreitet hat. Und wenn wir das bestimmen können, können wir auch den ungefähren Zeitpunkt der Infektion bestimmen.« Davies nickte. »Eine Zeitachse.« Wenn es ihnen gelang, den Zeitpunkt der Infektion zu ermitteln, würden sie vielleicht auch herausfinden, wo Volcy sich infiziert hatte. Und mit ein bisschen Glück würde ihnen das Gleiche bei dem Unfallfahrer gelingen. »Soll ich Cavanagh anrufen?«, fragte Davies. Stanton nickte. Der Fahrer war der Schlüssel. Irgendjemand in dieser Stadt musste ihn kennen. Sobald er identifiziert war, würden sie Kontoauszüge und Kreditkartenquittungen haben und wissen, wo er seine Lebensmittel einkaufte, was er aß. Eine Spur aus Papier, die direkt zum Ausgangspunkt führen würde. »Sie ist dran.« Davies hielt ihm sein Handy ans Ohr. Stanton schälte sich das zweite Paar Handschuhe von den Händen und sagte nur ein Wort ins Telefon: »Positiv.« Cavanagh holte tief Luft. »Sind Sie sicher?« »Die gleiche Krankheit, verschiedene Stadien.« »Ich nehme die nächste Maschine. Was brauchen Sie, um die Sache unter Kontrolle zu halten?« »Als Erstes muss der Fahrer identifiziert werden. Wir haben zwei Fälle, und beide waren John Does, als sie eingeliefert wurden.« Der Ford Explorer war nicht registriert, und der Fahrer hatte genau wie Volcy keine Papiere bei sich gehabt. Dieser merkwürdige Zufall beunruhigte Stanton. Was, wenn es gar kein Zufall war? Aber was würde das bedeuten? »Die Polizei ist schon an der Sache dran«, entgegnete Cavanagh. »Was noch?« »Die Öffentlichkeit muss erfahren, dass es einen zweiten Fall gibt, und sie müssen es von uns erfahren, nicht von irgendeinem Blogger, der sich die Hälfte aus den Fingern saugt.« »Falls Sie an eine Pressekonferenz denken, vergessen Sie’s. Dafür ist es zu früh. Jeder in der Stadt wird denken, er hätte sich infiziert.« »Dann sorgen Sie wenigstens dafür, dass in den Läden Milchprodukte und Fleisch aus den Regalen genommen werden. Als reine Vorsichtsmaßnahme. Das USDA soll sämtliche Importe aus Guatemala kontrollieren. Und sagen Sie den Leuten, sie sollen ihre Milch und alles, was sie sonst noch im Kühlschrank haben, wegwerfen.« »Erst wenn wir den Infektionsherd gefunden haben.« »Dann schicken Sie alle unsere Leute her, damit sie die Pupillengröße jedes Patienten in jedem Krankenhaus überprüfen«, erwiderte Stanton aufgebracht. »Und ich rede nicht nur von L.A. Ich rede von Long Beach, Anaheim, der ganzen Region hier. Ich brauche mehr als zwei Messwerte.« »Es sind schon Leute im Einsatz. Lassen Sie die ihren Job machen, okay?« Stanton stellte sich Cavanaghs unbeugsamen Blick vor. Ihr Stern war 2007 aufgegangen, als ein Flugpassagier im Verdacht stand, an antibiotikaresistenter TB erkrankt zu sein. Cavanagh war eine der ganz wenigen im CDC gewesen, die einen kühlen Kopf bewahrten, bis die Gefahr gebannt war. Seitdem war sie bei den hohen Tieren in Washington gut angeschrieben. Aber jetzt war nicht die Zeit, einen kühlen Kopf zu bewahren. »Wie können Sie nur so ruhig bleiben?«, fragte Stanton schließlich. »Einer muss ja ruhig bleiben, wo Sie es schon nicht sind«, erwiderte sie trocken. »Eins hätte ich gern noch gewusst. Wie viel Schlaf haben Sie eigentlich in letzter Zeit gehabt? Ich werde in sechs Stunden da sein, und ich brauche Sie ausgeruht und mit klarem Verstand. Falls Sie nicht geschlafen haben, dann tun Sie’s jetzt.« »Emily, ich –« »Das war kein Vorschlag, Gabe. Das war ein Befehl.« *** Zu Stantons Verwunderung hatte sich in Venice nichts verändert, als er an diesem Abend nach Hause kam. Die Biergärten waren voll wie immer. Unter den Markisen der Einzelhandelsgeschäfte hatten sich die Leute, die kein Dach über dem Kopf hatten, eine Bleibe für die Nacht gesucht. Auf der Strandpromenade wurden immer noch Talismane gegen die bevorstehende Apokalypse verscherbelt. Für kurze Zeit empfand Stanton es als beruhigend, dass das Leben hier seinen gewohnten Gang ging. Kurz nach 23 Uhr stand er in seiner Küche und telefonierte mit dem Direktor der obersten guatemaltekischen Gesundheitsbehörde, Dr. Fernando Alarcon. »Mr Volcy hat uns erzählt, er sei bereits krank gewesen, bevor er über die Grenze gekommen ist«, sagte Stanton. »Das wissen wir mit Sicherheit. Das bedeutet, entlang der panamerikanischen Schnellstraße muss jedes Krankenhaus überprüft werden, jede öffentliche Einrichtung des Gesundheitswesens und jede Arztpraxis, in der Indios behandelt werden.« »Wir haben schon Teams in die fragliche Gegend geschickt«, erwiderte Alarcon. »Obwohl es uns Millionen von Dollar kostet, die wir nicht haben, überprüfen unsere Leute jede Farm in ganz Petén und nehmen Blutproben von den Rindern. Bis jetzt haben sie natürlich nichts gefunden. Keine Spur von irgendwelchen Prionen.« »Noch nicht. Aber Sie verstehen doch, wie dringend die Angelegenheit ist, nicht wahr? Ihnen könnte der Ausbruch einer Epidemie bevorstehen.« »Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Ihr zweiter Patient jemals hier gewesen ist, Dr. Stanton.« Das Foto des zweiten Opfers war in den Abendnachrichten gezeigt worden, aber bisher hatten sich weder Angehörigen noch Freunde des Mannes gemeldet. »Wir konnten ihn noch nicht identifizieren, aber –« Alarcon ließ ihn nicht ausreden. »Wir haben hier keine weiteren Fälle, und es ist verantwortungslos von Ihnen, etwas anderes zu behaupten. Dieser Volcy hat sich nicht hier bei uns infiziert. Aber wir werden natürlich alles tun, was in unserer Macht steht, um Ihnen bei Ihren Nachforschungen behilflich zu sein.« Das Gespräch endete abrupt. Stanton war völlig frustriert. Solange keine Fälle im Land gemeldet wurden, war die Angst in Guatemala nicht groß genug, als dass sie dort entschlossen handeln würden. Aber selbst wenn eine Infektion nachgewiesen werden sollte, war vermutlich nicht viel zu erwarten von einem Land mit einem eher unterentwickelten Gesundheitssystem. Stanton hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss geschoben wurde. Die Haustür sprang auf, Pfoten tappten über den Boden. Stanton eilte ins Wohnzimmer. Nina, in abgetragenen Jeans, einer Windjacke und noch nass glänzenden Überschuhen, lächelte ihn mitfühlend an, während Dogma freudig auf sein Herrchen zu rannte. Nina folgte dem Hund und schlang Stanton die Arme um den Hals. »Na, Captain, hast du den sicheren Hafen angelaufen?« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Schätze, das ist ein guter Platz bis Sonnenaufgang. Du siehst echt beschissen aus, weißt du das?« »Du bist nicht die Erste, die mir das sagt.« Dogma begann zu winseln, und Stanton kraulte ihn und massierte ihm die Ohren mit kreisförmigen Bewegungen. Nina schälte sich aus ihrer Jacke. »Wann hast du eigentlich das letzte Mal was gegessen?« »Keine Ahnung.« Nina winkte ihm, ihr in die Küche zu folgen. »Kommst du freiwillig oder muss ich Gewalt anwenden?« Im Kühlschrank war noch eine halb volle Schachtel vom Chinesen, und Nina machte die Reste in der Mikrowelle warm und brachte Stanton dazu, etwas zu essen. Sie ließ es ihm durchgehen, dass er dabei die Nachrichten hörte. Der Moderator des Nachrichtensenders interviewte einen Pressesprecher des Seuchenzentrums, von dem Stanton noch nie gehört hatte. Ihm war schon nach wenigen Augenblicken klar, dass beide nicht viel Ahnung von Prionenerkrankungen hatten. Stanton verspürte ein Gefühl der Enge in der Brust. »Was ist?«, fragte Nina. Er spielte mit seiner Gabel, quetschte mit den Zinken Flüssigkeit aus den Tofuwürfeln und sagte schließlich: »Das ist erst der Anfang.« Er deutete mit der Gabel in Richtung Radio. »Dann ist es ja gut, dass sie dich haben.« »Die Leute werden bald merken, dass wir keine Ahnung haben, wie wir eine solche Krankheit in den Griff bekommen sollen.« »Du hast sie doch schon lange gewarnt, dass dieser Tag irgendwann kommen würde.« »Ich meine nicht das Seuchenzentrum. Ich meine die anderen Leute, die fragen werden, warum wir noch keinen Impfstoff entwickelt haben. Im Kongress werden sie durchdrehen. Sie werden wissen wollen, was wir seit Ausbruch des Rinderwahnsinns eigentlich getan haben.« »Du hast getan, was du konntest. Wie immer.« Ihre Stimme war so tröstlich, der Ausdruck in ihren Augen so voller Zärtlichkeit. Stanton nahm ihre Hand. Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Er wollte ihr so viel sagen, und er spürte, dass die Ereignisse der letzten zwei Tage etwas in ihr wachgerufen hatten, auch wenn sie es lachend abstritt. Sie konnte ihm nichts vormachen: Sie war ihm dankbar, dass er sie angerufen und gewarnt hatte, das fühlte er. Nina drückte ihre Lippen auf seinen Handrücken. Dann stand sie auf, zog ihn hinter sich her ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Sie setzten sich nebeneinander, und Nina lehnte den Kopf an seine Schulter. Der bekannte Journalist Wolf Blitzer moderierte seine Nachrichtensendung The Situation Room. Die Identität des zweiten Opfers sei nach wie vor ungeklärt, sagte er. »Hast du genug Vorräte an Bord?«, fragte Stanton unvermittelt. »Wofür?«, fragte Nina zurück. »Sei nicht so pessimistisch. Sonst kriegt der Hund noch Depressionen.« Stanton sah sie an und empfand etwas für ihn völlig Neues. Nachdem er zehn Jahre im Labor verbracht, zehn Jahre lang um Forschungsmittel gekämpft, zehn Jahre lang gewarnt hatte, dass ein Ausbruch einer Epidemie jederzeit möglich sei, war jetzt das Unvermeidliche eingetreten, und er wünschte sich in diesem Moment nur, mit Nina und dem Hund auf das Boot zurückzugehen und nie wieder etwas von Prionenkrankheiten zu hören. »Wie wär’s, wenn wir abhauen würden?«, fragte er. Nina hob den Kopf. »Abhauen? Und wohin?« »Was weiß ich. Hawaii?« »Tu das nicht, Gabe.« »Ich mein’s ernst.« Er sah ihr fest in die Augen. »Ich will nichts weiter als mit dir zusammen sein. Alles andere ist mir egal. Ich liebe dich.« Sie lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln. »Ich liebe dich auch.« Stanton beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen, aber Nina wandte das Gesicht ab. »Was ist?«, fragte er. »Du stehst momentan unter enormem Druck, Gabe. Aber du schaffst das, da bin ich mir ganz sicher.« »Ich will es aber zusammen mit dir schaffen. Sag mir, was du willst.« »Gabe, bitte.« Sie sah ihn fast flehend an. »Sag’s mir.« Sie wandte den Blick nicht ab, als sie sprach. »Ich will jemanden, dem es egal ist, wenn er zu spät zur Arbeit kommt, weil wir zu lange im Bett geblieben sind. Jemanden, der wirklich bereit ist, mit mir auf dieses Schiff zu gehen und das alles hinter sich zu lassen. Ich kenne niemanden, der so getrieben ist wie du, und das liebe ich an dir. Aber selbst wenn du mit mir kämst, würdest du spätestens nach zwei Tagen zum Labor zurückschwimmen. Du würdest nie alles im Stich lassen. Und jetzt am allerwenigsten.« Stanton hatte das alles schon einige Male in abgewandelter Form gehört und jedes Mal gedacht, Nina habe das nur erfunden, sie beschreibe einen Mann, den es gar nicht gab, und irgendwann würden ihre Gegensätze sich wieder anziehen. Aber an diesem Abend fiel es ihm schwer, etwas dagegen zu sagen. Nina lehnte den Kopf wieder an seine Schulter. Keiner sagte ein Wort. Es dauerte nicht lange, bis ihre Atemzüge langsamer wurden. Stanton war nicht überrascht – Nina konnte überall und jederzeit schlafen: auf einer Parkbank, im Theater, an einem überfüllten Strand. Er machte ebenfalls die Augen zu. Seine verkrampften Kiefermuskeln lockerten sich. Er überlegte, ob er Davies anrufen und ihn fragen sollte, ob er schon weitergekommen war. Aber der Gedanke wurde weggetragen von einer Welle der Erschöpfung und der Traurigkeit. Am liebsten hätte er Trost in einer tiefen Bewusstlosigkeit gesucht. Aber er konnte nicht einschlafen. Während Minute um Minute verstrich, zählte er im Geist alle Gründe auf, warum er sich nicht infiziert haben konnte: Er hatte seit Monaten keine Milchprodukte und schon seit Jahren kein Fleisch mehr gegessen. Aber jetzt konnte er Cavanaghs Sorge verstehen, wie leicht man sich einbilden konnte, dass man sich mit VFI angesteckt hatte. Stanton stand auf, trug Nina ins Schlafzimmer hinüber und legte sie behutsam auf die Seite des Bettes, die früher ihre gewesen war. Dogma kam hereingetrottet, und obwohl der Hund normalerweise nicht mit ins Bett durfte, klopfte Stanton jetzt mit der flachen Hand ein paar Mal auf die Matratze. Dogma sprang aufs Bett und legte sich neben Nina. Stanton war auf dem Weg ins Arbeitszimmer, wo er seine E-Mails durchsehen wollte, als sein Handy klingelte. Er kannte die auf dem Display angezeigte Nummer nicht. »Dr. Stanton? Hier ist Chel Manu. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch störe.« »Dr. Manu! Wo haben Sie denn gesteckt? Wir haben x-mal versucht, Sie zu erreichen.« »Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde.« Etwas in ihrer Stimme ließ Stanton aufhorchen. »Alles in Ordnung?« »Ich muss mit Ihnen reden.« 10 Die Straßenverkäufer, die die besten Plätze auf der dem Meer zugewandten Seite der Strandpromenade ergattert hatten, hatten ihre Panflöten und ihre Vogelhäuschen und ihre Haschpfeifen in Kisten gepackt und waren verschwunden. Es war kurz nach Mitternacht, und Polizeistreifen vertrieben Obdachlose und die letzten Feiernden vom Strand. Frauen und Männer, alle barfuß, tauchten auf dem dunklen Sand auf, als Stanton die Tür öffnete. Vor ihm stand Chel Manu. Er bat sie mit einer Handbewegung zu den beiden verwitterten Korbsesseln in einer Ecke der Veranda. Vom Strand her schwärmten Leute in ihre Richtung wie frisch geschlüpfte Amphibien auf dem Weg an Land. Einige nickten Stanton im Vorbeigehen zu. Sie waren auf der Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht, bis der Strand am anderen Morgen um fünf wieder geöffnet würde. Ein großer kräftiger Asiate in einem schweren Mantel und einer Tarnhose, der ein Schild trug mit der Aufschrift FEIERT, ALS WÄRE ES 2012, stieg auf die Promenade und ließ sich dann genau gegenüber von Stantons Veranda mitten auf dem Ocean Front Walk auf den Hintern fallen. »Am 13. b’ak’tun ist es zu Ende!« Stanton schüttelte nur den Kopf und wandte sich Chel zu, die den Mann mit einem Ausdruck musterte, den er nicht einordnen konnte. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er schließlich. Ungläubig hörte er zu, als sie ihm von der Handschrift erzählte und warum sie wirklich im Krankenhaus gewesen war. Als sie geendet hatte, musste er sich beherrschen, um sie nicht zu packen und zu schütteln. »Warum zum Teufel haben Sie uns angelogen?«, stieß er hervor. »Weil die Handschrift geraubt wurde und der Besitz strafbar ist. Aber da ist noch etwas, was Sie wissen sollten.« »Was?« »Ich glaube, der Fahrer des grünen Geländewagens, der den schweren Unfall auf der 101 verursacht hat, ist der Mann, von dem ich die Handschrift bekommen habe. Er heißt Hector Gutierrez. Er handelt mit antiken Kunstgegenständen.« »Wie kommen Sie darauf, dass er es war?« »Ich habe gesehen, wie er in genau so einem Wagen von meiner Kirche weggefahren ist.« »Großer Gott«, murmelte Stanton. »War dieser Gutierrez krank, als er bei Ihnen war?« »Eigentlich hat er nur sehr nervös auf mich gewirkt, aber ich kann mich auch täuschen.« Stanton dachte über diese Informationen nach. »Ist Gutierrez je in Guatemala gewesen?« »Keine Ahnung. Gut möglich.« Ein Gedanke durchzuckte Stanton. »Augenblick mal. Sie sagten, Volcy sei schon krank gewesen, bevor er hierherkam. War das auch gelogen?« Chel schüttelte den Kopf. »Nein, das hat er mir erzählt. Aber er war nicht im Dschungel, um zu meditieren«, fuhr sie kleinlaut fort. »Er hatte die Überreste eines Tempels entdeckt und das Buch von dort gestohlen. Und da, in der Nähe des Tempels, haben auch seine Schlafstörungen angefangen. Aber dass er ein Jahr lang kein Fleisch gegessen hat, das stimmt.« Stanton war außer sich vor Wut. »Die guatemaltekischen Behörden haben aufgrund Ihrer Informationen Teams losgeschickt, die jede Milchfarm in Petén überprüfen. Sie halten das Ganze jetzt schon für reine Zeit-und Geldverschwendung. Und jetzt müssen wir ihnen sagen, dass unsere Dolmetscherin uns leider belogen hat und sie stattdessen doch bitteschön im Dschungel nach Ruinen suchen sollen?« Ein Skateboardfahrer, der auf der Promenade vorbeirollte, rief ihm zu: »Entspann dich, Bruder!« »Ich werde der Einwanderungsbehörde alles erzählen«, flüsterte Chel, als der Jugendliche außer Hörweite war. »Scheiß auf die Behörden! Hier geht es um die öffentliche Sicherheit! Wenn Sie uns nicht angelogen hätten, hätten wir dem Mann noch mehr Fragen stellen können, und wir könnten den Dschungel jetzt auf der Suche nach dem wahren Infektionsherd durchkämmen!« Chel fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar. »Ja, das ist mir jetzt auch klar.« Stanton atmete tief durch. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, fragte er: »Was hat er Ihnen sonst noch erzählt?« »Er hat gesagt, der Tempel sei einen Dreitagesmarsch von seinem Dorf in Petén entfernt. Also wahrscheinlich weniger als hundert Meilen.« »Wo genau liegt sein Dorf?« Die Meeresbrise wehte Chel ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. »Das hat er nicht gesagt.« »Also müssen wir den Infektionsherd wahrscheinlich in der Nähe dieser Ruinen suchen. Irgendeine kranke Kuh, deren Milch weiß Gott wohin transportiert wird. Der Erreger könnte sogar ins Trinkwasser gelangen. Was wissen wir denn schon?« Stanton schwieg einen Augenblick. »Hat er irgendeine Andeutung gemacht, die uns weiterhelfen könnte? Irgendetwas?« Chel schüttelte den Kopf. »Er hat mir nur noch erzählt, dass sein Krafttier ein Falke ist und dass er eine Frau und eine Tochter hat.« »Was ist ein Krafttier?« »Jedem Maya wird bei seiner Geburt ein Tier zugeordnet. Seines ist Chuyum-thul, hat er gesagt. Der Falke.« Stanton sah den sterbenden Gutierrez in der Notaufnahme vor sich. »Gutierrez hat gesagt: ›Der Vogelmann hat mir das angetan.‹ Ich glaube, er hat Volcy die Schuld gegeben, dass er krank geworden ist.« »Warum sollte er das tun?« »Vielleicht hat Volcy irgendein Nahrungsmittel über die Grenze mitgebracht, ohne zu ahnen, dass es das war, was ihn krank gemacht hat.« »Und was könnte das sein?« »Sagen Sie’s mir«, erwiderte Stanton. »Was würde ein Maya jemandem geben, mit dem er Geschäfte macht? Was könnte Gutierrez gegessen oder getrunken haben, das Milch oder ein verwandtes Produkt enthält?« »Da gibt es viele Möglichkeiten«, meinte sie nachdenklich. Stanton sprang auf. »Wir treffen uns hinter dem Haus bei meinem Auto«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und stieß die Haustür auf. »Wieso?« »Weil wir das herausfinden werden, bevor Sie zur Polizei gehen.« 11 Selbst jetzt, als sie neben Stanton im Auto saß, konnte Chel an nichts anderes denken als an die alte Handschrift und daran, dass sie sie wahrscheinlich nie wiedersehen und dass sie nie die Gelegenheit bekommen würde, herauszufinden, wer der Schreiber war und warum er sich seinem König widersetzt und damit sein Leben riskiert hatte. Was sagte das über sie aus? Was sagte es über sie aus, dass sie sich selbst jetzt noch auf die falschen Dinge im Leben konzentrierte? Stanton strafte sie mit Verachtung. Er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Krankheiten zu erforschen und sie zu bekämpfen, und sie hatte durch ihre kleine akademische Übung die ganze Stadt in Gefahr gebracht. Merkwürdigerweise war es Patricks Stimme, die sie jetzt in ihrem Kopf hören konnte. Sie waren zu einer Konferenz über die Erfassung und Auswertung der Maya-Glyphen nach Charlottesville in Virginia gefahren und hatten anschließend eine Wanderung über den Appalachian Trail geplant. Doch dann bekam Chel den Vorsitz in einem weiteren Gremium angeboten. Sie sagte zu, und die Wanderung musste ausfallen. »Irgendwann wirst du erkennen, dass du viel zu große Opfer für deine Arbeit gebracht hast, aber dann ist es zu spät«, hatte Patrick zu ihr gesagt. Damals hatte Chel gedacht, er habe das aus Trotz gesagt und es werde sich schon wieder einrenken, so wie all die Male zuvor. Aber vier Wochen später war er ausgezogen. Chel rutschte auf dem Beifahrersitz herum. Irgendetwas blieb an ihrem Absatz hängen. Sie bückte sich: eine Hundeleine. Dem Halsband nach zu schließen war es kein kleiner Hund. »Werfen Sie sie nach hinten«, sagte Stanton, doch es schwang keine Wärme in seiner Stimme mit. Es war das erste Mal, dass er etwas sagte, seit sie ins Auto gestiegen waren, um Richtung Süden zu fahren. Chel sah verstohlen zu ihm hinüber. Er hatte beide Hände am Lenkrad wie ein Fahrschüler. Wahrscheinlich gehörte er zu den Leuten, die nie gegen irgendwelche Regeln verstießen. Er machte einen strengen, ernsten Eindruck auf sie, und sie fragte sich, ob er wirklich so einsam war, wie er wirkte. Aber andererseits hatte er wenigstens einen Hund. Chel starrte durch die Windschutzscheibe auf den von Reklametafeln gesäumten Pacific Coast Highway hinaus. Vielleicht würde sie sich auch ein Haustier anschaffen, wenn sie ihre Stelle im Museum verlor und mehr Freizeit hätte. »Geben Sie sie her«, forderte Stanton sie barsch auf. Sie schrak zusammen. »Was?« Dann merkte sie, dass sie die Leine immer noch in der Hand hielt. Stanton nahm sie ihr ab, warf sie nach hinten auf die Rückbank und trat das Gaspedal weiter durch. Chel hatte sich daran erinnert, dass Hector Gutierrez in Inglewood, nördlich des Flughafens, wohnte. Sie wusste nicht, worauf sie sich einstellen sollte, als sie vor dem zweigeschossigen Haus hielten. Vielleicht wusste Gutierrez’ Familie noch gar nicht, was passiert war; bis jetzt hatte sich noch niemand gemeldet, um ihn zu identifizieren. Stanton stellte den Motor ab. »Gehen wir.« Er klopfte an die Haustür. Eine Minute später ging drinnen ein Licht an. Die Frau, die ihnen öffnete, eine Latina mit pechschwarzen Haaren, trug einen langen marineblauen Morgenmantel. Ihre Augen waren ganz verquollen, so als hätte sie geweint. Sie wusste also schon Bescheid. Und Chel verstand auch, warum sie sich nicht bei den Behörden gemeldet hatte: Die Frau hatte nicht nur ihren Ehemann verloren, sie würde auch alles andere verlieren, wenn die Einwanderungs- und Zollbehörde und das FBI hinter Gutierrez’ illegalen Handel mit Antiquitäten kamen. Einnahmen aus Schwarzmarktgeschäften wurden unbarmherzig beschlagnahmt. »Mrs Gutierrez?« »Ja?« »Ich bin Dr. Stanton vom Seuchenzentrum CDC. Das ist Chel Manu, sie hatte geschäftlich mit Ihrem Mann zu tun. Wir müssen Ihnen leider eine schlechte Nachricht bringen, Mrs Gutierrez. Wussten Sie, dass Ihr Mann in einen schweren Autounfall verwickelt war?« Maria nickte langsam. »Dürfen wir reinkommen?«, fragte Stanton. »Lieber nicht«, antwortete sie. »Mein Sohn ist gerade eingeschlafen.« »Mrs Gutierrez, wir möchten Ihnen unser Beileid ausdrücken«, sagte Stanton. »Das ist eine schwere Zeit für Sie, und ich habe nur eine ungefähre Ahnung davon, was Sie und Ihr Sohn gerade durchmachen, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.« Als sie zögernd nickte, fuhr er fort: »Ihr Mann war sehr krank, nicht wahr?« »Ja.« »Und Sie? Leiden Sie in letzter Zeit an Schlafstörungen?« »Mein Mann hat die letzten vier Nächte nicht mehr geschlafen. Und jetzt muss ich meinem Sohn erklären, dass sein Vater tot ist. Da ist es doch nur normal, dass ich die letzten Tage nicht besonders gut geschlafen habe.« »Schwitzen Sie übermäßig?« »Nein.« »Haben Sie von den Vorfällen im Presbyterian Hospital gehört?« »In den Nachrichten, ja.« »Der Patient ist heute gestorben, und wir wissen inzwischen, dass er die gleiche Krankheit hatte wie Ihr Mann. Wir vermuten, dass der Erreger durch ein Nahrungsmittel übertragen wird, und wir gehen auch davon aus, dass es eine Verbindung zwischen diesem Mann aus Guatemala und Ihrem Mann geben muss. Sagt Ihnen der Name Volcy etwas? Wissen Sie, ob Ihr Mann geschäftlich mit ihm zu tun hatte?« Maria schüttelte den Kopf. »Ich wusste nichts über Hectors Geschäfte.« »Wir müssen uns in Ihrem Haus umsehen, Mrs Gutierrez. Vielleicht finden wir irgendeinen Anhaltspunkt. Und wir müssen Proben von den Lebensmitteln in Ihrem Kühlschrank nehmen.« Maria schlug die Hände vors Gesicht, als könnte sie den Anblick der beiden Besucher nicht mehr ertragen. Müde rieb sie sich die Augen. »Es ist wirklich wichtig, Mrs Gutierrez«, sagte Stanton beschwörend. »Sie müssen uns helfen.« »Nein«, erwiderte Maria leise. »Bitte gehen Sie.« Jetzt mischte Chel sich ein. »Mrs Gutierrez, gestern Morgen ist Ihr Mann zu mir gekommen und hat mich gebeten, einen gestohlenen Gegenstand für ihn aufzubewahren. Und ich habe es getan. Ich habe es getan, und dann habe ich es verschwiegen, und jetzt stellt sich heraus, dass sich möglicherweise noch mehr Leute infiziert haben, und das nur, weil ich nicht gleich die Wahrheit gesagt habe. Ich muss damit leben. Sie nicht, wenn Sie jetzt auf uns hören. Bitte lassen Sie uns ins Haus.« Sie sprach mit solcher Bestimmtheit, dass Stanton sich erstaunt wieder zu ihr hinwandte. Maria trat zur Seite und ließ sie hinein. *** Sie folgten ihr durch einen schmalen Gang. An den Wänden hingen Fotos von Fußballspielen und Gartengeburtstagspartys. In der Küche räumte Stanton den Kühlschrank aus, während Chel sich die Vorratsschränke vornahm. Von den über zwanzig Lebensmitteln, die schließlich auf der Arbeitsfläche lagen, enthielten zwar etliche Milch, aber kein einziges Produkt stammte aus Guatemala, keines war importiert worden oder sonst irgendwie auffällig. Stanton klappte den Mülleimer auf und durchsuchte die Abfälle, aber auch dort war nichts Ungewöhnliches zu finden. »Hatte Ihr Mann einen Arbeitsplatz oder ein Arbeitszimmer hier im Haus?«, fragte er. Maria führte sie zu dem Arbeitszimmer am anderen Ende des Hauses. Eine fleckige weiße Couch, ein Metallschreibtisch, ein paar schmale Bücherregale auf einem unechten Orientteppich. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch. Das ganze Haus war eine Huldigung an die Familie, aber hier drin gab es nicht ein einziges Bild. Was immer er hier gemacht hatte, Guiterrez wollte jedenfalls nicht, dass seine Frau oder sein Sohn ihm dabei zusahen. Stanton fing mit den Schreibtischschubladen an. Er fand Büromaterial, haufenweise Rechnungen, Unterlagen über eine Hypothek auf das Haus, Gehaltsabrechnungen, Bedienungsanleitungen für Elektrogeräte. Chel setzte ihre Brille auf und nahm sich den Computer vor. »Heutzutage gibt es keinen Händler mehr, der seine Ware nicht online anbietet«, sagte sie. Sie gab ebay.com ein. Ein Log-in-Feld HGVerkäufer ging auf, ein Passwort wurde verlangt. »Versuchen Sie’s mit Ernesto«, sagte Maria, die in der Tür stehen geblieben war. Es funktionierte. Eine Liste mit verschiedenen Objekten erschien auf dem Monitor. 1.  Echter präkolumbianischer Feuerstein verkauft – $ 1,472.00 2.  Teil eines Maya-Sarkophags Versteigerung abgelaufen – $ 1,200.00 3.  Echtes steinernes Maya-Pflanzgefäß verkauft – $ 904.00 4.  Maya-Halskette, Jade verkauft – $ 1,895.00 5.  Honduranisches Tongefäß Versteigerung abgelaufen – $ 280.00 6.  Klassische Maya-Jaguarschale verkauft – $ 1,400.00 »Da ist alles gespeichert, was er in den letzten zwei Monaten angeboten hat«, sagte Chel, als sie die Liste überflogen hatte. Stanton blickte ihr über die Schulter. »Ja, das ist das, was er verkauft hat. Aber die Handschrift hat er gekauft. Wie kommen wir da ran? Müssen wir uns dafür in Volcys Account einloggen? Und woher kann Volcy überhaupt gewusst haben, wie so ein Online-Handel funktioniert? Wo kann er an einen Computer rangekommen sein?« »Oh, da unten weiß jeder, wie so was funktioniert«, erwiderte Chel. »Die Leute nehmen eine Reise von mehreren Tagen in Kauf, um an einen Computer zu kommen, wenn sie etwas zu verkaufen haben. Aber er hätte eine alte Handschrift niemals über eBay verkauft. Das wäre viel zu riskant. Das Teuerste hier kostet nicht mehr als fünfzehnhundert Dollar – die Leute bezahlen nicht jeden Preis für etwas, was sie online kaufen. Wer also etwas wirklich Hochpreisiges anzubieten hat, stellt über eBay den Kontakt her und wickelt das Geschäft dann persönlich ab.« Sie klickte auf ein Feld ganz oben. Ein E-Mail-Fenster ging auf. Im Posteingang hatten sich fast tausend Nachrichten angesammelt. Bei den meisten ging es um die Objekte, die Gutierrez aufgelistet hatte. Andere Mails enthielten Angaben zu Ort und Datum und Uhrzeit – offenbar geplante Treffen mit Leuten, die Waren anzubieten hatten. »Sie benutzen alle ein Pseudonym«, sagte Chel. »Wie können wir herausfinden, wer von ihnen Volcy ist?« Stanton sah Maria an. Die zuckte mit den Schultern. »Schauen Sie mal.« Chel bewegte den Cursor über eine Nachricht, die eine Woche zuvor von einem gewissen Chuyum-thul gesendet worden war. Der Falke. Von: Chuyum-thul Gesendet: 4. 12. 2012, 10 Uhr 25 Etwas sehr Kostbares ich besitzen, Sie bestimmt werden haben wollen. Erreichbar Telefon +55-55 47 70 73 83 »Klingt, als ob der Computer das für ihn übersetzt hätte«, meinte Chel. »Was für eine Ländervorwahl ist 55?«, fragte Stanton. »Mexico City«, antwortete sie. »Ein heißer Umschlagplatz für Antiquitäten. Wenn irgendwo ein guter Preis für das Buch zu erzielen wäre, dann dort. Volcy muss das gewusst haben. Und wenn er es dort nicht verkaufen könnte, würde er es über die Grenze in die Staaten schaffen.« Von oben war das Weinen eines Kindes zu hören. Maria drehte sich um und eilte davon. Stanton und Chel wechselten einen mitleidigen Blick. Schließlich entdeckte Chel eine an Chuyum-thul gerichtete Nachricht. Der Kreis begann sich zu schließen. Von : HGVerkäufer Gesendet: 5. 12. 2012, 14 Uhr 47 Donnerstag, 6. 12. 2012 AG Flug 224 Abflug Mexico City, Mexiko (MEX) 6 Uhr 05 Ankunft Los Angeles, CA (LAX) 9 Uhr 12 Montag, 10. Dezember 2012 AG Flug 126 Abflug Los Angeles, CA (LAX) 7 Uhr 20 Ankunft Mexico City, Mexiko (MEX) 12 Uhr 05 »Gutierrez muss Volcy das Ticket besorgt haben«, sagte Chel. Stanton nickte. Er brachte die Ereignisse in eine chronologische Reihenfolge. Volcy stieg in Mexiko ins Flugzeug, verkaufte Gutierrez das Buch und nahm sich dann ein Motelzimmer, wo er die Zeit bis zu seinem Rückflug abwarten wollte. Aber dann rief jemand die Polizei, und er wurde ins Krankenhaus gebracht. Die gebuchte Maschine flog ohne ihn ab. »Was ist mit dem Geld passiert, das Gutierrez ihm gezahlt hat?«, fragte Stanton. »Die Polizei hat kein Geld in dem Motelzimmer gefunden.« »Er hätte es bestimmt nicht riskiert, mit so einem Haufen Bargeld die Grenze zu überqueren«, wandte Chel ein. »Wahrscheinlich hat er es hier bei einer Bank eingezahlt, die Filialen in Mittelamerika hat.« Wieder nickte Stanton. Er überflog noch einmal die E-Mail mit den Flugdaten. AG Flug 126. Das kam ihm seltsam bekannt vor. Er wandte sich um, weil er hoffte, Maria hätte eine Erklärung, aber sie war anscheinend immer noch oben bei ihrem Sohn. Dann fiel es ihm schlagartig ein. »AG Flug 126! Die Maschine ist gestern Morgen abgestürzt!« Chel schaute auf. »Was reden Sie da?« Stanton zog sein Smartphone aus der Tasche und zeigte es ihr: Aero Globale 126 war die Maschine, die in den Pazifik gestürzt war. »Ist das Zufall?« Stanton schüttelte den Kopf. »Da muss es irgendeinen Zusammenhang geben.« »Volcy ist doch gar nicht ins Flugzeug gestiegen.« »Das nicht. Aber was, wenn er den Absturz herbeigeführt hat?« »Wie denn?« Stantons Gedanken überschlugen sich. Es konnte nur eine logische Erklärung geben. Als Absturzursache wurde menschliches Versagen vermutet, das war in den Nachrichten immer wieder gemeldet worden. »Volcy war an Bord der ersten Maschine«, sagte Stanton. »Piloten fliegen normalerweise eine Route hin und zurück. Was, wenn der Pilot der Unglücksmaschine auch die Maschine von Mexico City nach L.A. geflogen hat, mit der Volcy gekommen ist? Volcy hätte auf dem Hinflug mit dem Piloten in Kontakt kommen können.« Chel runzelte die Stirn. »Sie meinen, Volcy hat dem Piloten etwas gegeben, das verseucht war?« Aber Stanton zog bereits eine ganz andere Möglichkeit in Betracht, die sehr viel erschreckender war. Er dachte an die Ausbreitung von Tuberkulose. Oder von Ebola. Wenn zwei Personen, die Kontakt zu Volcy gehabt hatten, sich an zwei verschiedenen Orten infizierten, gab es epidemiologisch nur eine einzige Erklärung dafür. Stanton fühlte sich seltsam benommen, als er sagte: »Volcy infiziert sich in Guatemala, steigt in Mexico City ins Flugzeug und kommt in Kontakt mit dem Piloten. Er gibt Volcy die Hand, als dieser die Maschine verlässt, und das Prion wird übertragen. Volcy trifft sich mit Gutierrez. Vielleicht schütteln sie sich ebenfalls die Hand, sie schließen ihr Geschäft ab, dann trennen sich ihre Wege. Einen Tag später wird der Pilot krank. Dann wird auch Gutierrez krank. Wenige Tage danach stürzt die von dem kranken Piloten geflogene Maschine ab, und Gutierrez verunglückt mit dem Auto.« Chel machte ein ratloses Gesicht. »Aber was war der Infektionsherd?« »Volcy!« Stanton lief schon zur Tür. »Volcy selbst war der Infektionsherd!« Oben hörte man wieder den Jungen weinen. Stanton rannte zur Treppe und schrie zu Maria hinauf, sie dürfe auf keinen Fall irgendetwas anfassen im Haus. 12.19.19.17.11 – 13. DEZEMBER 2012 12 Jeder, der mit den Opfern in Berührung gekommen war, musste ermittelt und unter Quarantäne gestellt werden. Die Öffentlichkeit musste informiert, die Verwendung von Schutzmasken dringend angeraten werden. Flüge mussten gestrichen, öffentliche Veranstaltungen abgesagt werden. Falls ihnen der Nachweis gelang, dass diese absolut tödlich verlaufende Krankheit wirklich ansteckend war, dann war nach Stantons Meinung keine Maßnahme zu extrem. Innerhalb weniger Minuten hatte er von der Gesellschaft für Flugsicherheit die Bestätigung bekommen, dass Joseph Zarrow, der Pilot der in den Pazifik gestürzten Maschine, vier Tage zuvor auch die Maschine von Mexico City nach L.A. geflogen hatte. Der Begriff »menschliches Versagen« bekam plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Aber bevor sie die Öffentlichkeit alarmieren und in Panik versetzen würden, musste der wissenschaftliche Nachweis erbracht werden, dass VFI tatsächlich durch flüchtigen Kontakt von Mensch zu Mensch übertragen wurde. Stanton hatte sein ganzes Team mitten in der Nacht geweckt und ins Labor des Zentrums für Prionenforschung zitiert. Es war kurz nach fünf Uhr morgens, als er in Schutzanzug, Handschuhen und Atemmaske mit seinen Kollegen unter der Schutzabdeckung stand, in der Hand die kurz zuvor hergestellte Lösung, die, wie er hoffte, mit dem Prion reagieren würde, wo immer es sich auch versteckte. Krankheitserreger konnten sich bei flüchtigem Kontakt nur auf ein paar Wegen ausbreiten, nämlich durch Tröpfcheninfektion durch Körperflüssigkeit aus Nase oder Mund. Stanton musste herausfinden, ob die Krankheit durch Speichel, Nasenschleim oder Sputum aus der Lunge übertragen wurde – und wie VFI vom Gehirn in Mund, Nase oder Lunge wanderte. Als Erstes gab er mit einer Pipette einen Tropfen der Körpersekrete beider Opfer auf Objektträger und fügte dann das Reagens hinzu. Zuerst begann er mit den Speichelproben. Nachdem er sie mit äußerster Gründlichkeit untersucht hatte, wandte er sich zu Davies um und schüttelte den Kopf. »Negativ.« Er wiederholte das Verfahren beim Sputum. Durch das Abhusten von Erregern aus Hals und Lunge wurde eine Reihe von Krankheiten übertragen, darunter so lebensbedrohliche wie Tuberkulose. Doch auch diese Proben waren alle negativ. »Dann funktioniert die Ansteckung wie bei einer hundsgewöhnlichen Erkältung«, sagte Davies. Doch nachdem Stanton die mit Nasensekret präparierten Objektträger drei Mal kontrolliert und wieder nichts gefunden hatte, war er ernsthaft beunruhigt. »Wie zum Teufel wird das Zeug übertragen?«, fragte Davies fassungslos. »Das ergibt keinen Sinn«, sagte Jiao Chen. »Wir können uns doch nicht geirrt haben mit unserer Theorie.« Stanton, der einen Moment verwirrt die Augen geschlossen hatte, stand auf. »Die Proben können sich aber auch nicht geirrt haben.« Wenn sie den Infektionsweg der Prionen nicht nachweisen konnten, würde es ihm nicht gelingen, Atlanta davon zu überzeugen, entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Stanton ging im Geist noch einmal alles von vorn durch. Hatte seine Gedankenkette eine Schwachstelle? Aber wenn das Prion durch flüchtigen Kontakt übertragen wurde, dann nur durch ein Körpersekret. Dennoch hatte sich in keiner einzigen untersuchten Probe das Prionen-Protein nachweisen lassen. Das Telefon klingelte. »Das ist Cavanagh«, sagte Davies. »Was soll ich ihr sagen?« Im Labor herrschte angespanntes Schweigen, während das Team auf Stantons Antwort wartete. Alle trugen Schutzmasken, die die untere Gesichtshälfte verdeckten, aber aus ihren Augen sprachen Sorge und Erschöpfung. Seit Volcy obduziert worden war und die Diagnose feststand, hatten sie kaum noch geschlafen. Jiao Chen nahm ihre Brille ab und rieb sich müde die Augen. »Vielleicht haben wir mit den Präparaten etwas falsch gemacht.« Jiao hatte neben Stanton am wenigsten geschlafen. Stanton sah, wie sie mit den Fingerspitzen kleine kreisende Bewegungen auf den Lidern vollführte und dann die Handflächen auf ihr von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht legte und langsam über die Wangen nach unten gleiten ließ. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Er schnappte das Telefon und rief aufgeregt hinein: »Emily, es sind die Augen!« *** Krankheitserreger, die durch die Augen übertragen wurden, waren so selten, dass selbst Chirurgen bei Operationen oft auf Schutzbrillen verzichteten. Als Stanton und sein Team jetzt aber die Tränenflüssigkeit der beiden Opfer untersuchten, fanden sie Prionen in einer ähnlich hohen Konzentration wie im Hirngewebe. Die Übertragung begann, wenn ein an VFI Erkrankter sich an die Augen fasste. Das Prion gelangte an seine Hände; dann schüttelte er jemandem die Hand oder berührte eine Oberfläche, die wiederum von jemandem angefasst wurde, und schon begann der Kreislauf. Ein Mensch fasste sich über hundert Mal am Tag ins Gesicht, und durch die Schlaflosigkeit wurde alles noch schlimmer: Je müder ein Infizierter wurde, desto öfter gähnte er und rieb sich die Augen. Bei jemandem, der rund um die Uhr wach war, hatte die Krankheit acht Stunden zusätzlich, um sich auszubreiten. So wie bei einer normalen Erkältung die Nase lief und die Erreger dann durch Schleim weiter übertragen wurden, so wie Malaria Müdigkeit verursachte und so noch mehr Moskitos über ihre schlafenden Opfer herfallen und deren Blut saugen konnten, so hatte sich auch VFI den idealen Krankheitsüberträger selbst geschaffen. *** Das Seuchenzentrum setzte sich mit jedem in Verbindung, der Kontakt zu Volcy, Gutierrez oder Zarrow gehabt haben könnte, und das Ergebnis war beängstigend. Eine Stewardess, zwei Copiloten, zwei Passagiere der Aero Globale sowie der Besitzer des Super-8-Motels und drei Gäste waren die ersten Opfer der zweiten Welle. Um die Mittagszeit fiel zum ersten Mal das Wort Epidemie. Die schlimmste Nachricht erreichte sie aus dem Presbyterian Hospital. Sechs Schwestern, zwei Ärzte aus der Notaufnahme und drei Pfleger litten seit zwei Nächten an Schlaflosigkeit. Es stellte sich heraus, dass ein vor Jahren entwickelter Test zum Nachweis von Prionen im Blut von Schafen als grober Indikator von VFI dienen konnte noch vor dem Auftreten der ersten Symptome. Schon mehrere untersuchte Blutproben waren positiv. Stanton wurde von Schuldgefühlen gequält, weil er erst so spät erkannt hatte, dass das Prion ansteckend war. Und er hatte Angst, dass er sich selbst infiziert hatte. Das Ergebnis seines Bluttests stand noch aus, aber man ließ ihn unter der Bedingung, dass er ständig einen Schutzanzug trug, weiter seine Arbeit machen. Seit der vergangenen Nacht hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich überhaupt zum Schlafen hinzulegen. Als Stanton zum Presbyterian zurückkam, musste er sich in seinem luftdichten gelben Schutzanzug schwitzend und schwerfällig durch die Massen verzweifelter Menschen kämpfen, die in die Notaufnahme drängten. Über hundert Personen wurden aufgrund ihrer Symptome bereits zu den möglicherweise Infizierten gerechnet, und die Panik, die Cavanagh prophezeit hatte, war nach der Pressekonferenz des Seuchenzentrums tatsächlich ausgebrochen. Normalerweise litt jeder dritte erwachsene Amerikaner an Schlaflosigkeit. Jetzt stürmten Tausende in Los Angeles sämtliche Krankenhäuser der Stadt, weil sie überzeugt waren, sie hätten sich angesteckt. »Es tut mir leid, dass Sie so lange warten müssen«, wandte sich ein Beamter des Seuchenzentrums an die achtzig Personen, die Primärkontakt hatten. »Die Ärzte arbeiten so schnell sie können; das Ergebnis der Blutuntersuchungen liegt in Kürze vor. Bitte behalten Sie bis dahin Ihre Masken und Ihren Augenschutz auf. Achten Sie darauf, dass Sie auf keinen Fall Ihre Augen oder Ihr Gesicht berühren.« Während Stanton sich den Weg durch die Notaufnahme bahnte, nagte in einem fort der Gedanke an ihm, dass er, Thane und Chel Manu direkteren Kontakt zu den Infizierten gehabt hatten als irgendjemand sonst hier. »Ich kann so gut wie nie schlafen«, rief ein älterer Mann. »Wie können die da herausfinden, ob ich es habe?« »Erzählen Sie den Ärzten alles über Ihr normales Schlafverhalten«, erwiderte der Beamte vom CDC. »Und alles, was sonst noch wichtig sein könnte.« »Hier wimmelt es doch nur so von Keimen«, sagte eine Latina mit einem Baby auf dem Arm. »Wenn wir bis jetzt noch nicht krank sind, dann werden wir es hier!« »Nehmen Sie den Augenschutz auf keinen Fall ab«, riet der Mann vom CDC. »Berühren Sie Ihre Augen nicht und fassen Sie auch sonst nichts an, dann kann Ihnen nichts passieren.« Die Schutzbrillen spielten eine wichtige Rolle bei der Eindämmung der Krankheit. Das CDC riet aber vorsichtshalber auch zu einem Mundschutz. Doch Stanton hielt beide Maßnahmen für unzureichend. Er hatte eine E-Mail an sämtliche Abteilungen des CDC geschickt, in der er sich dafür aussprach, die Öffentlichkeit lückenlos aufzuklären, eine achtundvierzigstündige Ausgangssperre zu verhängen und das Tragen von Schutzbrillen in allen Schulen der Stadt zur Pflicht zu machen, bis es ihnen gelungen wäre, die Ausbreitung des Erregers einzudämmen. Stanton ging weiter zur provisorischen Koordinierungsstelle des CDC im hinteren Teil des Krankenhauses. Bestimmungen des Gesundheitsministeriums hingen an jeder Wand, wo sie die abblätternde Farbe überdeckten. Mehr als dreißig Beamte des Epidemic Intelligence Service, Verwaltungsangestellte und außerdem Krankenschwestern vom CDC hatten sich in dem kleinen Besprechungsraum versammelt, und alle trugen Mund- und Augenschutz. Stanton war der Einzige in einem luftdichten Schutzanzug, was ihm besorgte bis misstrauische Blicke eintrug – jeder wusste natürlich, was diese Kleidung möglicherweise zu bedeuten hatte. Die ranghöchsten Ärzte saßen an einem Tisch in der Mitte des Raumes. Die stellvertretende Direktorin des Seuchenzentrums, Emily Cavanagh, leitete die Besprechung. Sie hatte ihre langen weißen Haare straff nach hinten gebunden, und ihre blauen Augen hinter der Schutzbrille strahlten. Obwohl sie schon über dreißig Jahre im Dienst des CDC stand, war ihre Stirn glatt und faltenlos. Stanton dachte manchmal bei sich, dass sie vielleicht schlichtweg befohlen hatte, ihre Stirn sollte keine Falten bekommen. »Im Lauf des Vormittags werden zweihunderttausend Schutzbrillen eintreffen. Per Flugzeug und per Lkw«, sagte Cavanagh. Stanton, in seinem plumpen Schutzanzug ein fast schon komischer Anblick, zwängte sich auf den Stuhl neben ihr. »Und bis übermorgen bekommen wir noch einmal fünfzigtausend«, warf jemand hinter ihnen ein. »Wir brauchen vier Millionen«, sagte Stanton in das kleine Mikrofon in seinem Helm. »Na ja, die zweihundertfünfzigtausend, die wir kriegen werden, müssen reichen«, erwiderte Cavanagh. »Das Pflegepersonal wird als Erstes ausgestattet, das versteht sich von selbst. Dann jeder, der irgendeine Verbindung mit einem Infizierten hat, und der Rest geht an die Verteilerzentren und wird nach dem Motto ausgegeben: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das Letzte, was wir brauchen, ist eine Panik, die eine Massenflucht zur Folge hätte. Dann würde sich der Erreger bald im ganzen Land ausbreiten.« »Wir müssen eine Quarantäne in Erwägung ziehen«, sagte Stanton. »Was glauben Sie, was wir hier machen?«, versetzte Katherine Leeds von der Abteilung Virologie. Leeds war ein winziges Persönchen, aber eine knallharte Frau. Sie und Stanton waren im Lauf der Jahre viele Male aneinandergeraten. »Das Presbyterian steht bereits unter Quarantäne, und wir sind dabei, sie auf andere Krankenhäuser auszuweiten.« »Ich rede nicht von den Krankenhäusern.« Stanton sah die Ärzte am Tisch nacheinander an. »Ich rede von der ganzen Stadt.« Ein gedämpftes Raunen ging durch den Raum. »Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, was passieren würde, wenn man zehn Millionen Menschen sagt, sie dürften die Stadt nicht verlassen?«, sagte Leeds. »Es hat schon seinen Grund, warum man das noch nie getan hat.« »Die Zahl der Infizierten könnte morgen auf tausend steigen«, erwiderte Stanton ungerührt. »Und übermorgen auf fünftausend. Die Menschen werden aus der Stadt fliehen, und einige werden den Erreger schon in sich tragen. Wenn wir das nicht verhindern, wird sich VFI bis Ende der Woche im ganzen Land ausgebreitet haben.« Leeds schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es machbar wäre, es würde mit Sicherheit gegen die Verfassung verstoßen.« »Hören Sie«, sagte Stanton beschwörend, »wir reden hier von einer Krankheit, die übertragen wird wie eine Erkältung, die aber so tödlich ist wie Ebola und die man von einem Krankheitsüberträger nicht mehr wegkriegt. Der Erreger stirbt nicht ab wie ein Bakterium und kann nicht zerstört werden wie ein Virus.« Während die meisten Krankheitserreger nach höchstens vierundzwanzig Stunden auf einem »Krankheitsüberträger«, also auf harten oder weichen Oberflächen, nicht mehr ansteckend waren, war das Prion auf unbegrenzte Zeit infektiös. Und bis jetzt war noch kein wirksames Desinfektionsmittel bekannt. Als im Laufe des Tages mit dem ELISA-Test Flugzeuge auf dem Los Angeles International Airport, Volcys Krankenzimmer und Gutierrez’ Haus auf Prionen untersucht worden waren, war das Ergebnis ganz anders ausgefallen als auf Havermore Farms, wo jeder Test negativ gewesen war. Türgriffe, Möbeloberflächen sowie Schalter im Cockpit, Sitzpolster und die Verschlüsse der Sicherheitsgurte in den Maschinen, die Zarrow in der vergangenen Woche geflogen hatte, waren mit Prionen übersät gewesen. »Jede Maschine, die den Flughafen von L.A. verlässt«, fuhr Stanton fort, »könnte infizierte Passagiere an Bord haben, die den Erreger in alle Welt tragen.« »Was ist mit den Schnellstraßen?«, wandte einer der anderen Ärzte ein. »Wollen Sie die auch sperren lassen?« Stanton zuckte mit den Schultern in seinem schweren Schutzanzug. Die Stimmen der anderen drangen durch den Helm zu ihm wie aus weiter Ferne, und er konnte sich gut vorstellen, dass seiner eigenen gedämpften Stimme der nötige Nachdruck fehlte. »Wir müssen verhindern, dass der Erreger sich über die Verkehrswege ausbreitet. Wenn es sein muss, rufen wir die Nationalgarde und die Armee zu Hilfe. Ich sage nicht, dass es leicht ist, aber wenn wir nicht schnell und entschlossen handeln, werden wir einen hohen Preis zahlen.« »Es würde zu Hamsterkäufen und zu Ausschreitungen kommen«, wandte Leeds ein. »In ein paar Tagen hätten wir hier Zustände wie in Port-au-Prince.« »Wir werden den Leuten erklären, dass es sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme handelt und dass sie die Stadt wieder verlassen können, sobald wir einen Weg gefunden haben, die Ausbreitung des Erregers einzudämmen und –« »Wir müssen uns sehr gut überlegen, was wir den Leuten sagen«, fiel Cavanagh ihm ins Wort, »damit es nicht zu einer Massenpanik kommt. Wir tragen hier eine ungeheuere Verantwortung, aber die tragen wir auch, wenn wir zulassen, dass sich die Erkrankung massenhaft in jeder Stadt ausbreitet.« Sie stand auf. »Eine Quarantäne ist die ultima ratio, aber wir müssen sie auf jeden Fall in Betracht ziehen.« Stanton war genauso überrascht wie alle anderen im Raum, dass sie sich hinter ihn stellte. Obwohl sie im Seuchenzentrum seit vielen Jahren ihre schützende Hand über ihn hielt, war Cavanagh normalerweise niemand, der so schnell drastische Maßnahmen erwog. Ihr war ganz offensichtlich klar, was auf dem Spiel stand. Die Besprechung wurde vertagt. Während Cavanagh den Leitern der einzelnen Abteilungen abschließend noch Anweisungen gab, betrachtete Stanton die auf einer großen Tafel schematisch dargestellten Verbindungen zwischen den Infizierten. Der Name Volcy stand in der Mitte. Er war ebenso rot eingekreist wie die Namen Gutierrez und Zarrow – die ersten drei Todesopfer. Die anderen einhundertvierundzwanzig Namen waren in vier konzentrischen Kreisen angeordnet. Als Cavanagh neben ihn trat, sagte Stanton beschwörend: »Wir dürfen nicht warten, Emily. Keine Sekunde. Sonst breitet der Erreger sich aus.« »Ich habe schon verstanden, Gabe.« »Gut. Nachdem das geklärt ist, stellt sich die Frage nach der Therapie. Das muss nach der Verhängung der Quarantäne unsere oberste Priorität sein.« Sie verließen den Besprechungsraum und blieben im Flur vor dem geschlossenen Kiosk stehen. Stanton konnte hinter den Glasscheiben Schachteln mit Süßigkeiten, Schokoriegeln und Kaugummi auf der Verkaufstheke und erschlaffende Heliumballons an Schnüren sehen. »Wie lange suchen Sie jetzt schon nach einem Heilmittel für Prionenerkrankungen?«, fragte Cavanagh. »Wir machen Fortschritte.« »Und wie viele Patienten konnten Sie erfolgreich therapieren?« »Emily, da oben sterben Menschen!« »Sie versuchen schon, mir die Idee zu verkaufen, eine ganze verdammte Stadt unter Quarantäne zu stellen, Gabe. Kommen Sie mir jetzt nicht auch noch mit der selbstgerechten Tour.« Stanton machte eine beschwichtigende Geste. »Die Ausbreitung einzudämmen ist das Eine«, sagte er. »Aber wir müssen gleichzeitig neue Therapien erproben, und dafür müssen wir das FDA dazu bringen, die Vorschriften für die Zulassung von Medikamenten aufzuheben. Die Mittel müssen sofort am Patienten getestet werden dürfen.« »Meinen Sie Quinacrine und Pentosan-Polysulfat? Sie wissen doch besser als jeder andere, was für Probleme es damit gibt.« Quinacrine war nicht neu, doch es hatte sich bei Prionenerkrankungen praktisch als wirkungslos erwiesen. In Pentosan-Polysulfat, das aus dem Holz von Buchen gewonnen wurde, hatte Stanton große Hoffnungen gesetzt. Das Problem war, dass der Wirkstoff die Blut-Hirn-Schranke, die das Zentralnervensystem vor gefährlichen Substanzen aus dem Blutkreislauf schützt, nicht überwinden konnte. Stanton und sein Team hatten alles versucht: von der Veränderung der molekularen Struktur der Substanz bis hin zur Infusion über einen Shunt, aber es war ihnen nicht gelungen, den Wirkstoff ins Gehirn einzubringen, ohne dort noch mehr Schaden anzurichten. Stanton schüttelte den Kopf. »Quinacrine können wir vergessen, und an den bestehenden Problemen mit Pentosan hat sich nichts geändert.« »Worauf wollen Sie dann hinaus?«, fragte Cavanagh. »Wir könnten die Antikörpertherapie einsetzen.« »Das hat Ihnen schon einmal eine Klage eingebracht, und deswegen wird Direktor Kanuth nichts davon hören wollen. Außerdem wissen Sie nicht, ob es in vivo tatsächlich funktioniert. Und wir werden VFI-Patienten nicht als Versuchskaninchen für die erste Testreihe benutzen.« »Wollen Sie das etwa den Infizierten und ihren Familien sagen, und damit ist der Fall erledigt?« »Sparen Sie sich das, Gabe«, erwiderte Cavanagh mit schneidender Stimme. »Ich war dabei, als HIV aufgetaucht ist und wir damals alle Schwimmbäder schließen wollten. Von Anfang an gab es Forscher, die lautstark weitere Gelder für die Entwicklung eines Heilmittels gefordert haben, was dazu geführt hat, dass wir die Eindämmung vernachlässigt haben und sich noch mehr Menschen infiziert haben. Und wie lange hat es dann gedauert, bis sie tatsächlich etwas gefunden haben, um HIV zu behandeln? Fünfzehn Jahre.« Stanton sagte nichts. »Unsere oberste Priorität im Augenblick ist die Eindämmung«, fuhr Cavanagh fort. »Und Ihre ist es, erstens die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wie man sich vor Ansteckung schützen kann, und zweitens einen Weg zu finden, wie die Prionen auf Kontaktflächen vernichtet werden können. Sobald keine Neuerkrankungen mehr auftreten, können wir uns über eine Therapie unterhalten. Ist das klar?« Stanton nickte. Er erkannte am Gesicht seiner Chefin, dass jede weitere Diskussion zwecklos war. »Ja, alles klar.« »Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen, Gabe?«, fügte Cavanagh ruhig hinzu. »Wir müssen unbedingt ein Team nach Guatemala schicken. Denken Sie an den Ausbruch von Ebola und Hanta in Afrika: Unsere Leute hatten den Infektionsherd innerhalb weniger Tage ausfindig gemacht und beseitigt. Eine Quarantäne hierzulande ist sinnlos, solange der Erreger dort unten nicht ausgemerzt wird. Er wird sich von dort über die ganze Welt ausbreiten.« »Die Guatemalteken werden keine Amerikaner ins Land lassen, die den Krankheitserreger vielleicht schon in sich tragen. Und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Schließlich haben wir keine handfesten Beweise dafür, dass der Erreger tatsächlich von dort stammt.« »Wir wissen nichts darüber, Emily, wir wissen nicht einmal, was genau es ist. Denken Sie an das Marburg-Virus. Wir konnten es erst aufhalten, als wir den Infektionsherd gefunden hatten. Wenn wir herausfinden, aus welchem Dorf Volcy stammt, wenn wir diese Ruinen finden, wo er sein Lager aufgeschlagen hatte, dann erlauben sie uns vielleicht, ein Team hinzuschicken.« »Möglich. Ich weiß es nicht.« »Deputy Cavanagh?« Stanton und Cavanagh drehten sich um. Ein milchgesichtiger Verwaltungsangestellter hielt einen Schnellhefter mit dem Vermerk VERTRAULICH in der ausgestreckten Hand. »Sind das die Ergebnisse der Blutuntersuchung?«, fragte Stanton. Der junge Mann nickte. Cavanagh überflog die Tests aus dem ersten Kreis der Kontaktpersonen, auf die sie seit Stunden gewartet hatten. »Wie viele sind positiv?«, fragte Stanton. »Fast zweihundert«, antwortete der junge Mann. Das waren mehr als alle bekannten Fälle von FFI. Mehr als alle Fälle von Rinderwahnsinn. Cavanagh warf Stanton einen flüchtigen Blick zu und blätterte dann schnell zu den letzten Seiten. Sie suchte weiter hinten im Alphabet nach Stantons Namen. 13 Chel und ihre Anwältin Erin Billings saßen im Verwaltungsbüro am nördlichen Ende des Getty-Campus. Auf der anderen Seite des Tisches hatten einige Mitglieder des Kuratoriums sowie der Chefkurator des Museums und ein Beamter der Einwanderungs- und Zollbehörde Platz genommen. Wie vom Seuchenzentrum empfohlen, trugen alle Anwesenden Schutzbrillen, und alle hatten eine Kopie von Chels Aussage vor sich liegen, in der sie die Ereignisse der vergangenen drei Tage genau geschildert hatte. Dana McLean, Chefin einer der größten Investmentgesellschaften des Landes und Vorsitzende des Kuratoriums, lehnte sich zurück und sagte: »Dr. Manu, Sie sind bis auf Weiteres und ohne Gehaltsfortzahlung suspendiert. Sie werden alle Ihre das Museum betreffenden Tätigkeiten unverzüglich einstellen, bis eine endgültige Entscheidung gefallen ist.« »Was ist mit meinen Leuten?« »Sie werden dem Kurator unterstellt. Aber falls sich herausstellt, dass einer von ihnen in die illegalen Machenschaften verwickelt ist, muss er ebenfalls mit Konsequenzen rechnen.« »Dr. Manu«, wandte sich ein Kuratoriumsmitglied an sie, »Sie behaupten, Dr. Chacon habe nicht gewusst, was Sie getan haben. Aber warum war er dann am Abend des 10. hier bei Ihnen?« Chel sah ihre Anwältin an. Als diese ihr zunickte, erwiderte sie so ruhig und sachlich wie möglich: »Ich habe Rolando nie erzählt, woran ich arbeitete. Ich habe ihn zu mir gebeten, weil ich ein paar allgemeine Fragen bezüglich der Restaurierung hatte. Aber er hat den Kodex nie gesehen.« Sie hatte ein umfassendes Geständnis abgelegt, es gab also keinen Grund, weshalb man ihr in diesem Punkt nicht glauben sollte. Das war die Lüge, bei der sie ein gutes Gefühl hatte. »Es ist Ihnen hoffentlich klar, dass wir ganz genau prüfen werden, ob Sie sich in der Vergangenheit in beruflicher Hinsicht schon einmal etwas haben zuschulden kommen lassen«, sagte Grayson Kisker, der Beamte der Einwanderungsbehörde. »Das ist ihr völlig klar«, erwiderte Chels Anwältin. »Was passiert mit dem Kodex?«, fragte Chel. »Wir werden ihn den Guatemalteken zurückgeben«, antwortete McLean. »Da die illegale Transaktion auf amerikanischem Boden stattgefunden hat, sind wir es, die ein Verfahren gegen Sie einleiten«, sagte Kisker. Chel war wie betäubt, und auch die Nachricht vom Seuchenzentrum, dass ihr Bluttest negativ ausgefallen war, konnte sie nicht aus ihrer Benommenheit reißen. Noch nie hatte sie eine so übermächtige Mischung aus Schuldgefühlen, Verwirrung und Schock empfunden wie in den letzten vierundzwanzig Stunden. Sie wusste, dass sie entlassen werden würde und dass sie auch ihre Stelle an der UCLA verlieren würde. Aber nach allem, was sie in den letzten Tagen erlebt und gesehen hatte, ließ sie das vollkommen kalt. Chel und Billings erhoben sich. Chel versuchte, sich innerlich darauf vorzubereiten, ein letztes Mal in ihr Labor zu gehen und ihre Sachen zusammenzupacken. Dann klingelte Kiskers Handy. Er nahm das Gespräch an. Ein seltsamer Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Ja«, sagte er mit einem flüchtigen Blick auf Chel. »Sie ist noch da.« Er streckte langsam die Hand aus und hielt ihr sein Telefon hin. Seine Stimme klang fast ehrfürchtig, als er sagte: »Mein Chef will mit Ihnen reden.« *** Die Nachmittagssonne stach vom Himmel, als Chel den Fußweg durch den Park zu dem üppigen blühenden Urwald im tiefsten Teil des Geländes hinunterging. Museumsbesucher sagten oft, der Blick von der Anhöhe, auf der das Museum stand, sei besser als die eigentliche Kunst, aber Chel liebte den Park über alles. Als sie zwischen den rosarot und rot blühenden Bougainvilleabüschen dahinschlenderte, streckte sie die Hand nach einer der papiernen Blüten aus und rieb sie zwischen den Fingern. Sie brauchte etwas, das sie erdete, während sie mit Dr. Stanton telefonierte. »Noch sind in Guatemala keine Fälle aufgetreten«, sagte er. »Aber wenn wir genauere Angaben über Volcys Aufenthaltsort machen könnten, würde man uns vielleicht erlauben, ein Team hinzuschicken.« Nach dem Anruf vom Chef der Einwanderungs- und Zollbehörde war Chel gebeten worden, sich mit Stanton in Verbindung zu setzen. Sie war erleichtert gewesen, als sie hörte, dass auch er sich nicht infiziert hatte. Vermutlich habe der Umstand, dass sie beide Brillenträger waren, dabei eine Rolle gespielt, hatte er wie beiläufig gesagt, so als ob es nicht besonders wichtig wäre, und war dann gleich zum Thema gekommen. »Wo kam er her, was denken Sie?« »Aus dem Hochland im Süden, würde ich sagen.« Chel riss eine der rosaroten Bougainvilleablüten ab und warf sie in den Bach. Sie war selbst überrascht von der Heftigkeit ihrer Geste. »Und wie groß ist das Gebiet ungefähr?«, fragte Stanton. »Etliche tausend Quadratmeilen. Aber der Erreger ist doch schon hier eingeschleppt worden. Warum ist es da noch wichtig, wo er hergekommen ist?« »Das ist wie bei einer Krebserkrankung«, erklärte Stanton. »Auch wenn sich schon Metastasen gebildet haben, muss der Tumor entfernt werden, damit er nicht noch weiter streut. Wir haben nur dann eine Chance gegen den Erreger, wenn wir ihn genau kennen und wissen, wie das Ganze angefangen hat.« »Vielleicht könnte der Kodex uns mehr erzählen«, sagte Chel nachdenklich. »Vielleicht finden wir eine Glyphe, die typisch ist für eine bestimmte Gegend, oder vielleicht irgendeine geografische Beschreibung. Aber dafür muss er erst ganz rekonstruiert werden.« »Und wie lange dauert das?« »Die ersten Seiten sind in keinem guten Zustand und die hinteren sehen noch schlimmer aus. Dazu kommen sprachliche Probleme, zum Beispiel schwierige Glyphen und ungewöhnliche Kombinationen. Wir haben alles versucht, sie zu entziffern.« »Lassen Sie sich etwas einfallen, damit es schneller geht.« Chel ließ sich auf eine metallene Bank fallen. Sie war tropfnass vom Tau oder vom Wasser der Sprinkleranlage, und Chel spürte, wie das Wasser durch ihre Hose bis auf die Haut drang, aber es war ihr egal. »Ich verstehe nicht«, stammelte sie. »Ich habe Sie belogen, und trotzdem vertrauen Sie mir?« »Nein, tue ich nicht«, erwiderte er. »Aber die Einwanderungs- und Zollbehörde hat ein Expertenteam hinzugezogen, und die haben gemeint, wenn irgendjemand schnell herausfinden könnte, woher das Buch stammt, dann Sie.« *** Nicht einmal eine Stunde später fuhr Chel auf der 405 in Richtung Culver City. Sie hatte nicht die geringste Lust, dorthin zu fahren, wohin sie jetzt unterwegs war, aber sie hatte keine Wahl. Die Behörden sahen vorerst von einer Strafverfolgung ab, und das bedeutendste Zeugnis der Maya-Kultur würde in ihrem Labor bleiben. Sie hatte immer noch Bedenken, Victor Granning in die Forschungsarbeiten mit einzubeziehen, doch jetzt galt es ihre persönlichen Differenzen hintanzustellen. Wichtig war nur, dass sie den Ärzten auf jede erdenkliche Weise behilflich war. Das Museum of Jurassic Technology am Venice Boulevard gehörte zu den denkwürdigsten Einrichtungen von Los Angeles – vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Chel war bisher nur ein einziges Mal dort gewesen. Sie hatte sich zwar erst einmal an die labyrinthische Anlage und an die dunklen Räume gewöhnen müssen, aber dann hatte sie sich entspannt und den Zauber auf sich wirken lassen. Zu der Ausstellung gehörten unter anderem winzig kleine Figuren, die in ein Nadelöhr passten, eine Galerie der Hunde, die in den 1950er-Jahren von den Russen in den Weltraum geschossen worden waren, oder eine Sammlung von Fadenspielen. Die Ladenfront des unscheinbaren graubraunen Gebäudes neben dem In-N-Out-Burger war klein, doch das täuschte. Chel fand direkt davor einen Parkplatz. Das eine Mal war sie mit Patrick hier gewesen. Er hatte sich unbedingt eine Ausstellung von Briefen an das Mount Wilson Observatorium ansehen wollen, die von der Existenz außerirdischen Lebens berichteten. Diese Briefe, hatte er gesagt, erinnerten ihn daran, dass man den Himmel nicht nur durch ein Teleskop, sondern auch auf andere Art und Weise betrachten könne. Sie hatten sie in dem abgedunkelten Raum zusammen gelesen, Patricks Stimme ganz nah an ihrem Ohr, und es war ein Brief dabei gewesen, der Chel ganz besonders berührt hatte. Sie konnte sich bis heute an die Worte der Frau erinnern, die von ihren Erfahrungen in einem anderen Universum erzählte: Ich habe alle möglichen Monde und Sterne und Öffnungen gesehen … Chel drückte auf den Klingelknopf neben der Tür über einem Schild mit der Aufschrift BITTE NUR EIN MAL KLINGELN. Die Tür ging auf, und ein weißhaariger Mann um die sechzig in einer schwarzen Strickjacke und in einer zerknitterten Khakihose stand vor ihr. Chel hatte Andrew Fisher, den exzentrischen Leiter des Museums, bei ihrem ersten Besuch hier kennengelernt. Er trug eine Schutzmaske aus Plastik, doch die verbarg nicht den wachen, intelligenten Ausdruck in seinen Augen. »Willkommen zurück, Dr. Manu.« Er konnte sich noch an sie erinnern? »Vielen Dank. Ich möchte zu Dr. Granning. Ist er da?« »Ja, kommen Sie doch herein.« Fisher trat zur Seite. »Ich habe mich mit dem Gedächtnistraining nach Ebbinghaus befasst, was sich als sehr hilfreich erwiesen hat. Wollen mal sehen. Sie arbeiten im Getty, Sie sind ernster, als gut für Sie ist, und … Sie rauchen zu viel.« »Hat Victor Ihnen das erzählt?« Er nickte. »Er hat mir auch erzählt, dass Sie die klügste Frau sind, die er kennt.« »Er kennt nicht viele Frauen.« Fishers Augenwinkel legten sich in Fältchen. »Er ist hinten und arbeitet an seiner Ausstellung. Faszinierendes Thema.« Der kleine seltsame Eingangsbereich des Museums roch nach Terpentin und wurde von dunkelroten und schwarzen Glühbirnen erhellt, sodass man nach dem grellen Sonnenlicht draußen im ersten Moment orientierungslos war. An den Wänden standen Bücherregale voller Werke mit unergründlichen Titeln, darunter Sonnabends Obliscence, das Journal of Anomaltes des Magiers Ricky Jay und das Renaissancewerk Hypnerotomachia Poliphili. Im Museum wurden die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verwischt. Herauszufinden, welche Exponate real waren, machte einen Teil des Vergnügens aus. Dennoch weckte dieser Ort, der Verwirrung stiftete und der Logik trotzte, zwiespältige Gefühle in Chel. Ganz abgesehen davon, dass sie die geplante Ausstellung ihres alten Mentors für fragwürdig hielt. Fisher führte sie durch ein Labyrinth von Gängen, die beschallt wurden mit einer durch Lautsprecher verzerrten Kakophonie von Tierlauten und Menschenstimmen. Im Vorbeigehen sah sich Chel die kuriosen Ausstellungsstücke an. Erhöhte Glaskästen mit einem Diorama, das die Lebensweise einer Stinkameise zeigte. Eine winzige Miniatur von Papst Johannes Paul II. in einem Nadelöhr unter einem riesigen Vergrößerungsglas. Sie bogen um eine Ecke und kamen in einen kleinen Raum, in dem an der Decke ein Glockenrad hing, das sich drehte und dabei ein unheimliches Geräusch erzeugte. In der Mitte des Zimmers stand ein gläserner Schaukasten mit Arbeiten eines deutschen Gelehrten des 17. Jahrhunderts namens Athanasius Kircher. Auf den Schwarz-Weiß-Zeichnungen waren unter anderem eine Sonnenblume mit einem Korken in der Mitte zu sehen, aber auch die Chinesische Mauer oder der Turm von Babel. Fisher zeigte auf ein Porträt von Kircher. »Er war der letzte große Universalgelehrte. Er hat ägyptische Hieroglyphen entschlüsselt. Er hat einen Vorläufer des Megafons erfunden. Er hat Würmer im Blut von Pestopfern entdeckt.« Fisher tippte mit dem Finger an seine Schutzmaske. »Und haben Sie gewusst, dass er den Leuten empfohlen hat, eine Maske zu tragen, um sich vor Krankheiten zu schützen?« Er schüttelte den Kopf. »Heutzutage geht es nur noch um Spezialisierung, jeder sucht sich eine Nische, und die Nischen werden immer kleiner und kleiner, keiner schaut mehr über die Grenzen seines eigenen winzigen Teilbereichs des intellektuellen Spektrums. Eine Schande ist das. Wie kann sich wahres Genie entwickeln, wenn unserer Geisteskraft kein Raum zum Atmen mehr bleibt?« »Diese Frage kann wohl nur ein Genie beantworten, Mr Fisher«, erwiderte Chel. Er lächelte und führte sie durch weitere dunkle Gänge. Schließlich gelangten sie in den hinteren Teil des Museums, eine gut beleuchtete Werkstatt mit Projekten in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung. Fisher öffnete eine schmale Tür, die in das hinterste Zimmer des Gebäudes führte. »Sie sind sehr gefragt heute, Victor«, sagte er, als er eintrat. Chel folgte ihm. Victor war nicht allein. Ein zweiter, hoch gewachsener Weißer stand neben ihm in dem viereckigen Raum voller Werkzeug, Glasscheiben, halb zusammengebauten Regalen und hölzernen Podesten für Exponate. »Na so was!« Victor ging um das Durcheinander auf dem Fußboden herum. »Wenn das nicht meine liebste indígena ist! Von ihrer Mutter einmal abgesehen, versteht sich.« Chel betrachtete ihren Mentor, als dieser auf sie zuging. Victor war ein äußerst attraktiver Mann gewesen, und seine blauen Augen hinter der Schutzbrille hatten in fünfundsiebzig Jahren nichts von ihrer Strahlkraft verloren. Er trug ein kurzärmeliges rotes, bis obenhin zugeknöpftes Polohemd, das er in seine Khakihose gestopft hatte – seine Uniform seit seiner Zeit an der UCLA. Sein silbergrauer Bart war sauber gestutzt. »Hi«, sagte Chel. »Danke, Andrew.« Victor sah den Leiter des Museums an, der sich ohne ein weiteres Wort zurückzog und die Tür hinter sich schloss. Als Victor sich wieder seiner Besucherin zuwandte, konnte sie einen Ausdruck von Ergriffenheit in seinen Augen sehen. Auch Chel war tief bewegt. Daran würde sich nie etwas ändern. »Chel, ich möchte dir Mr Colton Shetter vorstellen. Colton, das ist Dr. Chel Manu, eine der weltweit führenden Expertinnen auf dem Gebiet der antiken Maya-Schrift. Alles, was sie weiß, hat sie, wenn ich das so sagen darf, von mir gelernt.« Shetter hatte schulterlange braune Haare und war unrasiert. Sein Bart war mehrere Tage alt und ging bis zum unteren Rand seines Augenschutzes hinauf. Aber er trug ein gestärktes weißes Hemd mit Krawatte, eine schwarze Jeans und glänzende Stiefel. Alles in allem ergab das eine merkwürdig attraktive Kombination. »Freut mich«, sagte Chel. »Was ist Ihr Spezialgebiet, Dr. Manu?« Shetter hatte eine tiefe Stimme mit einem leichten Südstaatenakzent. Chel tippte auf Florida. »Epigrafik. Verstehen Sie etwas davon?« »Sagen wir, ich beschäftige mich hobbymäßig ein bisschen damit.« »Haben Sie und Victor sich so kennengelernt?«, fragte sie. »Ich habe zehn Jahre in Petén gearbeitet«, erwiderte er. »Als was?« Er warf Victor einen flüchtigen Blick zu. »Ich war Ausbilder. Bei der Armee.« So etwas hörte keine indígena gern. Die Anziehungskraft, die er gerade noch auf sie ausgeübt hatte, war verflogen. »Und in was haben Sie die Armee ausgebildet?«, fragte sie schroff. »Hauptsächlich in der Terrorismusbekämpfung und im Häuserkampf.« »Sind Sie von der CIA?« »Nein, Ma’am, nichts dergleichen. Army Rangers. Wir haben den Guatemalteken gezeigt, wie sie ihre militärischen Operationen modernisieren können.« Jede Unterstützung, die die guatemaltekische Armee von der US-Regierung bekam, war für Chel eine zu viel. In den 1950er-Jahren hatte die CIA einen Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung des Landes organisiert und dann eine Marionettenregierung eingesetzt. Viele indígenas gaben den amerikanischen Agenten die Schuld am Bürgerkrieg, der auch Chels Vater das Leben gekostet hatte. »Colton ist ein großer Bewunderer der indígenas, Chel.« »In meiner Freizeit war ich oft in Chajul und Nebaj«, sagte Shetter. »Die Leute da sind ganz erstaunlich. Sie haben mich zu den Ruinen in Tikal mitgenommen, und dort habe ich Victor kennengelernt.« »Aber jetzt leben Sie in Los Angeles?« »Mehr oder weniger. Ich habe ein hübsches kleines Haus oben in den Verdugo Mountains.« Chel war ein paar Mal zum Wandern dort gewesen, hatte die Gegend aber als unberührte Wildnis in Erinnerung. »Da oben wohnen Leute?«, fragte sie ungläubig. »Ja, ein paar glückliche wie ich«, antwortete Shetter. »Die Gegend erinnert mich übrigens an Ihr Hochland. Wo wir gerade davon sprechen – ich glaube, es wird Zeit für mich.« Er wandte sich zu Victor hin und zeigte auf dessen Augenschutz. »Bitte nicht abnehmen, okay?« »Danke, dass du vorbeigekommen bist, Colton.« Als er gegangen und sie mit Victor allein war, fragte sie: »Was wollte er hier?« Victor zuckte mit den Schultern. »Oh, Colton hat eine Menge Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Situationen. Er will sich nur davon überzeugen, dass seine Freunde sich in diesen gefährlichen Zeiten richtig schützen.« »Er hat recht. Die Sache ist wirklich ernst.« Chel sah ihn prüfend an. Aber sie konnte kein Anzeichen von Anspannung oder Schmerz entdecken. »Ja, ich weiß«, erwiderte Victor. »Und, was sagt Patrick dazu?« »Wir haben uns getrennt.« »Schade. Ich habe ihn gemocht. Das heißt wohl, dass ich so bald nicht mehr auf Patenkinder hoffen darf, oder?« Seine alte Zuneigung tat ihr gut, trotz allem, was sie durchgemacht hatten. »Du solltest dein nächstes Buch über die Tugend des eingleisigen Denkens schreiben«, bemerkte sie trocken. Er lächelte. »Schon gut.« Er bedeutete ihr, ihm zu folgen. »Ich bin froh, dass du da bist. Dann kannst du dir endlich mein Projekt ansehen.« Sie folgte ihm in eine dunkle Galerie. Noch war die Ausstellung nicht vollständig aufgebaut, aber ein Schaukasten an der hinteren Wand war beleuchtet, und Chel trat zögernd näher. Hinter dem Glas standen vier jeweils etwa sechzig Zentimeter hohe menschliche Figuren, und jede war, entsprechend der Schöpfungsgeschichte der Maya, aus einem anderen Material gefertigt: die erste aus Hühnerknochen, die zweite aus Erde, die dritte aus Holz und die letzte aus Maiskörnern. Dem Schöpfungsmythos der Maya zufolge hatten die Götter drei Mal versucht, den Menschen zu erschaffen. Die ersten Menschen schufen sie aus Tieren, doch die konnten nicht sprechen. Die zweiten Menschen formten sie aus Schlamm, aber die konnten nicht gehen, und die dritten Menschen stellten sie aus Holz her, doch die beteten nicht zu ihren Göttern und wussten nichts über die Bedeutung eines Kalenders. Erst als sie die vierten Menschen aus Mais erschufen, waren die Götter endlich zufrieden. Die vierte Welt nahm ihren Anfang. Als sie den Glaskasten jetzt genauer betrachtete, bemerkte Chel etwas. Interessant und in ihren Augen ermutigend war das, was Victor nicht dargestellt hatte: die fünften Menschen. »Und«, fragte ihr Mentor, »was verschafft mir das unerwartete Vergnügen deines Besuchs?« *** Chel hatte den Eindruck, als würde Victor Grannings Leben die Kultur widerspiegeln, der er seine berufliche Laufbahn gewidmet hatte: Aufstieg, Blüte, Untergang. Noch während seines Graduiertenstudiums in Harvard hatte er mit erstaunlichen Forschungsergebnissen bezüglich der Syntax und der Grammatik der antiken Maya-Schrift von sich reden gemacht. Seine Veröffentlichungen fanden große Beachtung. Der endgültige Durchbruch gelang ihm, als die New York Times ihn als den weltweit renommiertesten Maya-Forscher pries. Nachdem er die Eliteuniversitäten im Osten der USA erobert hatte, machte Victor sich auf den Weg nach Westen, wo er an der UCLA den Lehrstuhl für den Bereich Maya-Studien übernahm. Viele junge Forscher auf diesem Gebiet waren von Victor ganz entscheidend gefördert worden. So auch Chel. Als sie ihr Studium aufnahm, wurde Victor ihr Tutor. Schon im ersten Studienjahr konnte sie einen Text schneller dechiffrieren als irgendjemand sonst an der Fakultät. Victor gab sein Wissen über die antike Bilderschrift der Maya an sie weiter. Bald war sie mehr als nur einer von seinen Schützlingen. Gemeinsam mit ihrer Mutter verbrachte sie die amerikanischen Feiertage oft mit Victor und seiner Frau Rose in deren schindelverkleidetem Haus in Cheviot Hills. Es war Victor gewesen, den Chel als Ersten angerufen hatte, als sie nach dem Studium ihre Probezeit an der Universität bestanden und als sie ihre Stelle im Getty Museum antrat. In den fünfzehn Jahren, die sie sich kannten, war Victor für sie immer wieder eine Quelle der Ermutigung, der Erheiterung und neuerdings auch des Kummers gewesen. Sein persönlicher Untergang begann 2008, als bei Rose Magenkrebs festgestellt wurde. Victor wich nicht mehr von ihrer Seite. Er konnte sich ein Leben ohne Rose nicht vorstellen. Gleichzeitig begann er nach Antworten zu suchen. Er, der nie besonders religiös gewesen war, wurde geradezu fanatisch in seinem Glauben: Er ging jeden Tag in die Synagoge, hielt die Regeln des Sabbat ein und befolgte die Reinheits- und Speisevorschriften, und er trug eine Kippah. Doch als Rose ein Jahr später starb, wandte sich Victor von seinem Glauben ab. Was sollte das für ein Gott sein, der so viel Leid zuließ? Einen solchen Gott konnte es nicht geben. Falls eine höhere Macht existierte, so dachte er, musste man sie woanders suchen. Irgendwann in den neun Monaten nach Roses Tod sprach Victor zum ersten Mal über den 21. Dezember 2012 und begann Theorien über dieses scheinbar so bedeutsame Datum zu entwickeln. Seine Studenten tuschelten über beiläufige Bemerkungen, die er im Unterricht über die Bedeutung des Langzeitzyklus und dessen Ende fallen ließ. Am Anfang hörten sie noch ganz fasziniert zu, doch ihre Begeisterung schwand allmählich, als Victor auf fragwürdige Quellen zurückgriff, die unhaltbare Behauptungen über die religiösen Anschauungen der Maya aufstellten. Die Vorlesungen in Linguistik wurden ausgefüllt mit Vorträgen über das Ende des 13. Zyklus und mit Spekulationen darüber, dass ein neues Zeitalter für die Menschheit anbrechen würde, das mit der Rückkehr zu einem einfacheren, asketischeren Leben verbunden war. Etwa um diese Zeit sprachen einige von Victors Studenten Chel auf die exzentrischen Verirrungen ihres Professors an. Doch sie erkannte damals nicht, wie weit er schon vom Weg abgekommen war. Bald wetterte er im Unterricht über Fertignahrung, die Krebs verursache, und dass die Menschen deswegen zu einer ursprünglicheren Lebensweise zurückkehren müssten. Sein Misstrauen gegen technische Errungenschaften und moderne Kommunikationsmittel wuchs. Er verschickte keine E-Mails mehr, sondern zwang seine Studenten, zu ihm ins Büro zu kommen. Dort verbot er ihnen, das Internet zu benutzen oder Auto zu fahren, und hielt ihnen Vorträge über das, was die 2012er Synchronizität nannten – das Bewusstsein, dass alle Dinge auf der Welt miteinander verbunden waren. Diese Synchronizität werde zu einer geistigen Erneuerung führen. Immer wenn Chel sich mit ihm unterhielt, versuchte sie, das Gespräch auf andere Themen zu lenken, aber es war sinnlos. Victors Interesse für diese Dinge grenzte an Besessenheit, und Chel wusste bald nicht mehr, wie sie damit umgehen sollte. Als Victor als Hauptredner auf der größten New-Age-Versammlung des Landes angekündigt und als in Pressemitteilungen auf seine Verbindung zur UCLA hingewiesen wurde, bekam er eine Abmahnung von der Universitätsverwaltung. Dann, Mitte 2010, als ein trüber Juni den UCLA-Campus in Nebel hüllte, bekam Chel einen Anruf von Victor. Er bat sie, in sein Büro zu kommen, wo er ihr ein getipptes Manuskript in die Hand drückte, an dem er seit Monaten heimlich gearbeitet hatte. Auf der ersten Seite stand in großen Druckbuchstaben der Titel: TIMEWAVE 2012. Chel blätterte zur Einleitung um. Wir leben in einer Zeit von nie da gewesenen technologischen Veränderungen. Wir verwandeln Stammzellen in jedes gewünschte Gewebe, und dank unserer Impfstoffe und Heilmittel wird ein Kind, das heute zur Welt kommt, hundert Jahre oder älter werden. Wir leben aber auch in einer Zeit, in der Raketen von ferngesteuerten Flugrobotern abgefeuert werden und geheimes nukleares Wissen an totalitäre Regime durchsickert. Es gibt übermenschliche Intelligenzen, die wir bald nicht mehr werden kontrollieren können. Die weltweite Finanzkrise wurde durch Computeralgorithmen beschleunigt. Wir zerstören unser Ökosystem mit fossilen Brennstoffen und vergiften uns mit unsichtbaren karzinogenen Stoffen. Ende der 1970er-Jahre entwickelte der Philosoph Terence McKenna die Theorie, dass von Beginn der Geschichtsaufzeichnung an die wichtigsten Neuerungen der Menschheit sich grafisch in einer Welle darstellen lassen: die Erfindung des Buchdrucks; Galileos Entdeckung, dass die Sonne der Mittelpunkt unseres Sonnensystems ist; die Entdeckung und Nutzbarmachung der Elektrizität; die Entdeckung der DNA; die Atombombe; Computer; das Internet. McKenna fand heraus, dass sich die Innovationsrate beschleunigt, und errechnete den genauen Punkt, an dem die langsam ansteigende Kurve senkrecht wird. Er glaubte, dass an dem Tag – den er Timewave Zero nannte – der technische Fortschritt keine Grenzen mehr kennen und es unmöglich werden würde, ihn zu kontrollieren oder Voraussagen über die weitere Entwicklung der Zivilisation zu machen. Dieser Tag ist der 21. Dezember 2012, das Ende des 13. Zyklus der fünftausendjährigen Langen Zählung der Maya, der Tag, an dem ihren Prophezeiungen zufolge die Welt eine gigantische Umwandlung erfahren wird und die vierten Menschen ersetzt werden. Wir wissen noch nicht, wie diese neuen, fünften Menschen aussehen werden. Aber die Umwälzungen überall auf unserem Planeten beweisen, dass eine Veränderung von ungeheurem Ausmaß bevorsteht. Wir sollten die Zeit bis zum 21. Dezember 2012 nutzen, uns auf diese Veränderung vorzubereiten. »Das kannst du nicht veröffentlichen«, hatte Chel gesagt. »Ich habe es schon ein paar Leuten gezeigt, und alle waren begeistert«, erwiderte Victor. »Was für Leute waren das – 2012er?« Victor atmete tief durch. »Kluge Leute, Chel. Einige haben promoviert, viele haben selbst Bücher veröffentlicht.« Chel konnte sich lebhaft vorstellen, wie sehr die 2012er-Gemeinde ihn verehrte, wo er doch ihren verqueren Ideen neue Nahrung gab. Seit seine Frau krank geworden war, hatte Victor seine Forschungsarbeit völlig vernachlässigt – das hier war seine Chance, wieder ein Star zu werden. Doch als er Timewave 2012 im Selbstverlag herausbrachte, erntete er nur Hohn und Spott und bekam einen Verriss in der Times. Die Folgen in der akademischen Welt waren noch schlimmer: Niemand nahm Victor als Wissenschaftler noch ernst. Er bekam keine Fördermittel mehr, man legte ihm nahe, die Universität zu verlassen, und er verlor sein Haus, für das er von der Universität ein Darlehen bekommen hatte. Chel brachte es nicht fertig, den Mann, dem sie so viel zu verdanken hatte, im Stich zu lassen. Sie nahm ihn in ihrer Wohnung in Westwood auf und besorgte ihm einen Job im Getty Museum – unter zwei Bedingungen: keine Vorträge mehr vor 2012ern oder vor Technikfeinden, keine Hetzreden mehr gegen den technologischen Fortschritt vor ihrem Team. Wenn er sich daran hielt, könnte er ihre Bibliotheken benutzen und würde ein kleines Gehalt bekommen, damit er wieder auf die Füße kam. Fast ein Jahr lang half Victor tagsüber bei der Dechiffrierung alter Texte. Abends saß er vor dem Fernseher und schaute den History Channel. Man sah ihn sogar im Getty an einem Computer sitzen. Als er genug Geld zusammengekratzt hatte, mietete er sich eine eigene Wohnung. Anfang 2012 besuchte er seine Enkelkinder, und Chel bekam kurz darauf eine E-Mail von seinem Sohn: Er sei unendlich erleichtert, schrieb er ihr, dass er seinen Vater wiederhabe. Vergangenen Juli jedoch, als Victor eigentlich an einer Ausstellung über postklassische Ruinen arbeiten sollte, stahl er Chels Universitätsausweis und verschaffte sich damit Zutritt zur Fakultätsbibliothek. Er wurde dabei erwischt, wie er mehrere kostbare Bücher hinausschmuggeln wollte, die alle mit dem Maya-Kalender zu tun hatten. Er hatte Chels Vertrauen missbraucht. Dieses Mal konnte sie ihm nicht verzeihen. Sie warf ihn hinaus, und so landete er im Museum of Jurassic Technology. Seit damals hatten sie nur einige wenige Male miteinander gesprochen, und die Unterhaltungen waren immer sehr verkrampft gewesen. Chel hatte jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie irgendwann nach dem 22. Dezember alles vergessen und noch einmal von vorn anfangen könnten. Doch so lange konnte sie jetzt nicht mehr warten. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Sie wusste, wie sehr diese Worte ihn freuten. »Das bezweifle ich sehr«, erwiderte Victor, »aber jederzeit gern, egal, was es ist.« »Es geht um eine Syntaxfrage.« Sie griff in ihre Tasche. »Und ich brauche die Antwort jetzt gleich.« »Was für ein Quellentext?« Chel holte tief Luft, als sie ihren Laptop aus der Tasche zog. »Ein neuer Kodex«, entgegnete sie mit einer Mischung aus Stolz und ängstlicher Sorge. »Aus der klassischen Periode.« Ihr alter Mentor lachte. »Du denkst wohl, ich bin senil geworden!« »Glaubst du, ich wäre hier, wenn es mir nicht bitterernst wäre?« Chel rief Bilder von den ersten Seiten der Handschrift auf dem Computer auf. Victors Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Er gehörte zu den wenigen Leuten auf der Welt, denen die Bedeutung eines solchen Fundes augenblicklich klar war. Gebannt starrte er auf den Monitor, während Chel erzählte, was passiert war. »Die Guatemalteken wissen nichts von dem Kodex«, sagte sie, »und wir können es uns nicht leisten, dass irgendjemand sonst davon erfährt. Ich muss dir vertrauen können, Victor«, fügte sie eindringlich hinzu. Endlich blickte er zu ihr auf. »Das kannst du, Chel.« *** Später am Nachmittag standen Chel und Victor in Chels Labor im Getty Museum nebeneinander am Labortisch. Fasziniert betrachtete Victor die Darstellungen der Götter, die neuen Glyphen, die er nie zuvor gesehen hatte, die alten Symbole in neuen Kombinationen und in ungewöhnlicher Häufung. Etwas in Chel hatte sich vom ersten Moment an gewünscht, ihm das Buch zu zeigen, und als sie es jetzt noch einmal mit seinen Augen sah, empfand sie eine fiebrige Freude. Victor hatte sofort erfasst, wo die Schwierigkeit des Textes lag: in dem Vater-Sohn-Glyphenpaar, das Chel und Rolando vergeblich zu entschlüsseln versucht hatten. »In dieser Verbindung kenne ich es auch nicht«, sagte Victor. »Und dass es so oft sowohl als Subjekt wie auch als Objekt gebraucht wird, ist bisher einmalig.« Gemeinsam studierten sie den Absatz, in dem das Glyphenpaar zum ersten Mal auftrat: Der Vater und sein Sohn ist nicht adlig von Geburt, deshalb gibt es vieles, das dem Vater und seinem Sohn verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das der Vater und sein Sohn nicht hört von den Worten, die die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden. »Es wird öfter als Subjekt gebraucht«, sagte Victor. »Ich denke, wir müssen uns auf Substantive konzentrieren, die immer wieder verwendet werden.« »Das sehe ich auch so«, pflichtete Chel ihm bei. »Deshalb habe ich mir die anderen Kodizes vorgenommen und auf die am häufigsten verwendeten Subjekte untersucht. Es gibt sechs davon: Mais, Wasser, Unterwelt, Götter, Zeit und König.« Victor nickte. »Und die einzigen, die hier Sinn machen, sind entweder Götter oder König.« »Auf den ersten Seiten finden sich etwa ein Dutzend Hinweise auf eine Trockenperiode und auf die Adligen, die darauf warten, dass die Götter ihnen Wasser bringen.« Victor dachte kurz nach. »Götter würde keinen Sinn machen. Nicht in diesem Zusammenhang, wo Vater und Sohn darauf warten, dass die Götter Regen schicken. Nicht die Götter warten darauf, dass die Götter Regen schicken, sondern die Menschen.« »Ich habe es mit König versucht, aber das ergibt auch keinen Sinn. Vater und männliches Kind. Chit unen. Könnte das ein Hinweis auf eine Herrscherfamilie sein? Vielleicht wird Vater bildlich verwendet für König, und er hat einen Sohn, der sein Nachfolger werden wird.« Victor rieb sich nachdenklich das Kinn. »Es gibt Zweierpaare von Ehemann und Ehefrau, die auf einen Herrscher und seine Königin verweisen.« Chel tauschte im Geist die Symbole aus. »Aber wenn wir davon ausgehen, dass das Vater-Sohn-Glyphenpaar auf eine Herrscherfamilie verweist, dann würde der Satz heißen: Der König und sein Sohn sind nicht adlig von Geburt. Das ergibt doch auch keinen Sinn.« Plötzlich riss Victor die Augen auf. »In der Maya-Syntax geht es um den Kontext, richtig?« »Ja, klar …« »Jedes Subjekt kommt in Bezug auf ein Objekt vor. Jedes Datum in Bezug auf eine Gottheit, jeder König in Bezug auf sein Reich. Wir sprechen immer von König K’awiil von Tikal, nicht einfach nur von König K’awiil. Wir sprechen von einem Ballspieler und seinem Ball als einer Einheit. Von einem Menschen und seinem Krafttier. Das eine Wort existiert nicht ohne das andere. Sie bedeuten ein und dasselbe.« Chel nickte. »Eine Idee, nicht zwei.« Victor begann auf und ab zu gehen. »Genau. Wenn es sich mit diesen Glyphen nun genauso verhält? Wenn der Schreiber sich nicht auf einen Vater und dessen Sohn bezieht, sondern nur auf einen einzigen Mann, der die Eigenschaften von beiden hat?« Chel begann zu erahnen, worauf er hinauswollte. »Du meinst, der Schreiber spricht von sich selbst als von jemandem, der den Geist seines Vaters in sich trägt?« »Überleg doch mal. Wir sagen doch auch: Sie ist ganz die Mutter. Oder, in deinem Fall, wohl eher ganz der Vater. Der Schreiber meint sich selbst.« »Dann bedeutet das ja ich«, staunte sie. »Ich habe das Glyphenpaar zwar noch nie in dieser Verwendung gesehen«, fuhr Victor fort, »aber ich kenne ähnliche grammatikalische Konstruktionen, die verwendet wurden, um die Verbindung eines Adligen zu einem Gott hervorzuheben.« »Und in diesem Fall wird sie für die Verbindung mit einem Elternteil verwendet.« »Ich bin nicht adlig von Geburt«, las Victor, »und deshalb gibt es vieles, das mir verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das ich nicht höre von den Worten, die die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden.« Chel hatte das Gefühl, als ob sie schwebte. Alle bekannten Kodizes waren in der dritten Person verfasst, von einem Erzähler, der Distanz zu der Geschichte wahrte, die er schilderte. Aber das hier war etwas völlig anderes. Eine Erzählung in der Ich-Form war im Schrifttum der Maya etwas noch nie Dagewesenes und brachte möglicherweise ganz neue Erkenntnisse. Und es könnte eine tausendjährige Kluft überbrücken und eine echte innere Verbindung schaffen zwischen Chels Volk und dem Bewusstsein seiner Vorfahren. »So«, sagte Victor und zog einen Stift aus der Tasche, als wäre es eine Waffe, »ich denke, wir sollten uns an die Arbeit machen und herausfinden, ob das Ding da den ganzen Ärger wert ist, den es verursacht hat.« 14 In einer halben Phase des großen Sterns ist kein Regen gefallen, der uns Nahrung gegeben hätte. Die Felder von Kanuataba sind abgeerntet und erniedrigt, und das Wild und die Vögel und die Jaguar-Wächter des Landes sind verjagt worden. Die Hügel sind öde und kahl, Insekten schwärmen, und keine fallenden Blätter nähren noch den Boden. Die Tiere und Schmetterlinge und Pflanzen, die der Heilige Lebensspender uns gegeben hat, haben keinen Ort mehr, an dem sie weiterleben könnten. Die Tiere haben kein Fleisch mehr, das Essen liefern könnte. Ich bin nicht adlig von Geburt, und deshalb gibt es vieles, das mir verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das ich nicht höre von dem, was die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden. Aber ich weiß, dass früher nirgendwo sonst im Hochland so prächtige Kapokbäume wuchsen wie in Kanuataba, Kapokbäume, die den Weg in die Unterwelt säumen. Nirgendwo sonst auf der Welt standen die von den Göttern gesegneten Kapokbäume dichter als hier, die Stämme berührten sich fast. Jetzt gibt es in ganz Kanuataba nicht einmal mehr ein Dutzend davon! Unser heiliger See ist ausgetrocknet und nur noch Schlamm. Das Wasser, das dazu gemacht wurde, aus Stein emporzuschießen, ist versiegt im Palast und in den Tempeln. Auf den Plätzen betteln die Unberührbaren, damit wir ihre nutzlosen, gesprungenen Töpfe, ihr faulendes Gemüse und ihre verdünnten Gewürze für das Fleisch kaufen, das sich nur die Adligen leisten können. Es gibt keine Agutis, keine Kinkajus, kein Wild, keine Tapire mehr. Die Kinder von Kanuataba werden mit jeder großen Reise der Sonne über den Himmel hungriger. Mögest du mir vergeben, Affen-Schreiber, dessen Ring ich trage als Symbol meines Standes und zur Erinnerung an die Schreiber der Vergangenheit. Hier in Kanuataba beginne ich meine Aufzeichnungen auf dem jungfräulichen Rindenpapier, das ich dem König gestohlen habe. Ich habe wenig beigetragen zu den Büchern von Kanuataba. Ich bin der Erzieher des Königssohnes, und ich habe zweiundvierzig Bücher im Auftrag des Herrscherhauses gemalt. Aber jetzt male ich für das Volk, für die Kinder unserer Kindeskinder, es soll dies ein aufrichtiger Bericht dessen sein, was in der Zeit von Jaguar Imix über uns kam! Vor zwei Sonnen, nach einer Nacht, in der der Viertelmond tief am Himmel stand, rief König Jaguar Imix zwölf der dreizehn Ratsmitglieder zu sich. Jacomo, der königliche Zwerg, der gleichermaßen wollüstig und klein ist, war ebenfalls anwesend. Ich kenne Zwerge draußen auf den Feldern, die Kanuataba nicht weniger lieben als jeder Mann von normaler Körpergröße. Aber dieser königliche Zwerg ist anders, viel schrecklicher. Jacomo ist unersättlich, ich habe ihn beobachtet, wie er die Rinde eines großen Baumes kaute und widerliche Flüssigkeit aus seinem Mund in die Schale in seinem Schoß spie. Ich habe ihn vor Kurzem gesehen, wie er Frauen verführte, indem er ihnen Brosamen aus seinem Bart versprach, er nötigte sie, ihm zu Willen zu sein, und sie taten es, damit sie Essen für ihre hungrigen Kinder hatten. Von den dreizehn Ratsmitgliedern war mein Freund Auxila, Verwalter der Vorräte und königlicher Aufseher über die Tiere und die Ackerflächen, als Einziger nicht anwesend. Vor fünf Sonnen, bei unserer letzten Zusammenkunft, brachte Auxila den König gegen sich auf, und jetzt schien er dafür zu büßen. Auxila ist ein guter Mann, und als Handelsratgeber des Königs weiß er gut Bescheid über die königlichen Finanzen. Ich würde diese Bürde niemals tragen wollen. Die Besitztümer eines Königs zu kennen heißt, die Grenzen von dessen Macht zu kennen. Galam, der die Beschlüsse von König Jaguar Imix verkündet und für zehn Drehungen des Kalenderrades Hüter des Tages ist, eröffnete die Versammlung: – Beim Worte von Jaguar Imix, bei seinem heiligen Worte, wir beginnen diese Versammlung zu Ehren des neuen geheiligten Gottes mit Namen Akabalam. Akabalam besitzt große Macht. Jaguar Imix verfügt hiermit, dass wir Akabalam bis ans Ende aller Tage verehren. – Ich bin der Erzieher von Prinz Rauch Lied, dem nächsten Herrscher von Kanuataba, und ich kenne alle bedeutenden Bücher auswendig. Ein Gott namens Akabalam wird in keinem davon erwähnt. Ich fragte den Hüter des Tages: – Welche Gestalt nimmt der Gott Akabalam an? – – Wenn Jaguar Imix die Zeit für Erklärungen für gekommen hält, werde ich es den Rat wissen lassen, Paktul. Ich kann nicht so tun, als verstünde ich, was seine Heiligkeit von der Welt weiß. – Und so beteten wir und verbrannten dem neuen Gott zu Ehren Weihrauch. Ich nahm mir vor, die großen Bücher von Kanuataba zu studieren und mich selbst auf die Suche nach der Gottheit Akabalam zu machen. Weil ich verstehen wollte, welcher Gott sich seiner Heiligkeit, dem König, geoffenbart hatte. Galam, der Hüter des Tages, sprach: – Ich verkünde hiermit den Beschluss des Königs, mit dem Bau einer großen neuen Pyramide nach Art der versunkenen Stadt von Teotihuacan zu beginnen, wo er dereinst bestattet werden wird. Das Fundament soll in zwanzig Tagen gelegt werden, weniger als tausend Schritt vom Palast entfernt. Der Turm für die Aufbahrung soll dergestalt errichtet werden, dass er zum höchsten Punkt des Sonnenstandes hin liegt und ein großes heiliges Dreieck mit dem Palast und der roten Zwillingspyramide bildet. – Meine Brüder klatschten zwei Mal in die Hände, als Zeichen der Anerkennung für den ruhmreichen Jaguar Imix. Doch als die Reihe an mir war, zwei Mal in die Hände zu klatschen, fragte ich Galam, den heiligen Boten, ob der Bau einer Pyramide klug sei in einer Zeit, in der kein Regen fällt: – Die Menschen von Kanuataba haben nichts zu essen, und auch jene, die man zur Arbeit heranziehen wird, um Steine zu schleppen, werden Hunger leiden. Für den Bau eines Tempels wird Gips benötigt, für dessen Herstellung unsere kostbarsten Bäume und Pflanzen verbrannt werden müssen, damit dem Gestein Wasser entzogen wird. Unsere Pflanzenwelt wird von Tag zu Tag spärlicher. Der See ist zu einer Pfütze geschrumpft, und unsere Wasserspeicher leeren sich. – Jacomo, der wollüstige Zwerg, sprach voller Zorn zu mir: – Du sollst wissen, Paktul, dass dem König Jaguar Imix vom Gott Akabalam geweissagt wurde, dass wir, geleitet vom Abendstern, einen Sternenkrieg gegen ferne Königreiche führen werden. Wir werden Sklaven und kostbare Dinge erobern. Unsere Soldaten haben einen neuen Weg gefunden, Lebensmittel haltbar zu machen, indem sie nämlich ihre Vorräte stärker salzen, und so werden wir selbst in weit entfernten Ländern Krieg führen können. Die große Dürre hat diese Städte geschwächt, sie sind nicht mehr imstande, sich gegen unser mächtiges Heer zur Wehr zu setzen. Jetzt wirst du verstehen, warum es dir nicht zusteht, den König infrage zu stellen! – Es gab keinen Einwand mehr. Jaguar Imix’ Macht leitet sich von seiner Fähigkeit ab, sich mit den Göttern zu verständigen, und diese Fähigkeit, je nachdem, wie ausgeprägt sie ist, entscheidet auch über den Rang eines jeden Ratsmitglieds. Dies nennen wir die Hierarchie des Göttlichen. Vernimmt Jaguar Imix die Stimme einer Gottheit, die ihm sagt, dies oder jenes sei so und nicht anders, und einer seiner Günstlinge vernimmt jene Stimme nicht, so gilt dieser als jemand, der nicht mit den Göttern reden kann. Er wird in der Hierarchie des Göttlichen herabgestuft oder sein Rang wird ihm gar aberkannt. Aber woher sollen das Wasser und das Holz und der Federschmuck für den Bau einer dreißig Mann hohen Pyramide kommen? Seine Heiligkeit behauptet, in fünf Perioden zu dreizehn Tagen, wenn der Abendstern näher zum Mond sinkt, werde der Regen kommen. Aber wird das tatsächlich so sein? Jaguar Imix würde unsere gesamten Wasserspeicher leer trinken, wenn Wasser in solcher Menge durch ihn hindurchfließen und ihn heiligen könnte; er glaubt nämlich, dass seine Heiligung der Weg zu unserer Rettung ist. Kein königlicher König von Kanuataba, Herrscher von der Götter Gnaden, kann böse sein – ich habe es selbst auf den steinernen Inschriften gesehen. Aber seine Heiligkeit ist unfähig, einen Fehler einzugestehen. Jaguar Imix glaubt, seine Macht ist so groß wie die Angst, die er den Menschen einzuflößen vermag. Ich wünschte so sehr, ich könnte ihn noch mit der gleichen Inbrunst verehren, wie ich es als Kind tat! Die Ratsversammlung löste sich auf. Wir verließen die Galerie und traten auf die breiten Stufen oberhalb des Königspalastes. Dort stand ich und sah etwas, was meinen Glauben für alle Zeit erschüttern sollte. Die Menschen vor dem Palast sangen, und ich sah Scharfrichter oben auf dem südlichen Zwillingsturm. Die blau bemalten Scharfrichter begannen mit ihrem Ritual. Der Lärm kam und ging, auf und ab, laut und leise. Die Stimmen der königlichen Scharfrichter steigerten sich zu einem schrillen, fast ohrenbetäubenden Kreischen, als der Platz in mein Blickfeld kam. Am Fuße der weißen Zwillingspyramide, nach Norden hin, hatte sich eine kleine adlige Menge versammelt. Händeklatschen scholl über den Platz. Die Farben der großen Pyramide, das Gelb, Rot und Gold, schimmerten wie die Sonne über einem blauen Meer, das wogte, als ob die Bestie, die in der Tiefe wohnt, sich erhoben hätte. Die blau bemalten Männer standen ganz oben auf den dreihundertfünfundsechzig Stufen. Einige schwenkten Räuchergefäße, aus denen der Rauch sich kräuselte. Der königliche Scharfrichter sprach: – Der große Akabalam empfiehlt diese Seele dem Reich des Himmels! – Akabalam. Wieder er! Der unbekannte Gott hat ein weiteres Opfer gefordert, dieses Mal in Gestalt einer Menschenseele. Als der königliche Scharfrichter die Feuersteinklinge in den Oberkörper des Mannes stieß und den Brustkorb aufriss, stieß der Mann auf dem Altar ein Wehklagen aus, das mir für alle Zeit in den Ohren gellen wird. Und während der Scharfrichter in die geöffnete Brust griff, um dem Sterbenden das Herz herauszureißen, vernahmen wir trotz des Tumultes die Stimme des Opfers, und seine Worte waren Vorboten dessen, was kommen würde, so düster wie das Ende des dreizehnten Zyklus: – Akabalam ist nichts als Lüge! – Ich erkannte die Stimme sofort. Es war Auxila, mein Freund, dreitausend Sonnen lang ein Vertrauter und Ratgeber des Königs, der geopfert worden war. Ein Klingeln dröhnte in meinen Ohren. Ich sah, wie das Leben aus Auxila wich, und überall sah ich Vorzeichen in den Wolken. Die Götter forderten nur ein einziges Mal binnen fünfzehntausend Sonnen, dass ihnen ein hoher Adliger geopfert wurde. Konnte es Zufall sein, dass die Götter nur fünf Tage, nachdem Auxila sich gegen die Pläne des Königs ausgesprochen hatte, ein Menschenopfer verlangten? Gibt es solche Zufälle? Hinter der lärmenden Menge sah ich Haniba, Auxilas Frau. Sie stand da wie versteinert und sah zu, wie die Scharfrichter ein weiteres Mal um den Leichnam herumschritten. Mein Herz war voller Kummer für sie und für ihre Kinder, Geflammte Feder und Schmetterling Ohnegleichen, die weinend neben ihr standen. Die blutbesudelten Priester schafften Auxilas Leichnam zurück in den Tempel. Sie erwiesen ihm nicht einmal die Ehre, ihn die Stufen der großen Pyramide hinunterzuwerfen. Sie entzogen die Leiche den Blicken aller, und ich wusste, sie würden erst in der schwärzesten Nacht wieder herauskommen, dann, wenn der Abendstern im vollkommenen Winkel zum Tempel stand. Wie ich so auf den Stufen des Königspalastes verharrte und Zeuge dieses Irrsinns wurde, fasste mich plötzlich jemand von hinten am Knie. Ich drehte mich um. Es war Jacomo, der Zwerg, der hinzugetreten war. Er kaute immer noch auf seinem Stück Rinde herum und lächelte. Er sprach: – Gelobt sei der Name von Jaguar Imix, dem heiligen Herrscher von Kanuataba, dessen Weisheit uns durchs Leben führt. So sei es, nicht wahr, Paktul? – Ich hätte ihn am liebsten geschlagen, aber ich bin kein Mann der Gewalt. Und so antwortete ich nur: – Gelobt sei der Name von Jaguar Imix, dem heiligen Herrscher von Kanuataba, dessen Weisheit uns durchs Leben führt. – Erst als ich in dieser Höhle war, wo ich begann, das geheime Buch zu malen, ließ ich den Schrei entweichen, den ich in mir gefangen gehalten hatte. Nur die Götter hörten ihn. Was soll ich von einem Gott halten, der uns keine segensreichen Gaben gebracht hat, der den Bau eines Tempels befiehlt, den wir nicht errichten können, und der den Tod eines Mannes fordert, der dem König treu ergeben war? Wer ist dieser mächtige und geheimnisvolle neue Gott namens Akabalam? 12.19.19.17.12 – 13. DEZEMBER 2012 15 Die Schnellstraße 10 war nahe Cloverfield gesperrt worden, damit die Nationalgarde Lebensmittel und andere Hilfsgüter in die westlichen Stadtteile transportieren konnte. Stanton fuhr auf Nebenstraßen, vorbei an verlassenen Einkaufszentren, Grundschulen und Autowerkstätten. Obwohl kaum Fahrzeuge unterwegs waren, ging es nur langsam voran, weil die Nationalgarde im Abstand von ungefähr einer Meile Kontrollpunkte errichtet hatte. Der Gouverneur von Kalifornien hatte dem umstrittenen Plan von Cavanagh und Stanton zugestimmt und den Notstand ausgerufen, damit erstmals in der Geschichte der USA eine ganze Stadt unter Quarantäne gestellt werden konnte. Die Nationalgarde sicherte die Grenzen: vom San Fernando Valley im Norden bis zu den San Gabriel Mountains im Osten und Orange County im Süden. Es durften keine Maschinen starten oder landen. Im Westen, auf dem Pazifik, hatte die Küstenwache fast zweihundert Boote im Einsatz, um den Hafen und die Küste zu überwachen. Bisher hatten die Einwohner von Los Angeles erstaunlich gelassen auf die Verhängung der Quarantäne reagiert und sich so kooperativ gezeigt, dass sogar die optimistischsten Politiker in Sacramento und Washington überrascht waren. Darüber hinaus wurde jeder, der sich in den vergangenen Tagen zu Besuch in L.A. aufgehalten hatte, sowie Einwohner, die die Stadt noch vor Verhängung der Quarantäne verlassen hatten, vom Seuchenzentrum auf Krankheitserreger getestet. Die Mitarbeiter des CDC machten jedes Flugzeug ausfindig, das in letzter Zeit vom Flughafen in L.A. gestartet war, spürten Bahnreisende anhand von Kreditkartenquittungen auf und ermittelten viele, die auf der Straße unterwegs waren, mittels der Mautstellen und durch Fotos von Radargeräten. Bis jetzt waren acht Fälle in New York, vier in Chicago und drei in Detroit aufgetreten; hinzu kamen die fast elfhundert Infizierten im Großraum Los Angeles. Stanton und die anderen Ärzte konnten für die Erkrankten nichts weiter tun, als ihnen ein möglichst angenehmes Umfeld zu schaffen. Bei den meisten Infizierten traten nach einer kurzen Inkubationszeit Schlafstörungen und starkes Schwitzen auf, dann kamen krampfartige Anfälle, Fieber und Insomnie dazu. Patienten, die drei Tage oder länger nicht mehr geschlafen hatten, waren am schwierigsten zu überwachen. Sie litten an Bewusstseinstrübung und hatten Panikattacken, schließlich kam es, wie auch bei Volcy und Gutierrez, zu Halluzinationen und zu gewalttätigen Ausbrüchen. Innerhalb einer Woche wären sie wahrscheinlich tot, das wusste Stanton, und er konnte nichts dagegen tun. Rund zwanzig Infizierte waren bereits gestorben. Stanton war auf dem Weg nach Venice. Der Anblick der Army-Geländewagen in Tarnfarben und der Männer und Frauen in gelbbrauner Uniform und mit umgehängtem Maschinengewehr auf dem Lincoln Boulevard hatte etwas zutiefst Verstörendes. Während Stanton vor dem Kontrollpunkt wartete, warf er einen Blick auf sein Handy, wo auf dem Display die aktualisierte Liste der Namen von Infizierten erschien. Die Opfer stammten aus jeder ethnischen Gruppe, jeder sozialen Schicht und praktisch jeder Altersgruppe. Das Tragen einer Brille hatte einige vor Ansteckung geschützt, aber viele, die eine Brille trugen, hatten sich trotzdem angesteckt. Die Einzigen, die offenbar immun waren gegen VFI, waren Blinde, deren Sehnerven keine Verbindung mehr zum Gehirn hatten, und Neugeborene. Die Sehnerven waren bei Babys noch nicht entwickelt, und solange die Hülle, die sie umgab, heranreifte, konnte der Krankheitserreger nicht ins Gehirn gelangen. Dieser Schutz blieb allerdings nur bis zum sechsten Lebensmonat erhalten, sodass das kein Trost für Stanton war. Er fuhr mit seinem Audi im Schritttempo auf den Kontrollpunkt zu. Auf der Liste standen die Namen von Ärzten und Schwestern, die er im Presbyterian Hospital kennengelernt hatte, sowie die von zwei Mitarbeitern des CDC, die er kannte und mochte. Dann entdeckte er auch die Namen von Maria Gutierrez und ihrem Sohn Ernesto. Stanton wusste, dass er eigentlich in der Lage sein sollte, mit dem Tod umzugehen. Und er hatte in seiner Laufbahn schon einige wirklich schlimme Fälle erlebt. Aber auf das hier war er nicht vorbereitet. Er brauchte jemanden, der ihn erdete, und normalerweise hätte er Nina angerufen. Nach ihrem letzten Besuch bei ihm war sie wieder aufs Meer hinausgefahren, und als er sie angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass VFI durch die Luft übertragen werden konnte, war ein unbehagliches Schweigen entstanden. Im Grunde hätte Stanton sie anweisen müssen, sofort an Land zu kommen und sich testen zu lassen. Doch da sie anscheinend keinerlei Symptome hatte, war es ihm lieber, wenn sie weit, weit weg blieb. In Bussen und öffentlichen Toiletten und in fast jedem Krankenhaus der Stadt waren pathogene Prionen gefunden worden, und nicht einmal den auf die Beseitigung gefährlicher Stoffe spezialisierten Reinigungsfirmen war es gelungen, die Kontaktflächen zu dekontaminieren. Sein Handy klingelte. »Stanton.« »Hier ist Chel Manu.« »Dr. Manu! Sind Sie schon weitergekommen?« Sie erzählte ihm von dem Vater-Sohn-Glyphenpaar, von der Entdeckung, die sie gemacht, und von dem ersten Teil der Handschrift, die sie übersetzt hatten. Stanton konnte ihr zwar nicht ganz folgen, aber ihre Klugheit beeindruckte ihn ebenso sehr wie die Tatsache, dass sie eine so komplizierte Sprache beherrschte und über so umfangreiches Geschichtswissen verfügte. Er hörte auch die Leidenschaft in ihrer Stimme. Er hatte zwar keinen Grund, dieser Frau zu trauen, aber die Energie, die sie ausstrahlte, hob seine Stimmung. »Im ersten Teil haben wir keine näheren geografischen Angaben gefunden«, fuhr sie fort. »Aber die Schilderung der Ereignisse ist sehr detailliert, und deshalb hoffen wir, dass der Schreiber uns später Genaueres über seinen Aufenthaltsort verraten wird.« »Wie lange werden Sie für den ganzen Text brauchen?«, wollte Stanton wissen. »Möglicherweise ein paar Tage.« »Wie lange haben Sie für diesen ersten Teil gebraucht?« »Etwa zwanzig Stunden.« Stanton warf einen Blick auf die Uhr. Dann hatte Chel durchgearbeitet genau wie er. »Haben Sie Schlafstörungen?« »Ich bin eingenickt und habe ein paar Minuten gedöst«, antwortete sie. »Ich habe bis jetzt gearbeitet.« »Haben Sie Familie hier in der Stadt?« »Nur meine Mutter, und der geht’s gut. Und Sie? Was ist mit Ihrer Familie?« »Ach, ich habe nur einen Hund. Und ihm und meiner Exfrau geht es auch gut.« Stanton fiel auf, dass ihm das Wort »Exfrau« so leicht über die Lippen gekommen war wie schon lange nicht mehr. Chel seufzte. Dann sagte sie: »Majun wonombam.« »Was bedeutet das?« »Das ist ein Gebet der indígenas und bedeutet so viel wie: Möge keiner zurückbleiben.« Stanton schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Rufen Sie zuerst mich an, wenn Sie irgendwelche Symptome haben.« *** Auf der Strandpromenade konnte man nur selten das Rauschen der Brandung hören, aber an diesem Abend waren die Wellen das Einzige, was Stanton hörte. Die lärmenden Jugendlichen, die normalerweise vor den Haschläden herumlungerten, waren ebenso verschwunden wie die ausgelassen Feiernden unten am Strand. Stanton stellte seinen Wagen unter dem gigantischen Wandgemälde von Abbot Kinney ab. Der Boardwalk war wie leer gefegt. Die Polizei hatte die Leute nach Hause oder in eine Obdachlosenunterkunft geschickt. Doch wenn es darum ging, sich zu verstecken, gehörten die Leute vom Ocean Front Walk zu den erfinderischsten in der Stadt. Stanton nahm die sechs Packungen mit Schutzbrillen, die er aus dem Labor mitgenommen hatte, und steckte sie in seine Tasche. Er hatte zwar tausend Dinge zu erledigen, aber die Freaks vom Boardwalk waren seine Freunde und Nachbarn. Und wenn er etwas für sie tun konnte, auch wenn es noch so lächerlich wenig war, dann wollte er es tun. Das Gefühl der Ohnmacht war schon groß genug. Als Erstes ging er zu den öffentlichen Toiletten, wo er in einer der Kabinen ein Pärchen entdeckte. Nachdem er den beiden zwei Schutzbrillen in die Hand gedrückt hatte, setzte er seinen Weg fort. In einer Nische zwischen zwei Tattoo-Läden stieß er auf einen Typen, den er flüchtig kannte. Er nannte sich der »Lustigste Säufer der Welt« und sang meistens »Lasst uns froh-ho und betrunken sein«. An diesem Abend sagte Marco nichts, und er sang auch nicht, sondern lachte nur dümmlich, als Stanton einen Augenschutz vor ihm auf den Boden legte. Hinter dem jüdischen Seniorenzentrum stand ein VW-Bus. Stanton öffnete die Tür und entdeckte vier Teenager, die einen Joint rauchten. »Willst du auch?«, fragte einer und hielt ihm die Haschzigarette hin. Stanton lehnte mit einer Handbewegung ab. »Da, setzt die auf, zu eurem eigenen Schutz«, sagte er und ließ ihnen ein paar Schutzbrillen da. Vor dem Haus des einzigen Schönheitschirurgen in Venice blieb er stehen und betrachtete das Graffiti, das mittels einer Schablone auf das Gesicht von BOTOX ON THE BEACH gesprüht worden war. Er hatte dieses Zeichen schon öfter hier in der Gegend gesehen, aber er hatte nie verstanden, was es mit 2012 zu tun hatte: Verwirrt ging er weiter in Richtung Süden. Er meinte sich zu erinnern, dass eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein griechisches und kein Maya-Symbol war. Aber in Zeiten wie diesen warfen die Leute alles in einen Topf und stellten die unglaublichsten Verknüpfungen her. Das Metallgitter am Groundwork Coffee war heruntergelassen, und im Fenster hing ein kleines Schild: GESCHLOSSEN, SOLANGE WIR ES SAGEN, VERDAMMTE SCHEISSE. In diesem Moment fiel Stanton ein, dass er jemanden vergessen hatte. Er machte kehrt. Wenige Minuten später stieg er ein paar Häuserblocks weiter nördlich die Treppe zur Venice Beach Freak Show hinauf und klopfte auf das gelbe Fragezeichen, das mitten auf die Tür gemalt war. Wenn sein Freund irgendwo daheim war, dann hier. »Monster? Bist du da?« Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Eine Frau unbestimmten Alters mit einer Haut wie Porzellan lugte heraus. Sie trug gestreifte Strümpfe und einen kurzen Rock. Die »Electric Lady« hatte krauses schwarzes Haar – die Stromstoßfrisur rührte angeblich daher, dass sie als Kind von einem Blitz getroffen worden war. Stanton hatte einmal gesehen, wie sie auf einem elektrischen Stuhl saß und einen mit Benzin übergossenen Stock mit der Zunge in Brand steckte. Sie war außerdem Monsters Freundin. Elektrisierend. »Wir sollen niemanden reinlassen«, sagte sie. Stanton hielt die Schachteln mit den Schutzbrillen hoch. »Die hier sind für euch, Leute.« Die Räumlichkeiten bestanden aus einem Saal und einer kleinen Bühne, auf der die Künstler Schwerter schluckten oder sich Dollarnoten auf die Haut tackerten. Die Electric Lady winkte Stanton nach hinten. Dann wandte sie sich wieder der weltgrößten Schau von Tieren mit zwei Köpfen zu, um sie zu füttern. Es gab »siamesische« Schildkröten, eine Albinoschlange mit zwei Köpfen, einen Leguan mit zwei Köpfen und einen Mini-Dobermann mit fünf Beinen. In Gläsern waren die toten Körper eines Huhns mit zwei Köpfen, eines Waschbären und eines Eichhörnchens konserviert. Stanton fand seinen tätowierten Freund in dem kleinen Büro ganz hinten. Kleidungsstücke waren über eine Pritsche in der Ecke verstreut. Monster saß am Schreibtisch, vor sich den alten Laptop, der sein ständiger Begleiter war. »Hey, Gabe. Dein Name taucht überall auf. Dachte, du wärst in Atlanta.« »Nein, ich sitze hier fest wie alle anderen auch.« »Was machst du hier in Venice? Müsstest du nicht in irgendeinem Labor sein?« »Mach dir deswegen keine Gedanken.« Stanton hielt einen Augenschutz hoch. »Tu mir einen Gefallen und setz den hier auf. Ich lass dir noch ein paar da, damit du sie an alle verteilen kannst, die noch keinen haben.« »Danke.« Monster nahm die Schutzbrille und streifte sich die Schlaufen hinter die Ohren mit den Ringen am oberen Rand. »Electra und ich haben gerade von dir geredet, Doc. Glaubst du diesen Scheiß, den der Bürgermeister von sich gibt?« »Was meinst du?« »Hast du es noch nicht gehört? Die Meldung kam vor ein paar Minuten. Du wirst auch erwähnt, ein paar Mal sogar.« Er drehte den Laptop herum, damit Stanton den Monitor sehen konnte. »Im Internet sind die internen E-Mails aufgetaucht, die in den acht Stunden vor und nach der Entscheidung über die Quarantäne vom Büro des Bürgermeisters verschickt worden sind. Auf der Website von einer dieser Enthüllungsplattformen. Die Seite wurde schon zwei Millionen Mal angeklickt.« Stanton bekam ein banges Gefühl, als er die Nachrichten überflog. Mails vom Seuchenzentrum an den Bürgermeister, die davor warnten, wie schnell sich die VFI-Fälle ausbreiten könnten. Lakonische Anfragen aus der Stadtverwaltung, mit wie vielen Todesopfern innerhalb der nächsten Woche zu rechnen sei. Kommentare darüber, dass angesichts der Unzerstörbarkeit des Prions öffentliche Plätze und Gebäude nicht dekontaminiert werden konnten und Teile von L.A. deswegen vielleicht für alle Zeit unbewohnbar sein würden. »Das sind wilde Spekulationen über Worst-Case-Szenarien«, sagte Stanton. »Keine Fakten.« »Wir haben 2012, Bruder – das macht keinen Unterschied mehr.« In einem anderen Online-Artikel wurde die Vermutung geäußert, Volcy könne den Erreger aus irgendeinem politischen Grund absichtlich eingeschleppt haben. »Das ist lächerlich«, murmelte Stanton kopfschüttelnd. »Das hindert die Leute nicht daran, es zu glauben. Da draußen laufen ’n Haufen Verrückte rum, die sich einen Scheiß um Fakten kümmern. Und nicht bloß 2012er. Die Leute haben Angst, also sei lieber vorsichtig. Dein Name steht hier, Kumpel, vergiss das nicht.« Stanton sorgte sich nicht um sich selbst, aber er fragte sich, wie die Öffentlichkeit reagieren würde, wenn die Zuständigen unverhohlene Angst zeigten. Die Ruhe auf den Straßen war trügerisch, und die Lage könnte ganz schnell kippen. Stanton klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Behalt den Augenschutz auf. Und wenn du sonst noch was brauchst, du weißt ja, wo du mich findest.« *** Als Stanton nach Hause kam, waren die Möbel umgestellt und das Unterste zuoberst gekehrt. Das Wohnzimmersofa und der Esstisch waren hochkant in die Küche gequetscht worden. Zwei zusammengerollte Teppiche standen brusthoch in den Ecken, auf den Arbeitsflächen stapelten sich die Bücher vom Couchtisch, und daneben standen Lampen und anderer Krimskrams. Sie brauchten jeden verfügbaren Platz. »Bist du das, Schatz?« Stanton fand Alan Davies im Wohnzimmer an einem Labortisch sitzend. Wo vorher die Möbel gestanden hatten, befanden sich jetzt Aufbewahrungsboxen, Mikroskope, Zentrifugen und anderes Laborgerät. Es roch nach Desinfektionsmittel. Mit der Einrichtung dieses Labors in Stantons Privathaus verstießen sie gegen eine ausdrückliche Anweisung, und da sie alles heimlich aus dem Forschungszentrum hatten herausschmuggeln müssen, beschränkte sich die Ausrüstung auf das Nötigste. So mussten sie auch Reagenzgläser, Glasbecher und andere gläserne Gerätschaften immer wieder spülen, damit sie sie wiederverwenden konnten. Auf dem Fernsehschrank standen Abtropfgestelle, in denen schon die nächsten Gläser warteten. »Und, gefällt’s dir?«, fragte Davies und blickte kurz von seinem Mikroskop auf. Stanton konnte es nicht fassen, dass sein Partner selbst jetzt noch perfekt gekleidet war: weißes Hemd, rosa Schlips, blaue Hose. Im Fernsehen lief CNN. »Einreisebeschränkungen für amerikanische Staatsbürger in fünfundachtzig Ländern … Bioterrorismus mögliche Ursache … E-Mails aus dem Büro des Bürgermeisters an die Öffentlichkeit gelangt. YouTube-Videos zeigen Plünderungen in Koreatown und brennende Häuser …« »Großer Gott«, murmelte Stanton bestürzt. »Es gibt schon Plünderungen?« »Die Anspannung entlädt sich in Krawallen«, erwiderte Davies. »In L.A. ist das praktisch ein Lebensstil.« Stanton rannte aus dem Haus und in seine Garage. Hinter Kartons mit wissenschaftlichen Zeitschriften, Andenken an Notre-Dame und veraltetem Fahrradzubehör war ein kleiner Safe versteckt. Dort bewahrte er eine selbst zusammengestellte Notfallausrüstung für den Fall eines Erdbebens und/oder eines Tsunami auf: Tabletten zur Wasseraufbereitung, eine Trillerpfeife und einen Spiegel, damit er Signale geben konnte, tausend Dollar in bar und eine 9mm Smith & Wesson. Davies guckte zur Tür herein. »Wusst ich’s doch, dass du Republikaner bist.« Stanton beachtete ihn nicht. Er vergewisserte sich, dass die Waffe geladen war, und legte sie in den Safe zurück. »Wie weit sind wir mit den Mäusen?« »Wenn wir Glück haben, müssten die Antikörper morgen so weit sein«, antwortete Davies. Stanton nickte und folgte ihm zurück ins Haus. Er konnte nicht einfach die Hände in den Schoß legen. Er musste weiter nach einer Therapie suchen, und deshalb hatten sie heimlich das Labor hier eingerichtet. Im Esszimmer standen ein Dutzend Käfige, jeder mit einer Maus darin, auf dem Holzfußboden. Nur ging es dieses Mal nicht darum, die Mäuse sozusagen angstfrei zu machen – dieses Mal wurden sie mit VFI infiziert. Stanton hoffte, dass sie Antikörper bilden würden, mit denen die Krankheit bekämpft werden konnte. Normalerweise würde dieser Vorgang Wochen dauern, das wussten sie aus den bisherigen Testreihen. Aber Davies hatte ein Verfahren entwickelt, mit dem sich eine extrem hohe Konzentration reiner VFI-Prionen herstellen ließ, sodass die Reaktion schneller ablief. Einige Mäuse hatten schon angefangen, Antikörper zu bilden. Jemand klopfte laut an die Vordertür. Stanton, der vor den Käfigen in die Hocke gegangen war, richtete sich auf und ging zur Tür. Michaela Thane sah aus, als hätte sie vier Wochen lang Nachtschicht gehabt. Ihre Haare waren zerzaust, ihr Gesicht abgezehrt und hohlwangig. Da das Presbyterian unter Quarantäne stand und praktisch alle Patienten in andere Krankenhäuser verlegt worden waren, hatten sich auch die Dienstpläne der Ärzte geändert. Es gab keinen Schichtdienst mehr, deshalb hatte Stanton es so eingerichtet, dass Thane Vollzeit in seinem Team mitarbeiten konnte. »Ein Glück, dass Sie gut hier angekommen sind«, begrüßte er sie. »Alles okay. Musste bloß an einem Kontrollpunkt warten, bis ungefähr hundert Streifenwagen und Löschzüge in die entgegengesetzte Richtung gerast waren. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg dorthin, wo diese Vollidioten Häuser in Brand stecken.« Als sie eintrat und die ganzen Laborgeräte sah, schaute sie Stanton so entgeistert an, als wollte er Frankensteins Monster zusammenbasteln. »Wir geben Ihnen für den Rückweg jemanden mit, der Sie begleitet«, sagte Stanton. »Haben Sie mir meinen Tee mitgebracht?«, rief Davies. »Bitte, lieber Gott, mach, dass in dieser gottverlassenen Welt noch ein kleiner Rest Würde geblieben ist!« Thane hielt eine Einkaufstüte hoch. »Was zum Teufel ist denn hier los?« Davies grinste. »Willkommen am Ende unserer beruflichen Karriere!« *** Zehn Minuten später versuchte Thane immer noch zu begreifen, was es mit dem provisorischen Labor und der Geheimniskrämerei auf sich hatte. »Das versteh ich nicht. Wenn wir Antikörper herstellen können, wieso dürfen wir sie dann nicht einsetzen?« »Sie könnten eine allergische Reaktion hervorrufen«, erklärte Stanton. »Bei ungefähr dreißig Prozent der Patienten.« Davies hielt sich seinen Becher Schwarztee unter die Nase und atmete tief ein. »Es wird Jahre dauern, bis die FDA Antikörper von Mäusen als Therapie bei Prionenerkrankungen zulassen wird.« Thane zuckte die Schultern. »Aber die Opfer sterben doch sowieso!« »Ja, aber so kann man weder das CDC noch die FDA dafür verantwortlich machen«, sagte Stanton. »Wir haben die Vorschriften nicht gemacht«, warf Davies ein. »Wir verletzen sie nur. Dummerweise überwacht Deputy Cavanagh uns auf Schritt und Tritt, und sobald wir uns einem Krankenbett nähern, wird uns jemand über die Schulter schauen.« »Mich wird keiner überwachen«, sagte Thane langsam. Jetzt war ihr klar, warum sie hergebeten worden war. »Ich habe immer noch Patienten auf der Intensivstation. Ich kann jederzeit rein.« Schon allein die Einrichtung dieses Labors könnte alle drei die Approbation kosten, aber wer Verwundete mit dem Helikopter aus einem Kriegsgebiet geholt hatte, scheute sich nicht, für seine Patienten ein Risiko einzugehen. Stanton hatte Thane schon oft dabei beobachtet, wie sie mit ihren Patienten und auch mit ihren Kollegen umgegangen war. Er spürte instinktiv, dass er ihr vertrauen konnte. »Sie dürfen mit niemandem darüber reden«, sagte Davies eindringlich. »Ich würde mich nicht sehr wohl fühlen in einem amerikanischen Gefängnis, glauben Sie mir.« »Als Testperson kommt jeder infrage, nicht wahr?«, fragte sie. Stanton nickte. »Vorausgesetzt, die Krankheit ist noch nicht zu weit fortgeschritten. Höchstens zwei oder drei Tage. Danach ist nichts mehr zu machen.« »Dann habe ich eine Bedingung.« Stanton sah sie aufmerksam an. »Und was wäre die eine Bedingung?« 16 Der Sicherheitsdienst im Getty Museum wurde massiv verstärkt, als es in immer mehr Stadtteilen zu Plünderungen und Brandstiftung kam. Das Museum in Bagdad hatte während der Belagerung 2003 Kostbarkeiten von unschätzbarem Wert verloren, und das wollte man unbedingt verhindern, falls es in L.A. zum Äußersten kommen sollte. Das Museum, in das sich Chel und ihr Team vor zwei Tagen zurückgezogen hatten, glich einer Festung und war somit einer der sichersten Orte in der Stadt. Chel sorgte sich mehr um die Sicherheit der in Los Angeles lebenden indígenas als um sich selbst. Sie hatte einen Fernseher ins Labor gekarrt, und in den Nachrichten wurde gemeldet, dass es trotz der Ausgangssperre überall in der Stadt zu Versammlungen von 2012ern kam. Vor dem Ausbruch von VFI war es bei diesen Treffen um die Erneuerung des Bewusstseins oder um die innere Vorbereitung auf die kommende Apokalypse gegangen. Doch laut CNN war angesichts der Quarantäne die Stimmung umgeschlagen. Die Menschen waren verzweifelt und suchten nach einem Sündenbock. Vielleicht, so sagten sie, sei es ja kein Zufall, dass ein Nachfahre der Maya nur wenige Tage vor dem 21. Dezember diese Krankheit in die USA eingeschleppt habe. In Century City waren indígenas bedroht, ihre Häuser mit Graffiti beschmiert worden. In East L. A. war ein älterer Honduraner von seinem Nachbarn brutal zusammengeschlagen worden. Auslöser war eine hitzige Diskussion über das Ende des Langzeitkalenders gewesen. Jetzt lag der alte Mann im Koma. Da man sich bei Fraternidad ebenfalls um die Sicherheit der indígenas sorgte, hatte der Erzbischof ihnen großzügig Asyl in der Kathedrale Our Lady of the Angels gewährt. Mehr als einhundertsechzig Maya wohnten jetzt auf unbestimmte Zeit in dem Gotteshaus. Chels Mutter war nicht unter ihnen. Als Chel sie angerufen und ihr dringend geraten hatte, mit den anderen mitzugehen, hatte Ha’ana erwidert, sie denke gar nicht daran und sie werde in ihrem Bungalow in West Hollywood bleiben. »Es hat geheißen, wir sollen das Haus nicht verlassen, damit wir uns nicht anstecken.« »Jeder wird von einem Arzt auf VFI untersucht, bevor er hereingelassen wird. Es gibt keinen sichereren Ort als die Kirche, Mom.« »Ich wohne seit dreiunddreißig Jahren in diesem Haus, und ich bin noch nie von irgendjemandem belästigt worden.« »Dann tu’s für mich«, bat Chel. »Und was ist mit dir?« »Ich muss arbeiten, es geht nicht anders. Ich bin an einem Projekt, bei dem die Zeit extrem drängt. Hier im Museum ist es absolut sicher, es ist ja alles zu.« »Das bringst auch nur du fertig, in so einer Situation zu arbeiten. Wie lange wirst du noch brauchen?« Chel war nach Hause gefahren, hatte ein paar Sachen in einen Koffer geworfen und war dann sofort wieder ins Museum zurückgekehrt. Sie würde hierbleiben, solange es nötig war. Statt die Frage zu beantworten, sagte sie: »Mir wäre wirklich wohler, wenn ich wüsste, dass du in der Kirche bist, Mom.« Das Telefonat war für beide Frauen gleichermaßen frustrierend. Als sie aufgelegt hatte, genehmigte Chel sich eine Zigarettenpause am Teich auf dem Museumsgelände. Ein Signalton auf ihrem Handy kündigte den Eingang einer E-Mail an. Sie war von Stanton und lautete kurz und bündig: Irgendwas Neues? Wie sie vermutet hatte, war er nicht der Typ für viele Worte. Sie begann, einen langen, ungehaltenen Kommentar über den Stand der Dinge einzutippen, brach dann aber mittendrin ab. Wozu tausend überflüssige Einzelheiten aufzählen? Darauf konnte Stanton sicherlich verzichten. Er hatte selbst genug am Hals. Und so antwortete sie stattdessen: Machen Fortschritte mit der Übersetzung. Noch keine Ortsangabe. Machen weiter, bis wir etwas finden. Ohne nachzudenken, fügte sie hinzu: Wie geht es Ihnen? Sie schickte die Nachricht ab und kam sich im gleichen Moment dumm vor. Wie sollte es ihm schon gehen? Sie wusste ganz genau, wie es ihm ging. Doch zu ihrer Überraschung bekam sie Sekunden später eine Antwort: Arbeiten hart, um voranzukommen. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden. Passen Sie auf sich auf. Sie und Ihr Team müssen gesund bleiben. Rufen Sie an, wenn Sie irgendetwas brauchen. Gabe Seine Worte hatten etwas Beruhigendes und Anspornendes zugleich. Betrachtete er sie inzwischen doch als jemanden, der dazu beitragen könnte, die Krise zu bewältigen? Vielleicht konnte sie das wirklich. Sie drückte ihre Zigarette aus und ging wieder hinein. Rolando breitete mit einer Pinzette weitere winzige Fragmente der Handschrift auf dem Rekonstruktionstisch aus. Sie hatten den Kodex komplett aus der Kiste herausgenommen und jedes Blatt mehrmals fotografiert. Und nachdem das Vater-Sohn-Glyphenpaar entschlüsselt worden war, hatten sie die ersten acht Seiten rekonstruiert. Bereits jetzt stand fest, dass dieser Fund ein Meilenstein in der Geschichte der Maya-Forschung war – nicht nur wegen des Ich-Erzählers, sondern weil Paktuls Bericht ein politischer Protest war: Er äußerte Zweifel an seinem Herrscher und, was noch viel unerhörter war, an einer Gottheit. Ganz egal, was mit ihr oder mit ihrer Karriere geschehen mochte, irgendwann würde die Welt von diesem sonderbaren Geschenk der Geschichte erfahren, und das tröstete Chel. Dieses Buch war das Werk eines moralischen, gebildeten Mannes, der sein Leben für seine Überzeugung aufs Spiel setzte – zweifellos ein Zeugnis für die Menschlichkeit ihrer Vorfahren. Doch das alles war im Moment zweitrangig. Viel wichtiger war es, herauszufinden, wo der Kodex entstanden war, damit der Infektionsherd der tödlichen Krankheit gefunden wurde. Weder Chel noch sonst jemand aus ihrem Team hatte den Namen Kanuataba je zuvor gehört. Der Schreiber sprach auch von der »Terrassenstadt«. Die Anlage von Terrassen zur Gewinnung von landwirtschaftlichen Flächen an steilen Hängen war im ganzen Maya-Reich bekannt gewesen, daher half ihnen diese Bezeichnung auch nicht weiter. »Taucht in den Datenbanken etwas über Akabalam auf?«, fragte Rolando. Chel schüttelte den Kopf. »Ich hab’s auch an Yasee in Berkeley und an Francis in Tulane geschickt, aber die konnten mir auch nicht weiterhelfen.« Rolando fuhr sich durch die Haare. »Gegen Ende zu taucht die Glyphe fast in jedem Fragment auf. Ich hab immer noch keinen blassen Schimmer, was sie zu bedeuten hat.« In keinem bisher bekannten Schriftstück waren Bildsymbole, die sich auf eine einzige Gottheit bezogen, in einer solchen Häufung aufgetreten. Solange sie nicht wussten, was diese Glyphe zu bedeuten hatte, würde die Übersetzung unvollständig bleiben. »Das ist keine Frage der Syntax wie bei der Vater-Sohn-Kombination«, fuhr Rolando fort. »Es sieht eher so aus, als ob Paktul die letzten Seiten ganz dieser Gottheit widmen würde.« Chel nickte zustimmend. »So wie adonai in der jüdischen Thora, was sowohl Gott als auch Lobet Gott bedeuten kann.« »In manchen Fragmenten klingt es allerdings so, als würde der Schreiber sich negativ über Akabalam äußern«, bemerkte Rolando. »Seinem Zorn auf einen Gott offen Ausdruck zu verleihen grenzt an Ketzerei, oder?« »Das ganze Buch ist Ketzerei. Im ersten Glyphenblock kritisiert er seinen König. Das allein hätte ihm die Todesstrafe einbringen können.« »Schön, dann suchen wir eben weiter.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und was ist mit Seite sieben?« »Was soll damit sein?« Rolando wandte sich dem betreffenden Abschnitt zu. »Na ja, ich schätze, ich bin ganz einfach neugierig, wie du den Hinweis auf das Ende des dreizehnten Zyklus interpretieren willst«, sagte er ein wenig verlegen. Und während der Scharfrichter in die geöffnete Brust griff, um dem Sterbenden das Herz herauszureißen, vernahmen wir trotz des Tumultes die Stimme des Opfers, und seine Worte waren Vorboten dessen, was kommen würde, so düster wie das Ende des dreizehnten Zyklus. Chel setzte sich. Der fünftausendjährige Langzeitkalender – die Lange Zählung – war in Perioden von jeweils ungefähr 395 Jahren unterteilt, und am 21. Dezember 2012 endete der bedeutsame dreizehnte Zyklus – das Ende der Langen Zählung. Eine in Stein gemeißelte kleine Inschrift in den Ruinen von Tortuguero in Mexiko – Der dreizehnte Zyklus wird das Ende bringen – hatte die Entstehung einer ganzen heimischen Industrie befördert und zu einer kultischen Verehrung des Maya-Kalenders geführt. Wenn die 2012er, die sich durch den Ausbruch von VFI ohnehin schon in ihren Theorien bestätigt sahen, erfuhren, dass in dem Buch vom Ende des dreizehnten Zyklus die Rede war, würden sie vollends ausflippen, zumal das Auftauchen des Buches mit dem Ausbruch der Epidemie verknüpft war. Chel spähte unbehaglich zu der Gegensprechanlage neben der Labortür. Im Notfall könnte sie damit den am Fuß des Hügels postierten Sicherheitsdienst alarmieren. Sie hoffte nur, dass sie das nie tun musste. »Er könnte genauso gut einen Tzolk’in-Zyklus von dreizehn Tagen meinen«, erwiderte sie achselzuckend. »Vielleicht hat der Hinweis gar nichts mit der Langen Zählung zu tun.« Sie wusste nicht, ob sie das selbst glaubte, aber sie wollte sich jetzt weder von den 2012ern ablenken lassen noch ihnen irgendetwas an die Hand geben, das Wasser auf ihre Mühlen war. Einer dieser 2012er betrat in diesem Moment das Labor und schnappte Chels letzte Sätze auf. Victors kurze weiße Haare waren nass und nach hinten gekämmt, als käme er gerade aus der Dusche, und diesmal war sein unvermeidliches Polohemd grün. »Lasst euch nicht stören«, sagte er. Chel hatte die Tatkraft dieses Mannes, der inzwischen Mitte siebzig war, schon immer bewundert. Sie erinnerte sich, wie er früher zwölf Stunden ununterbrochen an der Dechiffrierung von Glyphen gearbeitet hatte, ohne ein einziges Mal Pause zu machen, um etwas zu essen oder auf die Toilette zu gehen. Und an der Übersetzung dieser Handschrift war er maßgeblich beteiligt gewesen. Ohne ihn wären sie nie so weit gekommen. Aber bei aller Dankbarkeit wollte sie das Thema 2012 in seiner Gegenwart lieber nicht anschneiden. »Der Hinweis auf den dreizehnten Zyklus kann beliebig interpretiert werden«, fuhr er fort und sah dabei erst Chel, dann Rolando an. »Ja, das sehe ich auch so«, erwiderte Chel vorsichtig. »Ich schau mal in den Computern nach«, sagte Rolando. Er verließ das Labor. Victor hüstelte. »Es gibt vieles, was beliebig interpretiert werden kann; das hängt von der persönlichen Anschauung der Leute ab. Ich glaube, wir sollten uns im Moment auf wichtigere Dinge konzentrieren, meinst du nicht auch?« Chel atmete auf. »Doch, das meine ich auch. Danke, Victor.« Er hielt seine Kopie der Übersetzung hoch. »Gut. Dann wollen wir mal.« Er legte die Hand auf Chels Schulter, und sie legte ihre Hand einen Augenblick auf seine. »Als Erstes sollten wir über die Begleitumstände des Zusammenbruchs diskutieren.« »Was für Begleitumstände?« »Nun, es ist denkbar, dass dieses Buch uns etwas über den Untergang des Herrscherreichs erzählt, auf das wir nicht vorbereitet sind. Was entnimmst du Paktuls Schilderung von seiner untergehenden Stadt?« »Eine extreme Dürre hat sie heimgesucht, die Menschen kämpfen verzweifelt ums Überleben. Auf den Märkten gibt es nichts mehr zu kaufen, die Kinder hungern. Wenn wir von der Kapazität der damaligen Wasserspeicher ausgehen, muss die Trockenheit also seit mindestens achtzehn Monaten andauern.« »Wir wissen, dass es Dürreperioden gab. Aber was ist mit der Anspielung auf die Haltbarmachung von Lebensmitteln?« Unsere Soldaten haben einen neuen Weg gefunden, Lebensmittel haltbar zu machen, indem sie nämlich ihre Vorräte stärker salzen, und so werden wir selbst in weit entfernten Ländern Krieg führen können. »Was soll damit sein?«, fragte Chel verständnislos. »Das Einpökeln ist eine bedeutende Neuerung in der Kriegführung«, erklärte Victor. »Feldzüge scheiterten oft an der Versorgung mit Nachschub. Eine neue und bessere Methode der Lebensmittelkonservierung durch Einsalzen könnte zu einer effektiveren Kriegführung geführt haben.« »Was willst du damit sagen?« »Ich will damit nur sagen, dass die Fähigkeit, häufiger Krieg führen zu können, die Stadt letztendlich anfälliger gemacht hat.« »Anfälliger wofür?« »Für alles.« Jetzt begriff Chel. Victor hatte diesen Standpunkt schon lange vor seiner 2012-Hysterie vertreten. Er war der Ansicht, dass die Maya mit dem Bau großer Städte – auch wenn die noch so prunkvoll gewesen sein mochten – die selbstzerstörerischen Exzesse despotischer Herrscher gefördert hatten. »Die Könige des Altertums hätten tausend Jahre regieren können, wenn es nicht immer wieder so extreme Trockenzeiten gegeben hätte«, erwiderte sie kopfschüttelnd. »Sie verfügten über Technologien, die sie hervorragend zu nutzen verstanden.« Victor war anderer Meinung. »Vergiss nicht, dass die Maya, solange sie in den Regenwäldern lebten, sehr viel längere Trockenzeiten überstanden haben als jemals in den Städten. Als sie nach der klassischen Periode in den Dschungel zurückgegangen sind und keine Tempel mehr errichtet und keine Kriege mehr geführt und ihr ganzes Holz nicht mehr für die Herstellung von Gips verbrannt haben, haben sie die Trockenheit ganz gut überstanden.« »Du meinst also, die edlen Wilden konnten nur im Dschungel überleben? Weil sie dem Druck der Zivilisation nicht gewachsen waren?« Bevor Victor antworten konnte, ging die Tür auf, und Rolando steckte den Kopf herein. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich hab da was, das müsst ihr beide euch unbedingt ansehen.« *** Im hinteren Teil des Labors standen vier Computer, die mittels hochmoderner Bildprogramme Maya-Glyphen entzifferten und Textlücken mit den entsprechenden Symbolen füllten. Da jeder Schreiber seinen eigenen, unverwechselbaren Stil hatte, waren selbst bekannte Bildsymbole oft so gemalt, dass man sie nicht ohne Weiteres erkennen konnte. Das Computerprogramm berechnete nun die Abstände zwischen den Pinselstrichen und verglich die Glyphen anschließend mit bereits bekannten, ähnlich ausgeführten Glyphen, wobei es Details erkannte, die dem menschlichen Auge entgingen. Rolando zeigte auf eine Abfolge von leicht verschnörkelten Linien aus der Handschrift. »Seht ihr das? Der Computer meint, das könnte eines der Symbole für Skorpion sein, so wie sie in Copal zu sehen sind. Ich glaube, das ist ein Hinweis auf ein Sternbild.« Die Sonne und die Sterne hatten das Leben vieler Völker beeinflusst: Ihr Stand bestimmte, wann welcher Gott verehrt, wie ein Kind genannt, welche Rituale vollführt, welche Nahrungsmittel gegessen, welche Opfer dargebracht wurden. Die Maya hatten zum Teil die gleichen Konstellationen studiert und verehrt wie die alten Griechen und die alten Chinesen. Niemand wusste, ob die Maya ihre eigenen Sternbilder entwickelt oder jene übernommen hatten, die über die Beringstraße von Asien auf den amerikanischen Kontinent gebracht worden waren. Wie dem auch sei – es gab erstaunliche Parallelen. »Wenn wir jetzt die entsprechende Ersetzung vornehmen«, fuhr Rolando fort, »würde dieser Satz hier folgendermaßen lauten: Als der große Morgenstern den rötesten Teil des großen Skorpions am Himmel durchwandert hatte.« Chel begriff sofort, was das bedeutete. »Wir könnten versuchen, die Position der Venus zu dem Zeitpunkt zu bestimmen, als Paktul das Buch schrieb.« »Ich gehe davon aus, dass sich noch mehr Hinweise auf Sternbilder im Text finden«, sagte Rolando. »Der Computer sucht schon danach.« »Wir brauchen einen Experten für Archäoastronomie«, warf Victor ein. »Patrick arbeitet manchmal doch auch mit Sternbildern, oder?« Chels Magen zog sich zusammen. »Weiß vielleicht irgendwer, wo wir ihn finden können?«, fragte Rolando. Chel wusste es natürlich. Patrick hatte ihr eine Mail geschickt, als die Quarantäne verhängt wurde, um sich zu erkundigen, ob es ihr gut ging. Um ihr zu sagen, dass er für sie da sei, falls sie irgendetwas brauchte. Sie hatte ihm nicht einmal geantwortet. 17 Meine scharlachroten Federn sind blau und gelb gestreift. Als ich hierherkam, war ich halb verhungert, und ich wäre vielleicht gestorben, wenn er mich nicht gerettet hätte. Ich flog mit meinem Schwarm, aber ich habe die anderen verloren, als wir durch Kanuataba zogen, und nur der Schreiber erhielt mich am Leben. Ich fraß die Würmer, die er aus der Erde zog. Es hat so lange nicht mehr geregnet, dass sogar die Würmer dürr und schrumpelig sind. Ein scharlachroter Ara, der in meine Höhle geflogen ist, gibt mir, Paktul, königlicher Schreiber von Kanuataba, Kraft und Hoffnung. Bei meiner Geburt wurde mir der Ara als mein Krafttier zugewiesen, und immer wenn ich in meinem Leben einem begegnet bin, war er ein wichtiges Omen. Dieser hier kam in der Nacht, als Auxila ermordet wurde. Er war verletzt, und ich gab ihm Würmer zu fressen, weil ich keine Samenkapseln habe, die ich ihm geben könnte, und dann hieß ich ihn mit Blutstropfen aus meiner Zunge willkommen. Dadurch wurden wir eins. In meinen Träumen nehme ich die Gestalt des Vogels an. Ich bin dankbar, dass er da ist, so wie er froh ist, dass ich da bin. Es kommt nicht oft vor, dass ein Krafttier seinen Menschen leibhaftig aufsucht, und das ist jetzt die einzige Freude, die ich habe. Denn außer in unseren Träumen hat es immer noch nicht geregnet, und die Menschen von Kanuataba werden mit jedem Tag hungriger. Mais und Bohnen und Pfefferschoten sind schon fast so knapp wie Fleisch, und in ihrer Not essen die Menschen jetzt schon die dürren Zweige von Sträuchern. Ich gebe meine Rationen den Kindern meiner Freunde. Ich halte oft Zwiesprache mit den Göttern, daher bin ich das Fasten gewöhnt, ich komme mit wenig aus. Auxilas Tod vor zwölf Sonnen lässt mir keine Ruhe. Auxila war ein guter Mann, ein heiliger Mann. Sein Vater nahm mich bei sich auf, als ich ein kleiner elternloser Junge war. Ich habe nur meinen Vater gekannt, da meine Mutter starb, als sie mich aus ihrem Schoß presste. Mein Vater war nicht in der Lage, sich allein um ein Kind zu kümmern, aber der König, Jaguar Imix’ Vater, erlaubte ihm nicht, sich eine zweite Frau zu nehmen. Da floh mein Vater zu dem großen See am Rande des Meeres, im Land unserer Vorfahren, und er schloss sich ihnen an, so wie der Vogel sich bald wieder seinem Schwarm anschließen wird. Er kam nie zurück. Ich war eine Waise, und Auxilas Vater nahm mich in seinem Hause auf und machte Auxila zu meinem Bruder. Jetzt ist mein Bruder tot, ermordet von dem König, dem ich diene. * Ein halber Mond stand am Himmel, und der Abendstern würde durch Xibalba wandern, als ich mich mit meinem Ara auf den Weg zum Palast machte. Ich ließ mir meine Trauer über Auxilas Tod nicht anmerken, denn es wäre unklug, Missfallen über eine Entscheidung des Königs zu äußern. Ich war aus Gründen, die ich nicht kannte, zu ihm befohlen worden. Der Ara und ich gingen an einigen Adligen vorbei, die müßig im großen Innenhof standen. Maruva, ein Mann aus dem Rat, der noch nie eine eigene Meinung vertreten hat, lehnte an einer der großen Säulen, die den Innenhof umgeben. Er wirkte zwergenhaft klein vor der sieben Mann hohen Säule. Er unterhielt sich mit einem Botschafter des Königs, der bekannt dafür ist, dass er vor den Toren der Stadt unter der Hand Rauschgifte verkauft. Die beiden musterten mich misstrauisch und tuschelten, als ich vorbeiging. Als ich beim Palast angekommen war, führte eine der Wachen mich in die Gemächer des Königs. Er und seine Günstlinge hatten gerade ein Mahl eingenommen – noch so ein geheimes Ritual, an dem nur er und seine Speichellecker teilnehmen dürfen. Diese Männer hatten gerade ein Festmahl genossen. Der Geruch von Weihrauch stieg mir in die Nase und überlagerte den Geruch von gebratenem Fleisch. Der Weihrauchduft war bezeichnend. Ich bin schon öfter dazugekommen, als das Essen gerade vorbei war, und jedes Mal ist die Luft erfüllt vom bitteren Geruch des Weihrauchs, den sie verbrennen, um ihr Mahl zu heiligen. Die geheime Mischung der Kräuter, die verbrannt werden, ist eine Quelle der Macht für einen König, und der Duft von Weihrauch erfüllt Jaguar Imix mit großem Stolz. Als ich den Ara absetzte und mich hinkniete, um den widerlichen Kalksteinboden zu küssen, hatte sich der Duft verändert, ich konnte ihn nicht mehr auf der Zunge schmecken so wie früher. Jaguar Imix rief mich zu sich und befahl mir, mich auf den Boden zu Füßen seines Throns zu setzen, der bei der Sonnenwende von der Sonne und bei Beginn der Erntezeit vom Mond angestrahlt wird. Jaguar Imix’ Züge sind scharf geschnitten, was ihm einen Ausdruck von Vornehmheit verleiht, aus dem er seine Macht schöpft. Seine Nase ist so spitz wie der Schnabel eines Vogels, und er zeigt seine flache Stirn als Zeichen seiner göttlichen Macht. Er gewandet sich in Baumwollstoffe, die auf den königlichen Webstühlen gewebt und in königlichem Grün gefärbt sind, und man sieht ihn fast nie ohne seinen Kopfputz in Form eines Jaguars. Jaguar Imix, der heilige Herrscher, sprach. Seine Stimme dröhnte so laut, dass alle es hören konnten: – Wir werden den großen Gott Akabalam ehren und ihm danken für die vielen Gaben, die er meinem souveränen Reich gemacht hat. Lasst uns ihn preisen! Wir werden dir, Akabalam, ein heiliges Festmahl widmen, ein kleines Zeichen des Dankes dafür, dass du uns mit deinen vielen Gaben gesegnet hast. Wir werden für alle Einwohner von Kanuataba ein Mahl zubereiten und so viel Fleisch auftischen, wie diese Stadt es noch nie gesehen hat. Mit diesem Fest wollen wir Akabalam ehren und ihn bitten, den Bau der neuen Pyramide unter seinen göttlichen Schutz zu stellen. – Ich war verwirrt. Was für ein Fest meinte er? Und woher sollte in unserer darbenden Stadt das Essen für ein solches Fest kommen? Ich sprach: – Verzeihung, Königliche Hoheit, aber es soll ein heiliges Fest gefeiert werden? – – Wie es die Stadt in hundert Drehungen des Kalenderrades nicht gesehen hat! – – Was für ein Fest ist das? – – Das wirst du rechtzeitig erfahren, Schreiber. – Jaguar Imix zeigte auf eine Konkubine, die zu uns getreten war, und sie griff in ein kleines Gefäß neben ihr und nahm ein Stück Baumrinde heraus. Sie schob es ihrem Gebieter in den Mund, und er fuhr kauend fort zu sprechen: – Paktul, Diener, die Götter haben mir erzählt, als ich mich in Trance befand, dass du den Bau des neuen Tempels missbilligst. Deine Bedenken hinsichtlich des von Akabalam befohlenen Festes bestätigen, was die Götter mir gesagt haben. Du weißt doch, dass ich alles sehe, Schreiber. Ist es wahr, was die Götter sagen? Dass du bezweifelst, dass ich ihr Gefäß bin? – Diese Worte kamen einem Todesurteil gleich. Eine Angst erfasste mich, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Die Augen aller am Hofe waren auf mich gerichtet, in Vorbereitung auf das Blutvergießen. Sogar der Ara in seinem Käfig neben mir konnte es spüren. Auxila war für sehr viel weniger geopfert worden. Sie würden mir auf dem Altar das Herz herausreißen! Ich sah zu Jacomo, dem Zwerg, hinüber, der mit Zimt und Chili gewürzte Schokolade schlürfte. Da wusste ich, dass nicht die Götter dem König etwas zugeflüstert hatten, sondern ein boshafter Zwerg. Mit Furcht im Herzen sprach ich: – Jaguar Imix, erhabener, allerheiligster Herrscher, ich habe in der Ratsversammlung nur die Stimme erhoben, um zu fragen, ob dies der günstigste Zeitpunkt für den Bau der neuen Pyramide sei. Diese Pyramide soll zehn große Zyklen überdauern, damit dein Name als der heiligste von allen für immer im Gedächtnis der Menschen bleibe. Es ist mein Wunsch, die Mauern mit tausend Zeichen bemalen zu dürfen, die dich darstellen, aber ich möchte nicht auf armseligen Kalkstein malen, nur weil wir nicht die Männer und nicht das Material haben, um einen Bau zu errichten, der deiner würdig ist. – Reumütig senkte ich den Kopf. Da spie Jaguar Imix die Baumrinde auf den Boden und verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. Seine Zähne waren verziert mit Einlagen aus Jade und Perlen, die schönsten Füllungen, die in Kanuataba je ausgeführt wurden. Jaguar Imix lächelt gern und erinnert jene unter ihm daran, welchen Preis sie haben. Er fordert bedingungslose Ergebenheit von seinen Untertanen, und ich habe viele Male erlebt, wie er es genoss, wenn jemand sich vor ihm in den Staub warf, nur um denjenigen dann doch hinrichten zu lassen, noch bevor der große Stern ein weiteres Mal über den Himmel gewandert war. Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass die Vollstrecker kamen. Sie würden mich auf die Pyramide hinaufführen und mich opfern, wie sie es mit Auxila getan hatten. Doch als der König sprach, sagte er etwas, was ich nicht erwartet hatte: – Paktul, Mann von niedrigem Stande, dir soll vergeben sein. Ich verzeihe dir deine Worte der Missbilligung und vertraue darauf, dass du bei der Vorbereitung zum heiligen Fest zu Ehren Akabalams Wiedergutmachung leistest. - Ich öffnete die Augen. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Und der König fuhr fort: – Mein Sohn, der Prinz, findet Gefallen an dir, deshalb soll dir dies eine Mal vergeben sein, damit du Rauch Lied lehren kannst, seinem durch das Blut bestimmten Schicksal zu folgen. Du wirst ihn in der Macht Akabalams unterweisen, dem gepriesenen Gott, der sich mir geoffenbart hat. Du wirst Rauch Lied in den hohen Werten des bevorstehenden Festes unterweisen – Zitternd stammelte ich: – Hoheit, ich habe in den großen Büchern nachgesehen, aber ich konnte diesen Akabalam nicht finden. Ich habe überall gesucht, doch nirgends in den großen Zyklen der Zeit wird er erwähnt. Ich möchte den Prinzen gern unterweisen, aber welche Bücher soll ich zurate ziehen? – – Halte dich weiter an die großen Bücher, die du so gut kennst, niederer Schreiber. Und wenn das Fest zu Ehren Akabalams vorbereitet ist, werde ich dir alles anvertrauen, damit du es in neuen heiligen Büchern niederschreiben kannst und das Wissen an Rauch Lied und an die göttlichen Könige nach ihm weitergegeben wird. – Damit entließ er mich. Mir war schwindlig von dem neuen Leben, das der König mir eingehaucht hatte. Keine Aufgabe ist so wichtig wie die, den heiligen Prinzen zu unterrichten. Das hatte mich davor bewahrt, geopfert zu werden. Ich versuchte, meine Sorgen zu unterdrücken, als ich in die königliche Bibliothek ging, wo der Prinz mich erwartete. Nur der Vogel in seinem Käfig, die Verkörperung meines Geistes, teilte meine Furcht. Die königliche Bibliothek, wo ich den Prinzen unterrichte, ist der wundersamste Ort in unserer einzigartigen Terrassenstadt. Hier stand ich schon unter dem Baum der Erkenntnis, einer Sammlung dessen, was die weisen Männer im Laufe von zehn großen Drehungen des Kalenderrades zusammengetragen haben. Hier gibt es Bücher aller Art, die um ihrer heiligen Weisheit willen gelesen werden. In diesen Büchern wurde das umfangreiche Wissen der Astronomen gesammelt, die von der Sternenwelt als von der Schlange mit den zwei Köpfen sprechen. Ich betrat die Bibliothek, einen Raum aus Stein, behängt mit Tuchen, die im schönsten, königlichsten Blau gefärbt sind. Durch das viereckige Fenster fällt weißes Licht auf das Tuch. Bei Sonnenaufgang am Tag der Sommersonnwende scheint die Sonne direkt herein, ein Sinnbild für den Beginn der Wissbegier, die unsere Vorfahren in diese Welt gebracht haben. Viele bedeutende Bücher, ganze Stapel davon, liegen auf den Regalen, manche noch zusammengefaltet; sie stammen aus einer Zeit, als es das aus Feigenbaumrinde hergestellte Papier in Fülle gab und ein Schreiber nicht hätte stehlen müssen, um dieses Buch zu malen. Es ist über tausend Sonnen her, dass der König mich mit der Aufgabe betraute, die Weisheit unserer Vorfahren an den königlichen Prinzen weiterzugeben und ihn in das Geheimnis der Zeit einzuweihen, jene niemals endende Schleife, die zu ihrem Anfang zurückkehrt. Nur wer in die Vergangenheit blickt, kann von der Zukunft träumen. Rauch Lied, der Prinz, ist ein kräftiger Junge von zwölf Drehungen des Kalenderrades. Er hat die Augen und die Nase des Königs, seines Vaters, aber er ist nicht rachsüchtig, und als ich, den Käfig mit dem Vogel in der Hand, die Bibliothek betrat, war seine Miene sorgenvoll. Er sprach: – Ich habe gesehen, wie Auxila geopfert wurde, mein Lehrer. Und auf dem Platz habe ich seine Tochter gesehen, Geflammte Feder, der ich gewogen bin. Ich sah, wie sie um ihren Vater trauerte. Kannst du mir sagen, wo sie jetzt ist? – Ich blickte zu Kawil hin, dem Diener des Prinzen, der immer in seiner Nähe bleibt, bis der Unterricht zu Ende ist. Kawil ist ein guter Diener und sehr groß. Er sagte nichts, er starrte nur geradeaus. Es war zu schmerzlich, darüber zu sprechen, welches Schicksal Auxilas Töchtern bevorstand, deshalb antwortete ich: – Sie ist am Leben, Prinz, aber du musst Geflammte Feder aus deinen Gedanken verbannen, denn sie ist unberührbar. Du musst dein Augenmerk auf deine Studien richten. – Der Junge schien betrübt. Doch dann zeigte er auf den Ara und sprach: – Was ist das, mein Lehrer? Was hast du mir da mitgebracht? – Mein Krafttier ist sehr friedlich und umgänglich, und so ließ ich den Vogel aus dem Käfig und zeigte ihn dem Prinzen. Wir fassten noch einmal seine Kenntnisse über Krafttiere zusammen, und ich erklärte ihm, dass mein Krafttier in Gestalt dieses Ara zu mir gekommen und ich eins mit dem Vogel geworden sei, indem ich ihm von meinem Blut zu trinken gegeben hatte. Dann flog der Ara, meine Tiergestalt, durch den Raum, was dem Jungen große Freude bereitete. Wir flogen zum Dach hinauf und wieder herunter, wir umkreisten den Prinzen und landeten auf seiner Schulter. Mein Krafttier, so erzählte ich, habe sich auf der weiten Reise, die jeder Ara mit seinem Schwarm zurücklegt, in Kanuataba niedergelassen. In ein paar Wochen würden wir weiterfliegen, dorthin, wohin unsere Vogelvorfahren seit Tausenden von Jahren zu jeder Erntezeit zurückkehren. Ich sprach: – Jeder Mensch muss sich über sein alltägliches menschliches Dasein hinaus erheben, und unsere tierische Gestalt ist die Verkörperung dieses Ideals. – Rauch Lieds tierisches Ich ist der Jaguar, wie es jedem künftigen König gebührt. Ich sah zu, wie er den Vogel aufmerksam betrachtete und offenbar überlegte, wie der Ara meine Brücke zu den himmlischen Mächten sein könne. Es erfüllt mich mit Trauer, dass Rauch Lied sein Krafttier vielleicht nie mehr sehen wird. Nur noch wenige heilige Jaguare durchstreifen das Land. Nach unserem Gespräch über Krafttiere sprach der Junge: – Mein Vater, der König, hat mir gesagt, dass ich die Soldaten begleiten darf, wenn sie fortziehen, um für die Menschen von Kanuataba zu kämpfen. Wir werden nach Sakamil, Ixtachal und Laranam ziehen und kämpfen, so wie es der Morgenstern, der in die Dunkelheit wandert, vorherbestimmt hat. Es wird ein großer Krieg werden, ein Krieg des Abendsterns. Erfüllt dich das nicht mit Stolz, mein weiser Lehrer? – Zorn stieg in mir auf, und ich ließ mich zu Worten hinreißen, die mich das Leben hätten kosten können: – Hast du dich einmal auf der Straße umgesehen, auf den Märkten, wo es wegen der Dürre nichts mehr zu kaufen gibt? Es ist ein trauriger Anblick, Prinz, aber du kannst die Not der Menschen mit eigenen Augen sehen. Sogar die Soldaten hungern, auch wenn sie nun irgendwelche neuen Methoden des Einsalzens haben. Wir können es uns nicht leisten, in fernen Ländern Krieg zu führen! – Daraufhin erwiderte der Junge hitzig: – Meinem Vater ist geweissagt worden, dass wir den Sternenkrieg gegen ferne Königreiche führen müssen! Wie kannst du es besser wissen als die Sterne? Wir werden kämpfen, wie die Götter es befohlen haben! Ich werde Seite an Seite mit den Kriegern von Kanuataba kämpfen! – Das Herz war mir schwer vor Kummer. Ich sah das Kind an und sprach: – In jedem Mann lodert das heilige Feuer, Prinz. Aber eines Tages wirst du die Menschen von Kanuataba führen, deshalb musst du deine Geisteskraft unter Beweis stellen. Du hast deine Studien noch nicht abgeschlossen. Es ist nicht meine Aufgabe, dich im Gebrauch des Blasrohrs oder der Wurfkugel zu unterweisen, es ist nicht meine Aufgabe, einen Soldaten aus dir zu machen, damit du im Kampf dein Leben lässt! – Da sprang der Prinz auf und rannte hinaus. Ich sollte die Tränen nicht sehen, die ihm aus den Augen strömten. Ich rief ihn, aber er kam nicht zurück. Ich war überrascht, dass Kawil seinem Herrn nicht folgte. Stattdessen sprach er: – Ich werde ihn zurückholen, Schreiber. – – Gut, dann geh. – – Darf ich zuerst etwas sagen, heiliger Schreiber? Es geht um Auxila. – Ich erteilte ihm die Erlaubnis zu sprechen. Kawil erzählte mir, dass er einige Nächte nach Auxilas Tod auf dem Opferaltar vor dem Palast gesessen und Haniba, Auxilas Frau, und ihre beiden Töchter gesehen habe. Er sagte: – Sie waren gekommen, um an der Opferstätte zu beten. – Ich erschrak, als ich das hörte. Jede Frau, deren Mann auf dem Altar geopfert wurde, weiß, was zu tun ist. Haniba hatte es versäumt, ihre Pflicht zu erfüllen, und so die Götter beleidigt. Er sei den Frauen aus der Stadt hinaus bis zu deren Haus gefolgt, erklärte Kawil weiter. Mir war sofort klar, was ich zu tun hatte. Jemand musste Auxilas Frau an ihre Pflicht erinnern. Seit Anbeginn der Geschichte ist es der Wille von Itzamnaaj, dass Frauen ihren geopferten Männern in die jenseitige Welt folgen, indem sie einen ehrenvollen Selbstmord begehen. Auxila war mein Bruder, mein enger Freund gewesen, und seine Frau hatte etwas Besseres verdient als die namenlosen Schrecken eines Lebens vor den Toren der Stadt. Wenn sie nicht gewillt war, dem Ruf der Götter zu folgen, würde ich ihr helfen müssen. Als der Morgenstern ein weiteres Mal durch den rötesten Teil des großen Skorpions am Himmel wand mich wie ein einfacher Mann in Lendenschurz und Sandalen, damit man mich nicht erkennen konnte. Am Rande der Stadt haust der Abschaum von Kanuataba – Männer und Frauen, die aufgrund von irgendwelchen Vorzeichen von der Hinrichtung verschont blieben, die aber ihrer Verbrechen wegen aus der Stadt verbannt wurden. Hier lebten Diebe und Ehebrecher, die eine Mondfinsternis vor dem Tod gerettet hatte; säumige Schuldner, die nur dank der Gnade des Abendsterns noch am Leben waren; Menschen, die Missbrauch mit Rauschmitteln treiben; und sogar jene, die, so heißt es, die größten Sünder von allen sind, dazu bestimmt, bis in alle Ewigkeit von Norden nach Süden auf der Erde umherzuirren: jene, die törichterweise nur die Gottheiten verehren, deren Günstlinge sie zu sein glauben. Für die Behausungen hier wird weder Kalkstein noch Marmor verschwendet, und jeder Steinhauer Diebstahl von Kalkstein erwischt wird, wird öffentlich hingerichtet. So werden diese Hütten aus Lehm gebaut. Hier leben nur die Menschen, die einem verbotenen Gewerbe nachgehen: dem Verkauf von Ra Wetten auf Ballspiele, Hurerei. Ich hatte mein Gesicht mit dem Tuch verhüllt, mit dem ich die Kalksteinpaste auf das Papier auftrage. In der Hand hielt ich Kakaobohnen, ich verteilte sie an die Frauen, die ich auf der Straße ansprach, um mich nach dem Weg zu Hanibas Hütte zu erkundigen. Jede dieser Frauen bot mir ihren Körper als Gegenleistung für die sie waren völlig verwirrt, als ich ablehnte. Ich sprach mit einer alten Hure. Sie schickte mich zweihundert Schritt weiter den Weg hinunter, zu einer Reihe von Verschlägen, die ich nicht mehr gesehen hatte, seit ich als Junge hier meine Unschuld verlor. Das Stöhnen einer Frau drang aus einem der Verschläge. Als ich nachsah, erblickte ich Haniba, und Mann, ein widerlicher Mann, der brutal in sie eindrang. Haniba besudelte ihre Ehre! Auf dem Bode beiden lagen vier Kakaofrüchte fein säuberlich nebeneinander. Die beiden bemerkten nicht, wie ich m mir die Früchte genauer ansah. In zweien von ihnen befanden sich keine Bohnen. Der Mann war ein Betrüger! Ich packte einen großen Sitzstein, der in einer Ecke lag, hob ihn hoch über den Kopf und schlug da Kraft zu. Der Mann sackte leblos auf Haniba zusammen, und sie stieß einen gellenden Schreckensschrei aus. Wahrscheinlich dachte sie, Iztamaal selbst habe den Stein herabgeschleudert, um sie zu bestrafen. Als i von ihr herunterzerrte und sie mein Gesicht sah, wandte sie sich zutiefst beschämt ab. Doch die größe dass sie immer noch auf dieser Erde weilte. Sie sprach: – Sie haben mir alles genommen, Paktul – mein Haus, meine Kleidung, Auxilas Besitz. – – Ich weiß, warum du hier bist, und ich bin gekommen, um dich anzuflehen, Haniba. Du musst klug handeln. Deine Kinder hungern, weil niemand sie bei sich aufnehmen wird, solange du noch am Leben bist. U nicht geheim halten können. – Sie weinte, das Atmen fiel ihr schwer, als sie fortfuhr: – Ich kann der Weisung der Götter erst Folge leisten, wenn ich meine Kinder in Sicherheit weiß. Geflammte Feder kommt in das Alter, wo irgendein Greis, der sich ein junges Mädchen wünscht, ein Auge auf sie werfen wird. Du hast selbst gesehen, wie Prinz Rauch Lied meine Geflammte Feder anschaut – sie hätte Königin werden können, Paktul! Der König hat erwogen, sie dem Prinzen zur Frau zu geben, und der Prinz ist ein guter Mann, er hätte sie verdient. Aber nun, da ihr Vater Schande über sich und über uns gebracht hat, können die beiden nicht vermählt werden. Welcher anständige Mann wird Geflammte Feder denn jetzt noch nehmen? Das verstehst du doch, Paktul, nicht wahr? Du weißt, was eine solche Schmach bedeutet, du hast sie doch selbst empfunden, als dein Vater dich im Stich ließ! – Für diese Worte hätte ich sie am liebsten geschlagen. Aber als ich den Ausdruck von Traurigkeit in ihren Augen sah, konnte ich es nicht. Ich kannte diese Frau, seit Auxila und ich klein waren und sie mit Stöcken vor uns her jagten. Ich sprach: – Such dir eine Ranke, die lang genug ist, und schlinge sie dir um den Hals, wenn die Sonne das nächste Mal sinkt. Erhänge dich, Haniba, tue es mit Stolz und erfülle deine Pflicht als Frau eines Adligen, der den Göttern geopfert wurde. – – Das ist nicht wahr, Paktul! Er wurde nicht den Göttern geopfert! Er wurde von einem König ermordet! Jaguar Imix hat seinen Tod befohlen, weil Auxila den Mut hatte, sich ihm zu widersetzen, und der König opferte ihn im Namen eines Gottes, den es nicht gibt! Dieser Gott, dieser Akabalam, kann das Opfer nicht gefordert haben! Hat er uns oder sonst irgendeinem Adligen jemals seine Macht im Traum geoffenbart? Nein, das hat er nicht! – Ich verschwieg ihr, dass ich selbst meine Zweifel an dem neuen Gott hatte. So wie ein Schreiber eine göttliche Weissagung nicht infrage stellen sollte, sollte eine Witwe nicht an einem König zweifeln. Ich sprach: – Was kannst du über das Gespräch zwischen einem König und seinem Ratgeber wissen, den er als Opfer darbringt? Wie kannst du wissen, dass sich Akabalam dem König nie geoffenbart hat? – Haniba schlug die Hände vors Gesicht. Als Adliger war es meine Pflicht, eine Frau zu töten, die einen so schweren Frevel gegen die Götter beging. Aber angesichts ihres Kummers war ich machtlos. 18 Das CDC hatte dafür gesorgt, dass sich Chel mit einer Sondergenehmigung frei auf der Straße bewegen konnte. Der Sicherheitsdienst des Museums hatte ihr ein Begleitfahrzeug zur Verfügung gestellt, das ihr zum Mount Hollywood hinauf folgte. Vom Mulholland Drive aus konnte sie in der Ferne Rauchsäulen aufsteigen sehen. Dennoch empfand sie das erste Mal seit Tagen eine zaghafte Hoffnung, als sie ostwärts raste. Patrick hatte sich sofort bereit erklärt, sich mit ihr im Planetarium zu treffen. East Mulholland glich einer Geisterstadt. Die Straßen waren, bis auf den einen oder anderen Streifenwagen oder Jeep der Nationalgarde wie leer gefegt. Ein beißender Geruch hing in der Luft – vielleicht waren die Brände doch näher, als sie dachte. Sie kurbelte das Fenster hoch. Sie war nur einen Sekundenbruchteil abgelenkt, aber genau in diesem Moment rannte eine Frau in Joggingkleidung auf die Straße und direkt vor Chels Kühler. Ohne die reflektierenden Laufschuhe hätte Chel sie überhaupt nicht gesehen. Sie riss das Lenkrad herum, die Reifen des Volvo rutschten quietschend über den Asphalt. Schließlich kam der Wagen am Bordstein zum Stehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Im Rückspiegel sah sie, dass die Joggerin einfach weiterlief, als wäre nichts geschehen. Die Frau hatte offenbar auf Autopilot geschaltet. Chel hatte von VFI-Infizierten gehört, die Apotheken überfielen, um sich Schlaftabletten zu beschaffen, von Leuten, die sich ins Koma tranken oder die Drogendealern horrende Summen für illegale Beruhigungsmittel zahlten. Die Frau im Rückspiegel, die immer kleiner wurde, versuchte es auf natürlichem Wege: laufen, bis sie vor Erschöpfung umfiel. Es hatte den Anschein, als würde sie wirklich jeden Moment zusammenbrechen. Aber sie lief weiter, immer weiter. Was würde ich tun? Wie weit würde ich gehen?, fragte sich Chel. Das Begleitfahrzeug hielt neben ihrem Volvo. Chel versicherte, es sei nichts passiert, alles in Ordnung. Die Fahrzeuge setzten sich wieder in Bewegung. Sie folgten der kurvenreichen Straße den Berg hinauf und hatten eine Viertelstunde später ohne weitere Zwischenfälle das Griffith Observatory erreicht. Der wuchtige steinerne Bau hatte Chel immer an eine Moschee erinnert. Vor vielen Jahren sei das hier der beste Ort im Land gewesen, um den Nachthimmel zu beobachten, hatte Patrick ihr erzählt. Jetzt, wo die Lichter der Großstadt die meisten Sterne überstrahlten, war es ein Aussichtspunkt, von dem man einen einzigartigen Blick über den gesamten Großraum von Los Angeles hatte. Von hier oben sah das brennende Feuer vor dem nächtlichen Himmel fast schön aus. Von hier oben betrachtet, konnte man fast vergessen, dass L.A. vielleicht seinem Untergang entgegenging. Der Mann vom Sicherheitsdienst würde auf dem Parkplatz auf sie warten. Bevor sie ausstieg, warf sie einen Blick auf ihr Telefon. Keine neuen Nachrichten. Nicht von ihrer Mutter, nicht von Stanton. Sie fragte sich, wann er ihr das nächste »Irgendwas Neues?« schicken würde. Möglicherweise könnte sie ihm das nächste Mal tatsächlich etwas Neues berichten. Dieser Gedanke spornte sie an. Sie stieg aus. Patrick erwartete sie am Eingang zum Observatorium. »Hi«, sagte sie. »Selber Hi.« Sie umarmten sich und blieben einen Moment lang eng umschlungen stehen. Patrick mit seinen knapp eins fünfundsechzig passte größenmäßig perfekt zu ihr. Seltsam. Da hatte sie mit diesem Mann zusammengelebt, jeden Tag mit ihm geredet, neben ihm geschlafen, und jetzt schmiegte sie sich an ihn und wusste doch so gut wie nichts darüber, was er in den vergangenen Monaten gemacht hatte. Er löste sich von ihr. »Ich bin froh, dass du heil hier angekommen bist.« Seine blauen Augen unter der Schutzbrille glänzten. Blonde Haare umrahmten sein Gesicht. Er trug das gestreifte Hemd mit Button-down-Kragen, das Chel ihm letzte Weihnachten geschenkt hatte. Ob er es aus einem bestimmten Grund angezogen hatte? Als sie zusammen waren, hatte er es kaum je getragen. Sie dafür umso öfter – als Nachthemd. Er hatte es ihr so gern ausgezogen. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du mit dem Erstinfizierten da drin warst«, sagte er kopfschüttelnd. »Großer Gott.« Er trat einen Schritt zurück und sah sie prüfend an. »Arbeitest du wieder rund um die Uhr?« »Ja, so ungefähr.« »Ist ja nicht das erste Mal.« Die Sehnsucht in seiner Stimme war unüberhörbar. Er wollte sie an ihr vergangenes gemeinsames Leben erinnern. »Ich bin dir wirklich dankbar, dass du gekommen bist«, sagte sie. »Das ist furchtbar nett von dir.« »Kein Problem«, erwiderte er. »Mach ich doch gern. Eine Handschrift aus der klassischen Periode. Unglaublich.« Chel warf einen Blick zurück auf die Metropole unter ihnen. Feiner grauer Aschedunst hing in der Luft. »Komm, gehen wir rein«, sagte sie. »Es ist unheimlich hier draußen – und außerdem läuft uns die Zeit davon.« Patrick blieb noch einen Augenblick in der Dunkelheit stehen und schaute blinzelnd zum Himmel hinauf. »Ich liebe die Sterne viel zu sehr, als dass ich Angst vor der Nacht hätte«, murmelte er in Anlehnung an eine Grabschrift, die ihm besonders gut gefiel. Die Kuppel des dreihundert Sitzplätze bietenden Oschin Planetariums war knapp dreiundzwanzig Meter hoch und gab dem Besucher das Gefühl, als würde er in einem großen unvollendeten Kunstwerk stehen, in einer Basilika, deren Decke noch bemalt werden musste. Bis auf den roten Schein zweier AUSGANG-Hinweisschilder und dem bläulichen Licht eines Laptopmonitors war es fast dunkel im Raum. Während Patrick sich auf die im PC gespeicherten Fotos der Handschrift konzentrierte, betrachtete Chel die sonderbaren Umrisse des Sternenprojektors in der Mitte des Saals. Er sah aus wie ein futuristisches Monster, eine mechanische Hydra, die durch halbkugelförmige Vertiefungen hindurch Tausende von Sternen auf die Aluminiumdecke projizierte. »So was hab ich ja noch nie in einem Kodex gesehen«, staunte Patrick. »Ein Hinweis auf einen Sternenkrieg in zeitlicher Abstimmung mit dem Abendstern! Ich fass es nicht!« Das alte Maya-Buch hatte auch ihn in seinen Bann gezogen. Er dimmte die Beleuchtung und legte einen Schalter am Projektor um. Schon füllte sich die Kuppel mit Sternen, die über den Nachthimmel rasten, wobei sie wie durch Zauberhand etliche Hundert Mal ihre Position veränderten. In den eineinhalb Jahren, die sie zusammen waren, war Chel ungefähr ein Dutzend Mal hier gewesen, und jedes Mal war es neu und aufregend. »In den Passagen, die du schon übersetzt hast, finden sich Dutzende astronomische Hinweise«, sagte Patrick und zeigte mit einem Laser an die Decke. »Nicht nur Sternbilder, sondern auch Positionsangaben und andere Dinge, die wir nutzen können.« Chel hatte sich nie für die Einzelheiten seiner Arbeit interessiert, und jetzt war es ihr peinlich, dass sie so wenig darüber wusste. »Komm schon, du weißt doch, was ich meine. Ich spreche von einem historisch-astronomischen GPS«, zog er sie auf. Chel warf ihm einen schrägen Blick zu. »Wie Sie hoffentlich noch wissen, Dr. Manu, dreht sich die Erde um die Sonne und auch um ihre eigene Achse. Darüber hinaus sorgen die Anziehungskräfte des Mondes dafür, dass sie hin und her schwingt. Du kannst dir das ungefähr vorstellen wie einen Kreisel. Das bedeutet, dass die Bahn der Sonne sich in unserer Wahrnehmung jedes Jahr ein kleines bisschen verändert. Womit wir bei den 2012ern und ihren Theorien wären.« »Du meinst die galaktische Synchronisation?« Patrick nickte. »Genau. Weil sich Mond, Erde und Sonne zur Wintersonnenwende auf einer Linie befinden und wir uns dem Zeitpunkt nähern, wo die Sonnenbahn und ein gedachter Äquator der Milchstraße sich überschneiden, glauben diese Irren, dass die Menschheit ausgelöscht werden wird. Die einen sagen, durch gigantische Flutwellen, die anderen, durch eine Sonnenexplosion. Es macht ihnen nicht mal was aus, dass dieser ›Äquator‹ nur gedacht ist.« Hoch oben über ihnen bewegten sich projizierte Sterne in langsamen konzentrischen Kreisen. Chel war es leid, sich den Hals zu verrenken, und setzte sich auf einen der gepolsterten Stühle. »Die Erde eiert also hin und her«, fuhr Patrick fort. »Dadurch ändert sich nicht nur die Bahn der Sonne, sondern auch die der Sterne.« »Aber selbst wenn sie im Lauf der Zeit ihre Position verändern, sind die Sterne, die wir in Los Angeles sehen, doch praktisch dieselben, die man in Seattle sieht, oder nicht?«, wandte Chel ein. »Wie soll uns das bei einer Ortsbestimmung helfen? Die Unterschiede sind doch fast nicht wahrnehmbar.« »Für unsere Augen nicht, nein. Wegen der Lichtverschmutzung. Die gab es im Altertum nicht, deshalb sind die Beobachtungen der damaligen Astronomen präziser, als unsere es je sein werden.« Patricks Liebe zu den Maya war während seines Studiums in Archäoastronomie entstanden. Er war absolut fasziniert von den Beobachtungen, die die Astronomen der Maya von ihren Tempeln aus gemacht, und von den Schlussfolgerungen, die sie daraus abgeleitet hatten. Sie hatten grob die Planetenbahnen bestimmt, das Prinzip der Galaxien verstanden und im Ansatz sogar die Vorstellung, dass Monde an andere Planeten gebunden sind. Für Patrick war es eine Tragödie, dass die »Sternguckerei« so ganz aus der Mode gekommen war. Sie schauten beide zum erstarrten Himmel hinauf. »So«, sagte Patrick. »Fangen wir bei Tikal an. Wenn wir von dem ungefähren Datum ausgehen, das du anhand der Karbondatierung und der Ikonografie ermittelt hast, hat der Himmel bei der Frühlingstagundnachtgleiche so ausgesehen. Sagen wir: 20. März 930 v. Chr.« Er richtete den Laser auf ein helles Objekt am westlichen Himmel. »Deinem Schreiber zufolge war die Venus bei seiner Frühlingstagundnachtgleiche mitten am Himmel zu sehen. Wir verschieben also die Koordinaten des Sternenprojektors innerhalb des Gebietes von Petén, bis die Venus an der richtigen Stelle steht.« Die Sterne über ihnen rotierten, bis die Venus sich am höchsten Punkt der Kuppel befand. »Vierzehn bis sechzehn Grad Nord, schätze ich«, sagte Patrick schließlich. Das würde ein Gebiet von einer Breite von mehr als zweihundert Meilen umfassen, so viel wusste Chel. »Das ist zu vage. Geht es nicht ein bisschen genauer?« Patrick begann von Neuem, die Sterne zu verschieben. »Das ist nur ein erstes Modell. Wir haben noch einige Dutzend weitere Angaben, die wir vom Computer analysieren lassen müssen. Wir machen so schnell es geht.« Sie arbeiteten Seite an Seite. Die Anhaltspunkte aus dem Maya-Buch wurden in den Computer eingegeben und von diesem mithilfe der einprogrammierten Sternkarten ausgewertet. Der Sternenprojektor projizierte die Ergebnisse an die Decke der Kuppel. Patrick konzentrierte sich ganz auf die Himmelsdarstellung, und auch Chel arbeitete schweigend. Es war nach zwei Uhr morgens, als Chels Gedanken zu Volcy auf dem Totenbett abschweiften. Ein unbehagliches Gefühl erfasste sie. Sie war erleichtert, als Patrick das lange Schweigen brach und sie aus ihren düsteren Gedanken riss. »Und, bist du nach Petén gefahren? Bevor das alles hier losging, meine ich. Hast du die vielen Artikel veröffentlicht, die du schreiben wolltest?« Das waren die Gründe gewesen, die sie genannt hatte, als sie sich von ihm trennte. »Ich denke schon«, erwiderte Chel ruhig. »Wenn das alles hier vorbei ist, wirst du für den Rest deines Lebens auf allen Veranstaltungen die Hauptrednerin sein.« Er schien vergessen zu haben, dass sie vielleicht erst einmal ins Gefängnis wandern würde, wenn das alles vorbei war. Doch selbst jetzt, mitten in dieser lebensbedrohlichen Situation, konnte sie den neidischen Unterton hören, der in seiner Stimme mitschwang. Obwohl Patrick ein großzügiges Stipendium bekommen hatte, interessierten sich nur wenige für Archäoastronomie. Während seiner ganzen Laufbahn hatte er sich vergeblich bemüht, die Welt der Wissenschaft davon zu überzeugen, dass seine Arbeit wichtig war. Auf jeder Konferenz stand er ganz am Schluss auf der Liste der Vortragsredner, er veröffentlichte nur in Zeitschriften von fragwürdigem Ruf, und seine Manuskripte wurden von den Verlagen abgelehnt. Chel hatte erst an dem Abend, als sie die renommierteste Auszeichnung der Amerikanischen Gesellschaft für Linguistik erhalten hatte, erkannt, wie tief Patricks Konkurrenzneid saß. Sie waren bei ihrem Lieblingsitaliener und hatten die zweite Flasche Sangiovese geleert, als Patrick das Glas erhob und sagte: »Auf dich! Darauf, dass du dir das richtige Spezialgebiet ausgesucht hast.« »Was willst du damit sagen?« »Gar nichts«, hatte er erwidert und einen kräftigen Schluck Wein genommen. »Ich bin bloß froh, dass sich Epigrafie so großer Wertschätzung erfreut.« Sooft ein Artikel von ihr erschien oder sie mit einem weiteren Preis ausgezeichnet wurde, gab er sich die größte Mühe, Haltung zu bewahren, aber seine Freude wirkte aufgesetzt. Irgendwann erzählte Chel ihm nur noch von den wenigen negativen Seiten ihres Jobs: von Studenten, die nicht mitarbeiteten, oder von der Interessenpolitik des Getty-Kuratoriums. Sie berichtete ihm nur noch das Schlechte, nicht mehr das Gute; das war einfacher. Doch mit jeder Kleinigkeit, die sie ihm nicht erzählte, spürte sie, wie die Distanz zwischen ihnen größer wurde. Patrick korrigierte das Sternenmuster an der Decke des Planetariums ein weiteres Mal. »Ich bin wieder mit jemandem zusammen.« Chel schaute auf. »Wirklich?« »Ja. Seit ein paar Monaten. Sie heißt Martha.« »Was Ernstes?« »Glaub schon«, erwiderte er. »Ich wohne seit einer Weile bei ihr. Sie war gar nicht begeistert, als ich ihr sagte, dass ich mich heute Abend mit dir treffe, aber sie hat verstanden, wie ernst die Lage ist. Ganz schön verrückte Ausrede, um sich mitten in der Nacht mit seiner Ex zu treffen.« »Ich hab gar nicht gewusst, dass jemand unter sechzig Martha heißen kann.« »Oh, sie ist ziemlich weit südlich von sechzig, wenn du das meinst.« »Aha, ein Kind also. Noch besser.« »Sie ist fünfunddreißig und erfolgreiche Theaterleiterin. Und sie will heiraten.« Chel konnte es nicht fassen, dass er so kurz nach der Trennung von ihr ans Heiraten dachte. »Wenigstens arbeitet ihr in verschiedenen Bereichen.« Patrick sah sie an. »Wie meinst du das?« »Na ja, so gibt es bei euch beruflich wenigstens keine Unstimmigkeiten.« »Du glaubst, das war unser Problem?« Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Kann sein.« »Das Problem war nicht, dass ich dich als Konkurrenz betrachtet habe, Chel«, sagte er langsam. »Solange du nicht erkennst, dass du die Erwartungen, die dein Vater vielleicht in dich gesetzt hat, schon längst erfüllt hast, wirst du nicht glücklich sein. Oder imstande, jemand anderen glücklich zu machen.« Chel wandte sich wieder den Fotos der alten Handschrift zu. »Konzentrieren wir uns lieber auf unsere Arbeit.« *** Zehn Minuten später schaltete Patrick den Projektor aus und sagte in die Stille hinein: »Das ist es.« Er zeigte nach oben. »Damit sind alle achtzehn zwingenden Bedingungen erfüllt.« »Bist du sicher?«, fragte Chel. »Das ist es?« Er nickte. »Das ist es. Zwischen 15,30 und 15,57 Grad Nord und zwischen 900 und 970 v. Chr. Ganz exakt können wir die Position nicht bestimmen. Aber wenn wir die Mittelwerte zugrunde legen, heißt das, 15,5 Grad Nord und 935 v. Chr. Ich hab dir doch gesagt, ich krieg’s raus.« Dieser Himmel hatte sich über Paktul gespannt, als er sein Buch schrieb. Genau dieser Himmel. Chel empfand bei ihrer Arbeit oft ehrfürchtige Bewunderung, aber dieses Gefühl, Raum und Zeit zu überwinden, war einzigartig. Sie spürte, wie sie ihrem Ziel immer näher kamen. »Im Süden von Petén, genau wie du vermutet hast«, fuhr Patrick fort. Er krempelte die Ärmel hoch und breitete dann eine Karte der Maya-Region auf einem Tisch neben dem Sternenprojektor aus. Darauf waren die Längengrade im Abstand von jeweils einem halben Grad eingezeichnet. »Tikal oder Uaxactun oder Piedras Negras kann es nicht sein – die sind alle im Siebzehn-Grad-Bereich. Es muss irgendwo weiter südlich sein.« Er fuhr mit dem Finger eine gedachte Linie nach. Jede größere bekannte Maya-Stadt im Südosten von Petén war eingezeichnet, aber Patricks gedachte Linie stieß auf keine dieser Städte, auch nicht auf eine kleinere. Chel kaute auf ihrer Unterlippe. Sie hatte eine seltsame Vorahnung. »Gibt es hier einen Computer, den ich benutzen kann?« Patrick zeigte auf das kleine Büro im hinteren Teil des Planetariums. Als sie den PC eingeschaltet hatte, klickte sie sich zu Google Earth durch und dann zu einer digitalen Landkarte des heutigen Guatemala. Da keine Längengrade eingezeichnet waren, rief sie eine zweite Landkarte mit detaillierten Längengradangaben auf und schaltete dann zwischen den beiden Fenstern hin und her, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Keine fünfzig Meilen vom Längengrad 15,5 Grad Nord entfernt war Chel geboren worden. *** Chel saß auf den Schultern ihres Vaters. Es war Trockenzeit und früh am Abend, und Alvars Arbeitstag war zu Ende. Ein Huhn war aus dem Hühnerstall gestohlen worden, und er wollte die Sache mit seinem Nachbarn klären. Von ihrem luftigen Sitzplatz aus konnte Chel sehen, wie junge Mädchen Eimer mit Maismehl aus der Mühle nach Hause schleppten. Aus dem Mehl würden Tortillas fürs Abendessen gebacken und Getränke fürs Frühstück hergestellt werden. Aus den Häusern waren gepfiffene Melodien zu hören, irgendjemand schlug eine Trommel. Alvar tanzte im Gehen zu der Musik, und Chel spürte seinen Bart an ihren Beinen kratzen wie Sandpapier. Das war Chels einzige Erinnerung an ihre Kindheit in Kiaqix. Später, nachdem ihre Mutter mit ihr von dort weggegangen war, war sie noch einige Male in ihre Heimat zurückgekehrt, und es gefiel ihr mit jedem Mal besser. Sie liebte die Lagerfeuer, an denen immer noch Geschichten über ihre Vorfahren erzählt wurden, liebte die gemeinsame Arbeit auf dem Feld zur Erntezeit, die Geschenke von den Bienenzüchtern und die fröhlichen Volleyball- und Fußballspiele. Aber Kiaqix lag etliche Hundert Meilen von einer größeren Stadt, von den Schnellstraßen oder von irgendwelchen antiken Ruinen entfernt, und der Weg dorthin war lang und beschwerlich. Mit einer kleinen Maschine, die auf einer fünf Meilen weiter östlich gelegenen Piste landete, konnte man hinfliegen, aber da es in Kiaqix nur ein einziges motorisiertes Fahrzeug gab, blieb einem nichts anderes übrig, als die fünf Meilen zu Fuß zu gehen. Es gab nur diese eine Straße, und während der Regenzeit war sie oft unpassierbar. Darüber hinaus weigerte sich Chels Mutter, nach Guatemala zurückzukehren, und sie flehte Chel jedes Mal an, es auch nicht zu tun. Solange die ladinos an der Macht waren, so glaubte Ha’ana, wären die Manus dort nicht sicher. Und seit es im Land wieder vermehrt zu Ausschreitungen gekommen war, sah sie sich in ihren Befürchtungen bestätigt. »Was ist?«, fragte Patrick. Er war in der Tür zu dem hell erleuchteten Büro stehen geblieben, und da das Planetarium hinter ihm stockdunkel war, sah es so aus, als ob die Welt hier endete, in diesem winzigen Büro. Chel zeigte ihm die Landkarte und erzählte ihm, was sie gefunden hatte. »Gibt es dort irgendwelche größeren Ruinen?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Aber Kiaqix ist doch bloß ein kleines Dorf«, wandte er ein. »Du hast gesagt, der Schreiber spricht von einer Stadt mit mehreren Zehntausend Einwohnern.« Er beugte sich über sie, um den Monitor besser zu sehen, und Chel legte instinktiv die Hand auf seinen hochgekrempelten Ärmel. Sofort stellte sich das alte Gefühl von Vertrautheit ein. Patrick hatte recht: Im Altertum war Kiaqix ein völlig unbedeutender Ort gewesen. Es hatte dort keinerlei Funde aus der klassischen Periode gegeben, und die nächsten Ruinen lagen zweihundert Meilen entfernt. Chel, den Blick auf die Landkarte geheftet, kam dennoch ins Grübeln. Die Ähnlichkeit zwischen den Angaben in dem alten Buch und den Geschichten, die sie selbst kannte, etwa die von dem König, der seine eigene Stadt zugrunde richtete, war fast schon unheimlich. »Denk an das Gründertrio«, sagte sie. »Kiaqix wurde angeblich von drei Stadtbewohnern gegründet, die in den Dschungel geflohen waren.« »Ich dachte, du glaubst nicht an die Geschichte von der versunkenen Stadt. Hast du nicht immer gesagt, das sei nur eine Legende?« »Es gibt keine handfesten Beweise, wir haben nur die mündliche Überlieferung und die Leute, die behaupten, sie hätten die Ruinen gesehen, aber sie können es nicht beweisen.« Jetzt fiel es Patrick wieder ein. »Dein Onkel, nicht wahr?« »Der Cousin meines Vaters.« Vor mehr als dreißig Jahren hatte Chiam Manu Kiaqix verlassen und war im Dschungel verschwunden. Als er über eine Woche später zurückkehrte, behauptete er, er habe die versunkene Stadt gefunden. Doch er brachte nichts mit, das seine Behauptung untermauert hätte, und er weigerte sich auch, genauere Angaben darüber zu machen, in welcher Richtung die versunkene Stadt lag. Nur wenige Dorfbewohner glaubten ihm; die meisten verspotteten ihn und nannten ihn einen Lügner. Ein paar Wochen später wurde er von Soldaten ermordet. Er nahm die Wahrheit mit ins Grab. »Was ist mit diesem Volcy?«, fragte Patrick. »Glaubst du, er könnte aus Kiaqix stammen?« Chel holte tief Luft. »Alles, was er über sein Dorf erzählt hat, könnte auch auf Kiaqix zutreffen. Und auf ungefähr dreihundert andere Dörfer in Petén.« Patrick legte die Hand auf ihre. »Das kann doch kein Zufall sein«, sagte er leise und beugte sich noch tiefer über sie. Sie konnte den Duft seiner Sandelholzseife riechen. »Wie kommt es, dass dieses Buch ausgerechnet bei dir landet? Das ist schon ein verdammt merkwürdiger Zufall, findest du nicht auch?« Chel wandte sich wieder dem Computerbildschirm zu. In Qu’iche gab es kein Wort für »Zufall«, und das war nicht nur ein Übersetzungsproblem. Ihr Volk gebrauchte ein anderes Wort für das unerwartete Eintreten von Ereignissen, die alle in dieselbe Richtung deuteten. Es war dasselbe Wort, das Chels Vater in seinem letzten Brief aus dem Gefängnis verwendet hatte, als er spürte, dass der Tod nah war: ch’umilal. Schicksal. 12.19.19.17.13 – 15. DEZEMBER 2012 19 Es war kurz nach sechs Uhr morgens, als Stanton das Haus verließ, um an einer Telefonkonferenz mit hochrangigen Verwaltungsbeamten aus L.A., Atlanta, Washington und anderen Städten teilzunehmen. Davies und Thane gingen unterdessen ein letztes Mal ihren gemeinsamen Plan in allen Einzelheiten durch. Die Sonne stieg nur langsam höher am Horizont und hatte die Luft über dem Meer noch nicht aufgeheizt. Es war kalt auf der menschenleeren Strandpromenade, und Stanton war mit seinem langärmeligen Hemd und der Jeans viel zu dünn angezogen. Das Knattern eines unsichtbaren Hubschraubers irgendwo in der Ferne war das einzige Geräusch, das mit dem Rauschen der Brandung wetteiferte. Stanton blendete die routinemäßige Telefonschaltung aus, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte. Ein paar Männer saßen unten am Strand. Alle trugen Schutzbrillen, und sie hatten ihre Liegestühle im Kreis aufgestellt. Im ersten Moment war Stanton völlig irritiert. Er konnte sich nicht vorstellen, wer so dreist war, gegen die Ausgangssperre zu verstoßen. Dann bemerkte er, dass sie genau dort saßen, wo sich die Anonymen Alkoholiker meist bei Sonnenaufgang trafen. Stanton fand es seltsam tröstlich zu wissen, dass einige Verabredungen eingehalten wurden, ganz egal, was passierte. »Die Versorgungsbetriebe stoßen an ihre Grenzen«, sagte der Vertreter der FEMA, der Federal Emergency Management Agency, jetzt am Telefon. »Ohne Elektrizität keine Trinkwasserversorgung.« In Los Angeles drohte schon seit Jahrzehnten eine Energiekrise. Jetzt, wo die halbe Stadt nicht mehr schlafen konnte vor Angst, waren Lampen, Fernseher, Computer rund um die Uhr eingeschaltet. Es kam immer öfter zu Stromausfall, weil das Netz überlastet war. Der Wasserverbrauch war ins Astronomische gestiegen. Es war nicht auszuschließen, dass binnen einer Woche kein Wasser mehr aus den Hähnen kam. »Was machen wir mit den Toten?«, warf Stanton ein, obwohl er nicht an der Reihe war. »Überall in der Stadt könnten Leichen in den Häusern verwesen.« »Wir müssen sie zu einer zentralen Sammelstelle schaffen«, antwortete jemand. Er erkannte die Stimme nicht; an jeder Entscheidung waren inzwischen unzählige Bürokraten beteiligt. »Wir reden hier möglicherweise von ein paar Tausend in den nächsten Tagen«, sagte Stanton. Im gesamten Stadtgebiet waren über achttausend Fälle von VFI registriert worden. »Sie haben weder die Ausrüstung für eine potenziell tödliche Seuche dieses Ausmaßes, noch könnten Sie für die Sicherheit der Arbeiter garantieren.« »Nun, wir müssen irgendetwas tun«, mischte sich Cavanagh ein. »Und es ist ganz unglaublich, dass ich das jetzt sage, aber vielleicht müssen wir die Leute bald auffordern, die Leichen in der Badewanne mit Säure oder Lauge zu übergießen, damit sie sich auflösen.« Stantons Chefin nahm von einem Postamt in East L.A. aus an der Konferenz teil. Die Postfiliale war aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen worden; jetzt hatte das CDC dort seine Kommandozentrale eingerichtet. Stanton konnte an Cavanaghs Stimme hören, wie sehr sie das alles belastete. Bis jetzt hatten sich zweiundvierzig Beamte und Krankenschwestern des Seuchenzentrums mit VFI infiziert, und Stanton kannte Cavanagh gut genug, um zu wissen, dass sie sich die Schuld daran gab. Sie hatte viele dieser Mitarbeiter persönlich ausgesucht und nach L.A. geschickt, damit sie bei der Seuchenbekämpfung halfen. Als die Konferenz zu Ende war, bat Stanton seine Chefin, in der Leitung zu bleiben. Er, Davies und Thane würden die Antikörper in den nächsten vierundzwanzig Stunden so oder so einsetzen. Es war alles genauestens geplant. Aber wenn es ihm gelänge, Cavanagh davon zu überzeugen, dass das der richtige Weg war, würde ihnen eine größere Testgruppe zur Verfügung stehen und sie würden nicht gegen das Gesetz verstoßen. »Emily, die Quarantäne wird durchlässig«, sagte er. »Bald wird man in jeder Stadt in Amerika diese Diskussion über Leichen und Badewannen führen müssen. Wir müssen über alternative Therapien reden.« »Wir haben schon darüber geredet, Gabe.« »Aber ich muss es noch einmal sagen. Wenn wir sofort anfangen, könnten wir in kürzester Zeit eine Antikörpertherapie entwickeln. In ein, zwei Tagen.« Er warf einen Blick über die Schulter auf sein Haus, wo bereits eifrig an dem Wirkstoff gearbeitet wurde. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, wie Cavanagh reagieren würde, wenn sie es erfuhr. Aber falls die Patienten auf die Therapie ansprechen würden, hätte Cavanagh gar keine andere Wahl, als einem Versuch in großem Umfang zuzustimmen. Der Hubschrauber kam näher, er kreiste irgendwo hinter Stanton. »Ich werde mit dem Boss reden«, sagte Cavanagh schließlich. »Vielleicht kann er das Weiße Haus überreden, ein Dekret zu erlassen, damit die FDA auf das normale Zulassungsverfahren verzichtet.« »Die FDA wird sich Zeit lassen. Wie üblich.« »Wir wollen alle das Gleiche, Gabe«, sagte Cavanagh resigniert und beendete das Gespräch. Stanton war frustriert. Sie ließ ihm keine Wahl. Als er ins Haus zurückwollte, klingelte sein Handy erneut. Er nahm das Gespräch an. »Haben Sie etwas gefunden?« »Dr. Stanton? Hier ist Chel Manu.« »Ja, ich weiß. Also? Haben Sie noch etwas gefunden?« »Sorry. Ja. Ja, wir haben noch etwas gefunden. Es könnte … hilfreich sein. Es ist richtig gut.« Es war eine willkommene Abwechslung, eine lebhafte, ja sogar zuversichtliche Stimme zu hören. »Gut ist gut«, erwiderte er. »Erzählen Sie.« Als sie ihm von ihrer Entdeckung erzählte – dass sich der ermittelte Längengrad der antiken Stadt offenbar in unmittelbarer Nähe zu dem Dorf befand, in dem sie geboren worden war –, wusste Stanton nicht, was er davon halten sollte. Aber hatte er überhaupt eine Wahl? Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen. Jeder sagte ihm, sie wisse genau, was sie tue. Und dennoch kam sie immer wieder mit Geschichten daher, von denen eine abenteuerlicher war als die andere. Alles in ihrer Arbeit und in ihrem Leben schien stets zum Ausgangspunkt zurückzuführen. »Und Ihnen war nicht klar, dass Volcy aus Ihrem Dorf kam?«, fragte Stanton ungläubig. »Wir wussten, dass er aus Petén stammte. Aber an Kiaqix habe ich nicht im Traum gedacht. Und Volcy hatte Angst. Auf meine Fragen nach seinem Dorf hat er immer ausweichend geantwortet.« »Sind das alles nur Vermutungen oder haben Sie handfeste Beweise für Ihre Geschichte?« »Es gibt kein Telefon in Kiaqix, aber ich habe mit einem Cousin von mir gesprochen, der in Guatemala City wohnt. Er fährt regelmäßig nach Kiaqix, um seinen Vater zu besuchen. Ich habe ihn gebeten, sich im Internet auf einer Nachrichtenwebsite das Foto von Volcy anzusehen, das an die Medien rausgegeben wurde, und er hat ihn wiedererkannt.« Der Hubschrauber knatterte jetzt direkt über Stanton. Er blickte auf und sah, dass es nicht nur einer war, sondern zwei. Sie flogen ziemlich tief und schienen direkt auf den Strand zuzuhalten. Der eine war groß und sah aus wie eine Militärmaschine. Der andere war kleiner – vier Plätze unter einer Glashaube. Sekunden später setzten sie nacheinander auf dem Boden auf, etwa hundert Meter den Strand hinauf. Das war eines der merkwürdigsten Bilder, die Stanton an der Strandpromenade je gesehen hatte, und das wollte verdammt viel heißen. Die Männer von dem AA-Treffen sprangen auf und hielten schützend die Hände vors Gesicht, als der Sand von den Rotoren aufgepeitscht wurde. Fünf mit Maschinengewehren bewaffnete Männer im Tarnanzug sprangen aus dem Hubschrauber der Nationalgarde und rannten zu dem kleinen Mehrzweckhubschrauber. Sie zerrten den jungen Piloten, einen Mann um die sechzig und eine rothaarige Frau, die höchstens fünfunddreißig sein konnte, aus der Maschine. Der ältere Mann trug einen Blazer und eine Hose mit Bügelfalte, als ob er zu einem geschäftlichen Termin unterwegs wäre. Die Rothaarige hatte immer noch ihre Sonnenbrille auf. Sie kreischte laut, als ihr und den beiden Männern Handschellen angelegt wurden. Alle drei wurden festgenommen. Stanton konnte es nicht fassen: Da versuchten ein paar reiche Typen, sich den Weg aus der Quarantäne zu erkaufen. »Dr. Stanton?« Er konzentrierte sich wieder auf sein Telefonat. »Ja. Okay. Wir müssen herausfinden, wann Volcy das letzte Mal im Dorf gesehen wurde und in welche Richtung er gegangen ist, um diese … versunkene Stadt zu suchen.« Ein Atlantis im Dschungel als Infektionsherd war nicht die Antwort, die er sich erhofft hatte. Aber etwas anderes hatten sie nicht. »Wie gesagt, es gibt dort kein Telefon. Und mit der Post kann es Wochen dauern. Wir reden hier wirklich vom tiefsten Dschungel.« »Dann schicken wir ein Flugzeug hin.« »Ich dachte, die Guatemalteken verweigern die Zusammenarbeit.« Stanton presste die Lippen aufeinander. Jetzt, wo Tausende infiziert waren, würde es in der Tat schwer werden, irgendjemanden in den Staaten, geschweige denn in Guatemala, davon zu überzeugen, dass ihre einzige Chance darin bestand, ein Team auf die Suche nach einer Ruinenstadt im Dschungel zu schicken. »Versuchen Sie, die genaue Position zu ermitteln, und wir werden sie schon dazu bringen.« »Ich werde mein Möglichstes tun«, versprach sie. »Das weiß ich, Chel.« Er sprach ihren Namen das erste Mal laut aus, so wie er es von ihr gehört hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren: mit einem weichen »Sch«. Eine Sekunde lang dachte er, er habe es vermasselt, aber sie sagte nur: »Ich melde mich wieder, Gabe.« Eine Brise wehte vom Meer heran, und der Dunst dämpfte die Strahlen der aufgehenden Sonne. Als Stanton mit einem Tastendruck das Gespräch beendete, hatte der Militärhubschrauber mit den drei Festgenommenen an Bord schon wieder abgehoben. Nur der kleine Mehrzweckhubschrauber stand noch da. Zwei der Typen von den AA spähten in das leere Cockpit; wahrscheinlich überlegten sie, ob sie das Ding irgendwie in die Luft kriegen könnten. Als einer seinen über und über tätowierten Arm durchs Fenster streckte, erinnerte sich Stanton an jemanden. Er drehte sich um und ging eilig die Promenade hinunter. An einigen Geschäften waren die Metallrollläden aufgestemmt worden und hatten sich aufgerollt wie altmodische Sardinenbüchsen. Der Ocean Front Walk war für Fahrzeuge gesperrt, aber jetzt musste Stanton alle paar Meter um eine verlassene Schrottkiste herumgehen. Ein Pick-up war durch eine Ziegelmauer in einen Laden gerast. Der Rasen zwischen dem Fußweg und dem Strand war übersät mit Dutzenden gelben T-Shirts mit dem Aufdruck VENICE, WO KUNST UND VERBRECHEN SICH TREFFEN. Als er zu der Freak Show kam, sah Stanton, dass sich am Eingang etwas bewegte. Ein Leguan mit zwei Köpfen bewegte sich auf den Stufen ruckartig hin und her. Plünderer hatten die Glastüren eingeschlagen, sodass die Tiere hatten entkommen können. Der Leguan huschte zurück ins Haus. Stanton lief hinterher. Drinnen war alles zerschlagen. Es stank nach Formaldehyd, weil die Gläser mit den konservierten Kadavern von den Regalen gefegt worden und zerborsten waren. Eine Viper mit zwei Köpfen lag tot unter einem umgestürzten Gestell. Von den anderen Tieren keine Spur. Stanton rannte in das kleine Büro. Monster und Electric Lady waren nicht da. Der Laptop, den sein Freund immer dabeihatte, war auf dem Schreibtisch zerschmettert worden, und Monsters Windjacke lag verlassen auf der schmalen Pritsche. *** Benommen machte sich Stanton auf den Heimweg. Er öffnete die Haustür und zwängte sich zwischen Laborgeräten und Kabelsträngen hindurch, die an den Generator angeschlossen waren, den sie hergeschafft hatten. Auf dem Boden standen Abtropfgestelle und Zentrifugen, daneben Möbelstücke, über die dünne Plastikplanen geworfen worden waren. Davies und Thane standen in der Küche und tranken den letzten Kaffee. Die Kaffeemaschine hatten sie ebenfalls an den Generator angeschlossen. »Wo hast du denn gesteckt?«, fragte Davies. »Eine Runde surfen? Eis essen? Das gesalzene Karamelleis von N’ice Cream soll köstlich sein, hab ich gehört.« Stanton achtete nicht auf ihn. »Ist zufällig irgendwer hier gewesen, während ich weg war?« Monster wusste, wo Gabe wohnte, weil dieser ihn einmal zu einem Straßenkunstevent eingeladen hatte. Falls sein Freund also irgendwie in Schwierigkeiten steckte … Aber Davies schüttelte den Kopf. »Wen hast du erwartet? Maskierte Kinder, die etwas Süßes wollen und dir Saures geben? Na ja, ich seh wahrscheinlich wirklich so aus, als hätte ich mich für Halloween verkleidet.« Er trug ein altes Button-down-Hemd und eine zerknitterte Khakihose, beides von Stanton, weil er seine eigenen Sachen in die Waschmaschine geworfen hatte. Davies’ ungewohnt saloppe Aufmachung war wie das letzte Zeichen dafür, dass die Welt ihrem Untergang entgegenging. Stanton wandte sich zu Thane hin. »Alles in Ordnung?« »Alles bestens. Von mir aus kann’s losgehen.« »Wo wir gerade davon sprechen«, warf Davies ein. »Ich hab einen winzigen Lichtblick für dich. Ich glaube, die Antikörper sind früher so weit als gedacht.« Stanton nickte. »Schauen wir mal nach.« Das Hochleistungsmikroskop im Esszimmer wurde von einem zweiten Generator gespeist. Stanton blickte durch das Okular. Nachdem sie die Mäuse mit VFI infiziert hatten, hatten sie die von den Tieren gebildeten Antikörper zusammen mit VFI-Erregern in ein Reagenzglas gegeben. Das Ergebnis war verblüffend. Die Umwandlung der Eiweißmoleküle in pathogene Proteine hatte sich in jeder Probe verlangsamt oder war sogar gestoppt worden. »Jetzt muss sie sie nur noch in die Infusionsflaschen am Bett ihrer Freunde injizieren und sich nicht dabei erwischen lassen«, meinte Davies mit einer Kopfbewegung zu Thane hin. Thanes Bedingung für die Teilnahme an dem illegalen Experiment war, dass der Versuch an ihren erkrankten Freunden und Kollegen vom Presbyterian Hospital durchgeführt werden sollte. Sie wusste, dass sie, falls die Therapie nicht anschlug, das Leben ihrer Freunde gefährdete. Sie wusste aber auch, dass dies die einzige Chance auf Heilung war, die sie hatten. »Wie lange wird es dauern, bis wir wissen, ob es funktioniert?«, fragte sie. »In vierundzwanzig Stunden müssten wir ein erstes Ergebnis haben«, antwortete Stanton. »Und wenn es nicht funktioniert?« »Ich weiß nicht, wie ihr Yankees das seht«, meinte Davies, »aber ich für meinen Teil werde einen Weg suchen, dieses gottverlassene Land schleunigst zu verlassen.« 20 Die beiden hatten beschlossen, ihre Zitadelle in den Verdugo Mountains zu errichten, weil dieser Ort für die Tongva – das »Volk der Erde« – eine spirituelle Bedeutung hatte. Die Tongva-Indianer hatten, bevor die Spanier kamen, jahrtausendelang im Gebiet des heutigen Los Angeles gelebt. Angesichts knapper Finanzen in den Kommunen war es nicht schwer gewesen, das L.A. County zu überreden, ihnen ein über achtzigtausend Quadratmeter großes Grundstück zu verkaufen. Dort hatten er, sein Hüter des Tages und ihre wachsende Zahl von Anhängern in aller Stille fünfzehn kleine Häuser aus Stein gebaut, von denen jedes Platz für bis zu vier Personen bot. Sie hatten alle erforderlichen Genehmigungen eingeholt, sich mit den Leuten angefreundet, die regelmäßig zum Wandern in die Gegend kamen, und einen Antrag auf Eingemeindung ihrer kleinen Gemeinschaft von Selbstversorgern zwanzig Meilen außerhalb der Stadt gestellt. »Wir haben das geschaffen«, hatte er erst vor einem Monat zu ihnen gesagt, unter dem stolzen Blick seines Hüters des Tages. »Wir alle. Gemeinsam.« Und so war es auch. Sie hatten alle ihren Beitrag geleistet, auch wenn das nicht allen sechsundzwanzig Männern und Frauen und den zwei Kindern, die inzwischen geboren worden waren, bewusst war. Einige hatten ihn gebeten, auf den Hügel hinaufzusteigen und von dort oben zu ihnen zu sprechen und nicht von der Schwelle seines bescheidenen Hauses aus. Er hatte nur gelächelt. »Eines Tages wird es vielleicht einen König unter uns geben«, hatte er gesagt, »aber das wird nicht heute sein, und das werde ganz bestimmt nicht ich sein.« Früher einmal war er Soldat gewesen. Er hatte fast sein ganzes Leben in irgendeiner Wüste verbracht: in Arizona, in Kuwait, in Saudi-Arabien. Als sie ihn das erste Mal nach Guatemala geschickt hatten, hatte ihm die feuchte Hitze fast die Luft abgeschnürt, und er hatte sich unter dem strotzenden Blätterdach des Dschungels, das keinen Lichtstrahl hindurchließ, gefühlt wie in einer Falle. Doch dann hatte er dieses Land lieben gelernt. Nicht Guatemala City mit den vielen Dieben und Bettlern, nicht die Soldaten, die er hier ausbilden sollte, mit ihrer durch nichts gerechtfertigten Prahlerei. Nein, er hatte sich in die verborgene Welt des Regenwalds verliebt. Anfangs waren die indígenas nichts als verschwommene Gestalten am Rand der Schotterstraßen gewesen, die kaum von ihrer Feldarbeit aufgeblickt hatten, wenn er in seinem Army-Jeep vorbeigerattert war. Doch dann hatte er an seinen dienstfreien Wochenenden angefangen, die Ruinen von Tikal und Copan zu erforschen. Er las Bücher über die Kultur, die den spanischen Eroberern getrotzt hatte und jahrhundertelang auch Männern wie ihm, Männern, die ausgeschickt worden waren, sie zu zerstören. Er beschäftigte sich mit den uralten Weissagungen, und er begriff, was für ein tiefes Verständnis von der Welt und ihren Geheimnissen die Alten gehabt hatten. Als er dann dem Hüter des Tages begegnete, wusste er, was er zu tun hatte. Als ehemaliger Soldat wusste er, wie wichtig strenge Befehle waren, und mithilfe von Befehlen war es ihm auch gelungen, seine Anhänger unter Kontrolle zu bringen. Aber Befehle waren nicht alles. Ein Soldat lernte, seinem Anführer bedingungslos überallhin zu folgen. Auf diese Weise konnte man Schlachten gewinnen, nicht aber eine bleibende Kultur schaffen. Mit Befehlen formte man keine Anführer und Priester, Befehle genügten nicht, um eine Stadt zu gründen, die ihn und den Hüter des Tages überdauern würde. Jene Anhänger, die ihn baten, auf einen Hügel zu steigen und Reden zu halten, taten dies, weil sie jemanden brauchten, der ihnen Befehle erteilte. Jemanden, der sie regierte. Mit bloßen Händen hatten sie aus dem Nichts eine Stadt erschaffen, aber der Gedanke, eine Kultur zu begründen, erfüllte sie mit panischer Angst. Sie hatten eine Menge geopfert für ihre Überzeugung – die Familie, den Beruf und vieles mehr –, und jetzt war etwas überaus Beängstigendes eingetreten: Es hatte sich herausgestellt, dass sie recht hatten. Er starrte zum Fenster seines kleinen Hauses in den Bergen hinaus, vielleicht zum letzten Mal. Da hatten sie so gründlich geplant, sich so gut vorbereitet, und jetzt erwiesen sich diese Berge doch nicht als die Zuflucht, die sie brauchten. Obwohl dieser Ort so abgeschieden war, lag er immer noch in der Quarantänezone, wo Tausende starben und weitere Zehntausende folgen würden. Er würde seine Leute an einen Ort führen müssen, den sie nur aus Büchern kannten. Und er wusste, dass nicht alle diese Reise überleben würden. Er wandte sich vom Fenster ab und setzte eine Miene auf, die vertrauenerweckende Gewissheit ausdrückte. Nacheinander sah er die beiden Männer und die Frau an seinem Esstisch an. »Achtzehn Monate Bauzeit«, sagte Mark Lafferty. »Und jetzt können wir wieder von vorn anfangen.« Lafferty, ein Hochbauingenieur mittleren Alters, war unweit von Three Mile Island aufgewachsen, was ihn zu einer pessimistischen Einstellung berechtigte. Aber er war sehr nützlich. Er hatte die Bauarbeiten geleitet. Ihr Anführer erhob sich schwungvoll und ging in dem kleinen Raum auf und ab. Die anderen sahen zu, wie er scheinbar seine Gedanken ordnete. Die Menschen brauchten jemanden, der ihnen sagte, was sie tun sollten, und manchmal stimmte es ihn richtig traurig, wie leicht es war, sich dieses Bedürfnis zunutze zu machen. Hätte er nicht den Hüter des Tages als Gesprächspartner, er würde sich zu Tode langweilen. »Mark«, sagte er, »du hast hier fantastische Arbeit geleistet. Überleg doch, wie viel aufregender das Bauen erst mit den Originalmaterialien sein wird: Lehm, Holz, richtiges Stroh. Außerdem werden wir dort unten viel mehr Platz haben. Mehr, als wir hier jemals haben könnten. Seht in euer Herz. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass diese Berge nicht das Richtige für uns waren. Wir hätten schon längst nach Süden ziehen müssen.« Er setzte sich wieder hin. Auf dem Tisch waren Karten ausgebreitet: von Los Angeles, von der Westküste und der Route durch Mexiko nach Mittelamerika. Auf der ganzen Strecke gab es einige Orte, wo man Lafferty zurücklassen könnte, falls er eine Last für die Moral der Gruppe werden sollte. Diese Entscheidung musste man auf sich zukommen lassen. Zunächst einmal mussten sie weg von hier – nachdem die eine noch ausstehende Aufgabe erledigt war. Er wusste, dass David Sarno sich als Nächster zu Wort melden würde. Sarno gehörte zu den Ersten, die sich ihnen angeschlossen hatten. Er hatte seinen landwirtschaftlichen Großbetrieb aufgegeben, weil er die Gentechnik in der Landwirtschaft entschieden ablehnte. Er kannte sich bestens aus mit Feldbau und mit Böden, und er hatte eine gewisse Autorität, die man weiterentwickeln konnte. »Bei den Durchschnittstemperaturen dort unten ist es kein Problem, Mais oder Bohnen anzubauen. Weizen wächst vielleicht nicht so gut, aber auf den können wir getrost verzichten.« »Was sagt der Hüter des Tages dazu?«, fragte Laura Waller. Als er Laura kennengelernt und angeworben hatte, war sie zweiunddreißig Jahre alt gewesen, von Beruf Lehrerin, und nach vier gescheiterten Versuchen einer künstlichen Befruchtung hatte sie sich scheiden lassen. Jetzt war sie in der dreißigsten Woche schwanger, und sie hatten ihr Kind auf natürlichem Wege gezeugt. »Er ist der gleichen Meinung. Die einzige Lösung heißt: nach Süden.« »Wir brauchen acht Lkw, damit wir alles transportieren können«, sagte Lafferty. Der Mann war wirklich anstrengend. »Wie sollen wir so viele Fahrzeuge über die Grenze bringen?« Er schob ruhig die Karten hin und her. »Wir bekommen alles in vier Lkw höchstens. Wir nehmen nur das Nötigste mit: Saatgut, Medikamente und Waffen.« Die Tür ging auf. Der Hüter des Tages. Er war wohlbehalten hier angekommen. Die Erleichterung war fast mit Händen zu greifen. Nicht zum ersten Mal wurde ihm klar, wie viel sein Partner diesen Menschen bedeutete. Er war warmherzig. Freundlich. Er nahm Anteil an ihnen und an ihrem Leben. »Komm, setz dich, Hüter des Tages. Hast du Durst?« »Nein, vielen Dank, Colton. Ich möchte nichts.« Victor wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und setzte sich an den Tisch. »Ich glaube, das hier ist der letzte friedliche Winkel in der Stadt«, sagte er. Lafferty wollte noch einmal auf das Problem der Logistik zu sprechen kommen, aber Shetter schnitt ihm rasch das Wort ab. »Ich danke euch allen für euren Rat. Jetzt möchte ich euch bitten, mich ein paar Minuten mit dem Hüter des Tages allein zu lassen.« Shetter küsste Laura auf die Wange, als sie aufstand und mit den anderen das Haus verließ. »Und, wie haben sie die Änderung des Plans aufgenommen?«, fragte Victor, als sie allein waren. »Sie haben Angst.« »Wir sollten alle Angst haben.« »Aber sie sind auch stärker, als sie denken«, fügte Shetter hinzu. Er hatte Victors Werk schon lange vor ihrer ersten Begegnung gekannt. Bei den Zusammenkünften mit seinen ersten Internet-Anhängern hatte er oft laut aus Victors Abhandlungen über die Lange Zählung vorgelesen. Vor achtzehn Monaten hatten die beiden Männer dann während der rituellen Weihrauchzeremonie bei den Ruinen von El Mirador nebeneinandergesessen. Shetter wusste sofort, dass das kein Zufall sein konnte. Sie waren von Anfang an die idealen Partner gewesen. Niemand kannte sich in der Geschichte der alten Maya-Kultur besser aus als Victor, der außerdem noch die Fähigkeit hatte, ihre Leute mitzureißen. Das Planen überließ er Shetter. Victor zog einen Stoß Blätter aus seinem Rucksack. »Das hier sind die zuletzt übersetzten Seiten. Das sollte auch den letzten Zweifler überzeugen.« Der Kodex war der endgültige Beweis für ihr kollektives Schicksal. Er belegte nicht nur, dass die alten Maya das Jahr 2012 als das Jahr des Weltuntergangs vorausgesagt hatten, sondern dass einige wenige den Zusammenbruch vorhergesehen und überlebt hatten, weil sie aus den Städten geflohen waren. Und jetzt war es seine, Shetters, und Victors Mission, ihre Leute in Sicherheit zu bringen. Shetter überflog die Übersetzung. »Eines Tages werden die Kinder diese Worte genauso perfekt auswendig können wie das Treuegelöbnis auf die amerikanische Nation. Kaum zu glauben, findest du nicht auch?« Nur bei Victor ließ er sich zu der freudigen Erregung und der ehrfürchtigen Bewunderung hinreißen, die er im Beisein der anderen stets unterdrückte. Victor nickte zerstreut. »Alles in Ordnung?«, fragte Shetter stirnrunzelnd. »Ja, alles bestens.« »Gibt es ein Problem?« »Nein, nein, überhaupt nicht.« Shetter konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche. »Hast du die Pläne?« »Die brauchen wir nicht.« Victor reichte ihm einen schlichten Lageplan, wie jeder Besucher des Getty Museums ihn bekam. Es waren keine Größenangaben darauf eingezeichnet, keine elektrischen Leitungen, keine Einzelheiten des Sicherheitssystems. Victor würde in der neuen Welt von unschätzbarem Wert sein, aber in dieser hier war er schlecht vorbereitet. »Vertrau mir«, sagte Victor. »Es wird kein Problem sein, in das Gebäude zu kommen.« »Ich vertraue dir, das weißt du.« »Gut. Gibt es sonst noch etwas zu besprechen? Wir marschieren einfach hinein und wieder hinaus.« Shetter hatte schon vorher beschlossen, das Thema Waffen nicht anzuschneiden. Für Victor trugen Waffen und anderes Kriegsgerät maßgeblich dazu bei, dass es so schlecht um die Welt stand. In ihrer neuen Gesellschaft sollte über solche Dinge nicht einmal gesprochen werden. Shetter würde ihm, zumindest vorläufig, den Gefallen tun und seine Luger P08 in seiner Jackentasche lassen. 21 Chel raste Richtung Westen, ohne die Plünderer, die Brände, die verlassenen Fahrzeuge ringsherum wahrzunehmen. »Er hätte einer von ihnen sein können.« Rolandos Stimme drang abgehackt aus ihrem Bluetooth. Er meinte damit, dass der Schreiber aus der versunkenen Stadt einer der drei Gründer von Kiaqix hätte sein können. Heute erschien ihr diese Idee schon nicht mehr ganz so absurd, wie es tags zuvor noch der Fall gewesen wäre. Dennoch antwortete sie: »Wir wissen doch nicht einmal, ob diese Stadt tatsächlich existiert hat.« »Sein Krafttier ist ein Ara. Tausende von diesen Vögeln an einem Ort würde er doch garantiert als gutes Omen deuten, meinst du nicht?« Chel erwiderte nichts darauf. Im Geist modelte sie die überlieferte Legende zur historischen Tatsache um: Ein Adliger und seine beiden Ehefrauen fliehen aus einer Stadt, die ihrem Untergang entgegengeht, in den Urwald. Am dritten Tag ihrer Wanderung kommen sie zu einer Lichtung, wo sich auf den Bäumen ringsum hunderte scharlachrote Aras niedergelassen haben. Da sie wie alle Maya des Altertums an die große übernatürliche Macht von Vögeln glauben, sind sie überzeugt, dass dies ein vom Glück begünstigter Ort ist. Sie beschließen zu bleiben, und so wird Kiaqix gegründet. »Wenn wir den Kodex vollständig dechiffriert haben, stellt sich vielleicht heraus, dass Paktul diese beiden jungen Mädchen geheiratet und mit ihnen dein Dorf gegründet hat«, fuhr Rolando fort. Ein leises Knacken, und seine Stimme verlor sich wieder. Chel musste einem Auto ausweichen, das verlassen vor den La Brea Tar Pits stand, einem natürlichen Asphaltvorkommen mitten in der Stadt. Während der letzten Eiszeit waren Tausende von Tieren in der blubbernden Masse stecken geblieben und vom Mastodon bis zum Säbelzahntiger versteinert. Chel fragte sich, was in zehntausend Jahren wohl von den Menschen übrig sein würde. Sie fuhr den Wilshire Boulevard hinunter. Jede freie Fläche war mit Graffiti vollgesprüht. Da die Polizei Wichtigeres zu tun hatte, nutzten die Sprayer die Gunst der Stunde. Chel erkannte die Tags genannten Signaturen der Crips, einer Gang in L.A., sowie von einigen anderen, die den Graffiti-Künstler Banksy nachahmten, und die Initialen von unbekannten Sprayern. Dann, westlich der La Brea Avenue, sah sie etwas an ein Gebäude geschmiert: Der Maya-Gott Gukumatz, die gefiederte Schlange, wurde manchmal dargestellt als Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein Sinnbild für die Ernte, für den immer wiederkehrenden Zyklus der Zeit, für die Verwurzelung der Maya in ihrer Vergangenheit. Bei den alten Griechen hieß diese Schlange Uroboros und versinnbildlichte etwas ganz Ähnliches. Aber Chel wusste, dass derjenige, der dieses Zeichen an die Wand gesprüht hatte, etwas anderes im Sinn gehabt hatte. Die 2012er hatten sich Gukumatz zu eigen gemacht, nicht als Symbol der Erneuerung, sondern der Zerstörung, die das Ende der Langen Zählung mit sich bringen würde – als Warnung, dass alle nach dem Schöpfungsmythos der Maya bisher erschaffenen Menschenarten ausgelöscht, von der unerbittlichen Schlange Zeit verschlungen würden. Endlich stoppelte sich das Signal wieder zusammen, und sie konnte Rolando wieder hören. »Hallo? Bist du noch da, Chel?« »Ja, ich bin noch da. Tu mir einen Gefallen und hol Victor ans Telefon.« »Versuch’s auf seinem Handy. Er ist nach Hause gegangen, um irgendeinen Artikel aus den 1970er-Jahren zu suchen, der uns bei der Dechiffrierung der Akabalam-Glyphe helfen könnte. Anscheinend hortet er alte Ausgaben jahrzehntelang.« »Ja, ich weiß.« »Wann bist du wieder zurück?« »Ich komme so schnell ich kann.« »Wo fährst du hin?« »Es gibt nur einen Menschen, der mehr über Kiaqix weiß als ich, und zu dem will ich jetzt.« *** Die massiven Bronzetüren der Kathedrale Our Lady of the Angels waren Chel noch vor wenigen Tagen als Inbegriff der Verschwendung vorgekommen. Jetzt war sie dankbar dafür. Sie hieb mit der flachen Hand ein paar Mal dagegen. Als die Tür endlich geöffnet wurde, blickte sie in den Lauf einer Waffe. »Mein Gott, Jinal, ich bin’s! Chel.« »Entschuldige«, erwiderte er auf Qu’iche. Er steckte die Waffe ins Holster zurück. Chel schlüpfte an ihm vorbei, und er schloss die Tür sofort wieder. »Es hat Ärger gegeben. Da sind ein paar Typen aufgetaucht, Demonstranten, die uns über die Grenze zurückbringen wollen. Du kennst doch Karana Menchu? Ihre Medikamente sind ausgegangen, sie wollte neue kaufen, also ist sie durch den Hintereingang raus, aber diese Typen haben sie entdeckt und sie herumgeschubst.« »Ist ihr etwas passiert?« »Nein, nicht schlimm, aber sie hat geweint, weil sie Angst bekommen hat.« »Hast du die Polizei gerufen?« Jinal nickte. »Ja, aber wir stehen ziemlich weit unten auf ihrer Liste der vordringlichen Aufgaben.« Chel sah den jungen Mann besorgt an. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sie kannte Jinal, seit er 2007 aus Honduras, wo er jahrelang auf den Tabakplantagen gearbeitet hatte, nach L.A. gekommen war. Sie berührte ihn sanft am Arm. »Danke, dass du auf die anderen achtgibst, Jinal.« »Das ist doch selbstverständlich.« »Hast du meine Mutter irgendwo gesehen?« Chel hatte es endlich geschafft, Ha’ana zu überreden, in der Kirche Zuflucht zu suchen. Wieder nickte der junge Mann. »Ich glaube, sie ist bei den anderen im Hauptaltarraum.« Chel eilte an den Büros der Geistlichen und an der Treppe vorbei, die zum Mausoleum hinunterführte, wo Gutierrez ihr das alte Buch gegeben hatte. In der Cafeteria waren einige Mitglieder der Fraternidad, alle mit Schutzbrillen, dabei, das Essen für die große Gruppe zu kochen. Als sie in den Altarraum kam, atmete sie den bittersüßen Duft aus den Rauchfässern ein, der ihr hier jedes Mal entgegenschlug. Früher war die süßliche Krotonpflanze verwendet worden, aber die heutigen Maya nahmen lieber Kopalharze. Deren herber Geruch schien besser zu passen, sollte er doch an all jene erinnern, die ihr Leben für die Ureinwohner geopfert hatten. Luis, einer der jüngeren Hüter des Tages, sprach gerade ein Gebet: »Diese Geister müssen gereinigt werden, damit die Menschen träumen können. Bewahre die Menschen davor, sich selbst zu zerstören. Übergib sie der Mutter Erde, damit sie von Neuem eins werden mit ihren Krafttieren.« Für die Maya war der Schlaf eine religiöse Erfahrung, eine Zeit, in der die Menschen mit den Göttern in Verbindung traten. Schlaflosigkeit galt als Zeichen mangelnder Frömmigkeit. Chel wusste, dass viele hier glaubten, VFI sei eine Strafe der Götter. In diesem Punkt hatten sie mehr mit den aufgebrachten Demonstranten draußen gemein, als sie ahnten. Chel überschlug rasch, wie viel Schlaf sie in den vergangenen vier Tagen gehabt hatte. Hin und wieder hatte sie ein kurzes Nickerchen auf dem Sofa in ihrem Büro gemacht, aber alles in allem gab es da keinen großen Unterschied zwischen ihr und jemandem im Anfangsstadium von VFI. Sie glaubte zwar nicht an die Götter ihrer Vorfahren, aber sie hatte schon das Gefühl, dass sie bestraft wurde. Ein älterer Mann in einer schwarzer Hose und einem grauen Hemd mit Button-down-Kragen kam durch den Mittelgang auf sie zu. Da jeder hier einen Augenschutz trug, war es schwierig, die Leute auseinanderzuhalten. Erst als der Mann näher kam, erkannte sie ihn an seinem weißen Bart. Es war Maraka. Chel hatte ihn nicht oft in westlicher Kleidung gesehen. »Chel!« Er umarmte sie. »Du bist wohlauf! Gott sei Dank.« »Hüter des Tages«, flüsterte sie. Maraka blickte zum Predigtpult hin. »Luis betet seit Stunden ununterbrochen.« Er machte sich nicht die Mühe, leise zu sprechen. »Meiner Meinung nach übertreibt er es. Die Götter sind allmächtig. Sie hören uns schon beim ersten Mal, glaub mir.« Chel brachte ein Lächeln zustande. »Aber ich nehme an, du bist nicht zum Beten hergekommen.« »Ich muss mit meiner Mutter reden.« Maraka zeigte ans andere Ende des Altarbereichs, wo ein paar Frauen in den Bänken saßen. Als Chel näher kam, blickte Ha’ana von ihrer Zeitschrift auf. Ein Ausdruck der Erleichterung trat in ihr Gesicht, als sie ihre Tochter sah. Sie sprang auf und drückte Chel fest an sich. Dass Ha’ana in der Kirche eine Illustrierte las, wunderte Chel nicht, die herzliche Umarmung dagegen schon. Es war Jahre her, dass ihre Mutter sie so in die Arme geschlossen hatte. Ihr war, als bräche ein Damm in ihr, und plötzlich drohte die Müdigkeit sie zu übermannen. »Du siehst aus, als hättest du überhaupt nicht geschlafen«, stellte Ha’ana besorgt fest. »Ich habe gearbeitet.« »Immer noch? Das ist doch lächerlich, Chel! Was kann denn so wichtig sein?« *** Die beiden Frauen fanden ein kleines, leeres Klassenzimmer mit hufeisenförmig angeordneten Stühlen im westlichen Flügel der in Form eines Kreuzes erbauten Kathedrale. An jeder Wand hingen Aquarelle des heiligen Josef. Chel hatte es sich anders vorgestellt, wenn sie ihrer Mutter das alte Buch zeigen würde, aber sie hatte keine Wahl. Sie erzählte Ha’ana, was für eine Verbindung bestand zwischen dem Buch und dem Ausbruch der Krankheit und welche Rolle Kiaqix bei der Suche nach dem Infektionsherd spielte. Von ihren eigenen Problemen, dem Verfahren, das gegen sie eingeleitet werden würde, und von der drohenden Kündigung im Museum, sagte sie nichts. Dazu war jetzt keine Zeit. Außerdem wollte sie ihrer Mutter nicht gerade jetzt einen Grund geben, von ihr enttäuscht zu sein. Chel scrollte schnell durch die Seiten der Bilderhandschrift auf ihrem Laptop. Ha’anas Miene blieb ausdruckslos. Sie ließ nicht erkennen, welche Gefühle der Anblick des alten Buches oder die Nachricht, dass der VFI-Erreger möglicherweise seinen Ursprung in ihrem Heimatdorf hatte, in ihr auslöste. Schließlich sagte Chel: »Jetzt weißt du, Mom, warum es so wichtig ist, dass du versuchst, dich an alles zu erinnern, was damals passiert ist, als Cousin Chiam sich auf die Suche nach der versunkenen Stadt gemacht hat.« Ha’ana legte ihre Hand auf Chels Arm. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Das weißt du hoffentlich. Jetzt weiß ich, dass meine Sorgen begründet waren. Das alles muss dich schrecklich belasten.« »Mir geht’s gut, Mom. Bitte, Mom, versuch dich zu erinnern.« Ha’ana stand auf und trat langsam ans Fenster. Chel machte sich schon darauf gefasst, dass ihre Mutter sich wie sonst immer weigern würde, in der Vergangenheit zu wühlen, und legte sich im Geiste schon Argumente zurecht, um ihr die Dringlichkeit der Situation vor Augen zu führen. Doch zu ihrer Überraschung war das gar nicht nötig. »Der Cousin deines Vaters war der beste Fährtenleser in Kiaqix«, begann sie. »Er konnte ein Stück Wild meilenweit durch den Urwald verfolgen. Schon als wir noch Kinder waren, galt er als der beste Jäger im Dorf. Dann kamen die Soldaten nach Petén. Sie haben die indígenas auf offener Straße ermordet. Sie auf dem Kirchturm erhängt oder bei lebendigem Leib angezündet. Nachdem die Armee bis nach Kiaqix vorgerückt war und dein Vater verhaftet wurde, hat Chiam seinen Platz eingenommen. Er hat den Leuten im Dorf die Briefe deines Vaters aus dem Gefängnis vorgelesen.« Chel wagte nicht, sie zu unterbrechen. So freimütig hatte ihre Mutter seit vielen Jahren nicht über die Vergangenheit oder über die Briefe aus dem Gefängnis gesprochen. »Chiam war militanter als dein Vater«, fuhr Ha’ana fort. »Er hat uns harte Strafen angedroht, falls wir für einen ladino arbeiten würden, und er hat geschworen, so viele wie irgend möglich von ihnen zu töten. Er wollte sie abschlachten, so wie sie uns abgeschlachtet haben. Was dein Vater in seinen Briefen geschrieben hat, ging ihm nicht weit genug. Obwohl die beiden so manchen Streit ausgetragen haben, standen sie sich sehr nah. Als Alvar verhaftet wurde, wusste ich, dass Chiam alles versuchen würde, um ihn aus dem Gefängnis zu holen. Manchmal konnte man einen Gefangenen freikaufen, wenn der Preis stimmte. Chiam hat also Verbindung mit den Wärtern in Santa Cruz aufgenommen. Der Preis für deinen Vater war hunderttausend Quetzal.« Jetzt stand auch Chel auf. »Das war also der Grund, warum sich Chiam auf die Suche nach der versunkenen Stadt gemacht hat. Warum hast du mir das nie erzählt?« »Chiam wollte nicht, dass irgendjemand von seinen Geschäften mit den ladinos erfährt, auch wenn er es nur getan hat, um seinem Cousin zu helfen. Außerdem wäre er, falls er etwas finden sollte, nicht stolz darauf, die Gräber unserer Vorfahren zu plündern, um den Feind zu bestechen. Aber er hat sich trotzdem auf die Suche gemacht. Als er nach zwanzig Tagen zurückkam, hat er uns erzählt, was er entdeckt hat. Er sagte, er hätte so viel Gold und Jade gefunden, dass ganz Kiaqix fünfzig Jahre davon leben könnte.« Chel wusste, wie die Geschichte weiterging. Chiam erzählte den Dorfbewohnern, dass die Seelen ihrer Vorfahren immer noch tief im Dschungel lebten; sie zu bestehlen hieße, die Götter zu erzürnen. Die versunkene Stadt sei ein spirituelles Tor zur anderen Welt und ein Beweis für die einstige Größe der Maya, die sie vielleicht eines Tages wiedererlangten. Nun da er die Ruinen mit eigenen Augen gesehen habe, bringe er es nicht über sich, auch nur einen einzigen Stein oder ein einziges Kunstwerk von dort wegzutragen. Keiner glaubte ihm. Keiner nahm ihm ab, dass er kostbare Schätze gefunden und sie einfach dort gelassen hatte. Nachdem er tagelang verspottet worden war, erklärte Chiam, er werde eine Mannschaft zusammenstellen und in den Dschungel zurückkehren, um zu beweisen, dass er kein Lügner war. Doch dazu kam es nicht mehr. Er wurde zusammen mit einem Dutzend weiterer Männer aus ganz Petén festgenommen und wegen umstürzlerischer Aktivitäten gehängt. »Chiam hat viele Einzelheiten erwähnt«, fuhr Ha’ana fort. »Er hat von einander gegenüberliegenden Zwillingstempeln geredet und von einem großen Innenhof mit riesigen Säulen ringsherum, wo sich unsere Vorfahren getroffen hätten, um über Politik zu diskutieren. Kaum zu fassen, nicht wahr? Er dachte, er würde uns mit seinen Geschichten klarmachen, dass wir genauso klug sind wie die ladinos. Aber er hat es nicht schlau genug angefangen; alle wussten, dass er gelogen hat. Er war ein guter, warmherziger Mann, aber seine Geschichte war von Anfang bis Ende erfunden.« »Ein Innenhof, sagst du? Mit riesigen Säulen?« »Ja, so was Ähnliches«, erwiderte Ha’ana achselzuckend. »Wie hoch waren die Säulen? Hat er das auch gesagt? Neun Meter? Zehn?« »Er hätte auch hundert Meter sagen können. Kein Mensch hat hingehört.« Paktul hatte einen Innenhof beschrieben, der von einem Säulengang umgeben war, und jede Säule war sechs oder sieben Mann hoch. Während es Zwillingstempel in Dutzenden antiker Maya-Städte gab, kamen so hohe Säulen nur an einem oder zwei Orten in Mexiko vor. In Guatemala waren sie höchstens halb so hoch. »Er hat sie vielleicht doch gefunden«, murmelte Chel vor sich hin. »Ach, Chel!« Chel setzte zu einer Erklärung an, aber ihre Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die versunkene Stadt ist ein Mythos. Wie alle versunkenen Städte.« »Wir haben schon versunkene Städte entdeckt, Mom. Es gibt sie tatsächlich.« Ha’ana holte tief Luft. »Ich weiß, dass du das gern glauben willst, Chel.« »Es geht nicht um mich«, erwiderte sie mit Nachdruck. »Alle in Kiaqix wollen das glauben«, fuhr ihre Mutter ungerührt fort. »Sie belügen sich selbst, weil sie damit etwas haben, an dem sie sich festklammern können, etwas, was ihnen Hoffnung gibt. Aber deshalb bleibt die Geschichte von der versunkenen Stadt doch das, was sie ist – eine alberne Geschichte, erfunden von Menschen, die es nicht besser wissen. Ich habe dich nicht hierher gebracht und dich großgezogen, damit du genauso wirst wie sie!« Ha’anas Bereitschaft, über Chiam zu sprechen, hatte Chel erstaunt, aber jetzt begriff sie, dass sich nichts geändert hatte. Ha’ana war immer noch dieselbe Frau, die ihre Heimat verlassen und alles aufgegeben hatte, woran ihr Mann geglaubt hatte. Dieselbe Frau, die seit dreiunddreißig Jahren versuchte zu vergessen, was geschehen war, und die die Bedeutung ihrer Kultur und ihrer Tradition leugnete. »Vielleicht glaubst du nicht an die versunkene Stadt, weil du Angst davor hast, was es für dich bedeuten würde, Mom.« »Was willst du damit sagen?« »Ach, vergiss es.« Es hatte ja doch keinen Sinn. »Ich muss los. Ich habe noch eine Menge zu erledigen.« Wie spät war es eigentlich? Chel blickte auf ihr Handy und sah, dass eine E-Mail von Stanton gekommen war: Ich weiß, dass Sie sich melden, wenn es etwas Neues gibt; wollte mich nur vergewissern, dass es Ihnen gut geht. G. Sie las die Nachricht ein zweites Mal. Irgendwie gefiel ihr der Gedanke, dass er sich offenbar um sie sorgte. »Hast du allen Ernstes vor, nach diesen Ruinen zu suchen?«, fragte Ha’ana. »Ausgerechnet jetzt, wo diese Seuche ausgebrochen ist?« »Genau deswegen müssen wir sie ja suchen, Mom.« »Und wie?« Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Zum Beispiel per Satellit«, sagte Chel nachdenklich. »Oder vom Boden aus, wenn es nicht anders geht.« »Sag mir bitte, dass du nicht vorhast, selber in den Dschungel zu gehen, Chel.« »Wenn die Ärzte mich dort brauchen, fahre ich hin.« »Das ist zu gefährlich! Du weißt, dass das zu gefährlich ist!«, sagte ihre Mutter beschwörend. »Vater hatte auch keine Angst, als er getan hat, was er tun musste.« »Dein Vater war ein Tapir. Ein Tapir kämpft, aber er läuft nicht blindlings in das Reich des Jaguars, damit er dann von dem zerfleischt wird.« »Und du warst ein Fuchs«, entgegnete Chel hitzig. »Ein Graufuchs, der keine Angst hat vor den Menschen, nicht einmal vor denen, die ihn jagen. Aber du hast den Geist deines wayob verraten, als du Kiaqix verlassen hast.« Ha’ana wandte sich ab. Es war eine schwere Beleidigung, einem Maya vorzuhalten, er sei seines wayob nicht würdig. Chel bereute ihre Worte, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Auch wenn ihre Mutter eine angespannte Beziehung zum Land ihrer Vorfahren haben mochte, so war ihr wayob nach wie vor ein Teil von ihr. »Du hilfst vielen Menschen hier«, sagte Ha’ana nach einer Weile. »Aber wie ich höre, kommst du jedes Mal erst wenn die Zeremonie schon vorbei ist. Tief drin glaubst du genauso wenig an die Götter wie ich. Vielleicht sind wir uns ähnlicher, als du denkst.« 12.19.19.17.14 – 16. DEZEMBER 2012 22 Michaela Thane war dreizehn, als der Freispruch der weißen Polizisten, die den Afroamerikaner Rodney King brutal zusammengeschlagen hatten, zu schweren Ausschreitungen führte. Es kam zu Plünderungen, und zwischen Koreatown und East L.A. wurden etliche Tausend Gebäude in Brand gesteckt. Ihre Mutter lebte damals noch, und sie ließ Michaela und deren Bruder fast vier Tage lang nicht aus dem Haus. Alle drei hockten vor dem kleinen Fernseher und sahen zu, wie die Randalierer die Stadt anzündeten. Jetzt sah es in Los Angeles wieder genauso aus wie damals. Thane hatte das Autoradio eingeschaltet und hörte zu, wie kluge Köpfe – oder solche, die sich dafür hielten – darüber diskutierten, ob es die aus dem Büro des Bürgermeisters durchgesickerten E-Mails waren, die die Unruhen ausgelöst hatten. Ein Kommentator behauptete, die geschätzten etwa zehntausend Infizierten – in ihrer Verzweiflung und in ihrer Panik – seien Urheber der Krawalle. Andere wiederum sahen den Grund in der Quarantäne: Es müsse zwangsläufig zu schweren Tumulten kommen, wenn man versuche, zehn Millionen Menschen einzupferchen. Doch Thane hatte lange genug in diesem Teil von L.A. gelebt und gearbeitet, sie wusste, dass die Menschen hier keinen Grund brauchten, um wütend zu sein – sie brauchten einen Grund, um es nicht zu sein. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel, bevor sie auf den Parkplatz des Presbyterian Hospital einbog, und sah, dass Davies weiterfuhr; er war ihr gefolgt, um sicherzugehen, dass sie gut am Krankenhaus ankam. Und wenn sie irgendwo sicher war, dann hier: Hubschrauber kreisten, Jeeps patrouillierten auf den angrenzenden Straßen. Bewaffnete Nationalgardisten bewachten die Gebäude wie auf einer Militärbasis in Kabul. Seit sie aus Afghanistan zurück war, hatte Thane so gut wie jeden Werktag, jede dritte Nacht und viele Wochenenden in diesem Krankenhaus verbracht. Sie hatte auch an praktisch allen Feiertagen den Bereitschaftsdienst übernommen. Ihre Kollegen dachten, sie tue das aus reiner Selbstlosigkeit, aber in Wirklichkeit wusste Thane nicht, wo sie sonst hinsollte. Das Presbyterian war ihr Zuhause. Ein Krankenhaus ist 365 Tage im Jahr und rund um die Uhr in Betrieb, genau wie eine Militärbasis. Und das Truthahnessen an Thanksgiving im Kreis der Kollegen oder das Anstoßen mit Plastikbechern voller prickelndem Cidre zum Jahreswechsel an Silvester war besser, als ganz allein zu sein. Die Arbeit im Presbyterian war nie leicht gewesen. Manchmal war hier mehr Improvisationstalent gefragt als in einem Lazarett in den afghanischen Bergen. Das Krankenhaus litt unter Personalmangel. Es gab viel zu wenig Ärzte und Schwestern für viel zu viele Hilfesuchende. Dennoch war es Thane und ihren Kollegen gelungen, Zehntausenden Patienten eine anständige medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Sie halfen anderen Sozialdiensten aus, erfüllten die Bitten von Todkranken, hatten ein Ohr für die Sorgen und Nöte in den eigenen Reihen und betranken sich gemeinsam, um wenigstens für kurze Zeit alles zu vergessen. In den letzten drei Jahren war das Personal des Presbyterian Thanes Ersatz für eine militärische Einheit gewesen – eine große, chaotische, gelegentlich glückliche Truppe. Jetzt lagen viele von ihnen im Sterben, und bald würde auch das Presbyterian der Vergangenheit angehören. Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, die Krankheit aufzuhalten oder die Ausbreitung zu verlangsamen, würden sie niemals sicherstellen können, dass Fußböden, Wände, Waschbecken, Bettgestelle und Lichtschalter nicht mehr mit Prionen verseucht waren. Das Gebäude würde abgerissen und Stück für Stück als Sondermüll entsorgt werden. *** Drinnen liefen Mitarbeiter des CDC geschäftig hin und her, kümmerten sich um die Patienten, versuchten, Infizierte zu beruhigen, riefen einander laut und barsch knappe Befehle zu. Durch den Helm ihres luftdichten Schutzanzugs konnte Thane ihre Gesichter nur undeutlich ausmachen, doch das hatte den Vorteil, dass die anderen ihr Gesicht auch nicht richtig sehen konnten. Solange sie nicht erkannt wurde, konnte sie sich frei auf den Stationen bewegen. Es war furchtbar heiß in dem Anzug, und sie konnte sich darin nur schwerfällig bewegen, aber inzwischen hatte sie sich auch daran gewöhnt. Sie stapfte an teilnahmslosen Patienten vorbei, die dumpf an die Wand starrten oder ruhelos in ihrem Zimmer auf und ab wanderten. Im vierten Stock legte sie ihren ersten Zwischenstopp ein. Meredith Fentress war eine korpulente Frau, die erst eine Woche zuvor an der Anmeldung angefangen hatte. Thane hatte viele Nächte mit ihr über die Dodgers und deren nicht enden wollende Pechsträhne geplaudert. Jetzt warf sich Fentress wimmernd in den durchgeschwitzten Laken hin und her. Der Schweiß lief ihr in Strömen über das Gesicht und über den Hals. »Bald geht es Ihnen besser«, flüsterte Thane, als sie die gelbliche Lösung mit den Antikörpern in die Infusionsflasche injizierte. Sie hatte mit Stanton abgesprochen, dass sie ein paar Sekunden warten würde, nur um ganz sicherzugehen, dass der Patient keine negative Reaktion zeigte, die ein sofortiges Eingreifen erforderlich machen würde. Nichts. Als Thane ganz sicher war, ging sie weiter, von Zimmer zu Zimmer. Abgesehen von einigen wenigen Malen, wo sie draußen auf dem Flur warten musste, bis ein Arzt vom Seuchenzentrum das Krankenzimmer verlassen hatte, klappte alles reibungslos. Fast, als ob sie unsichtbar wäre. Amy Singer war eine zierliche Medizinstudentin im dritten Ausbildungsjahr mit blond gefärbten Haaren. Thane hatte sich auf der Intensivstation turnusmäßig mit ihr abgewechselt. Einmal, als ein alter Mann auf der Station sie miteinander verwechselte, hatten die beiden einen Lachkrampf bekommen und sich nicht mehr beruhigen können. Plötzlich betrat eine Krankenschwester im Schutzanzug das Zimmer. Sie musterte Thane misstrauisch. »Kann ich Ihnen helfen?« Thane zog den CDC-Ausweis hervor, den Stanton für sie hatte ausstellen lassen. »Ich will nur ein paar zusätzliche Proben nehmen. Um zu überprüfen, wie schnell die Proteinmasse wächst.« Die Schwester gab sich mit dieser Erklärung zufrieden und setzte ihre Runde fort. Thane atmete tief durch. Bis jetzt war alles gut gegangen. Wenn sie an Gott glauben würde, hätte sie gebetet, dass die Antikörper wirkten. Zehn Patienten später stand sie am Bett von Bryan Appleton. Er lag ganz still da, mit geschlossenen Augen, aber das täuschte. Thane wusste, dass er sich in einem gefährlichen Dämmerzustand befand. Sie sah die drei tiefen roten Kratzer seitlich an seinem Gesicht und nahm sich vor, den Mann zu seiner eigenen Sicherheit am Bett zu fixieren. Appleton gehörte zum Küchenpersonal, er hatte Thane praktisch zwangsernährt, als sie nachts Bereitschaft gehabt hatte. Er hatte instinktiv begriffen, dass Ärzte nur dann etwas aßen, wenn die Mahlzeiten – Haferkekse, Melone, Saft, Kaffee – wie von Zauberhand auf dem Tisch im Bereitschaftszimmer standen. Thane beobachtete, wie die injizierte Lösung durch den Infusionsschlauch in seinen Arm rann. Dann versuchte sie, den Mann herumzudrehen, damit sie seine Handgelenke am Bettgestell fixieren konnte. Appleton öffnete die Augen. Er packte sie am Ärmel ihres Schutzanzugs. »Was machen Sie da?«, herrschte er sie an. »Was haben Sie mit mir vor?« Thane befreite sich so behutsam wie möglich aus seinem Griff. »Ich bin’s, Bryan. Michaela. Ich gebe Ihnen ein Medikament.« Appleton fuhr hoch. »Ich will kein Scheißmedikament!« Ein irrer Ausdruck trat in seine Augen. Das Piepsen des Monitors neben seinem Bett wurde schneller. Sein Herz raste mit einhundertachtzig Schlägen pro Minute. »Bitte legen Sie sich wieder hin, Bryan.« Er war groß und kräftig, aber Thane war schon mit ganz anderen fertig geworden. Die Füße fest auf den Boden gestemmt, beugte sie sich über ihn. Woher kam dieses Herzjagen? Eine allergische Reaktion auf die Antikörper? Oder eine Begleiterscheinung von VFI, verursacht durch Stress und Wut? Egal, sie musste ihn unbedingt beruhigen. »Bitte, Bryan. Legen Sie sich einen Moment hin und versuchen Sie, sich zu entspannen.« Aber Appleton packte sie und schleuderte sie über den Nachttisch. »Lass deine scheißverdammten Finger von mir!«, brüllte er. Thane knallte auf den Fußboden. Sie spürte, dass sie eine schlimme Beule am Kopf bekommen würde. Aber sie musste etwas tun, und zwar schnell, sie hatte nicht viel Zeit. Mühsam rappelte sie sich auf. Sie warf einen Blick auf Appletons Blutdruck: 50/30. Er hatte einen anaphylaktischen Schock. Sie musste ihm unbedingt Epinephrin spritzen. Aber er riss sich bereits den Tropf heraus, zerrte blindwütig an Schläuchen und Kabeln. Sie würde nicht nah genug an ihn herankommen, um ihm eine Spritze zu geben. »Bryan, bitte«, flehte sie. »Sie haben eine allergische Reaktion. Ich muss Ihnen etwas dagegen geben!« »Du willst mich vergiften!« Er schwang die Beine aus dem Bett und stürzte sich auf Thane. »Ich bring dich um, du gottverdammtes Miststück!« Sie konnte ihm gerade noch ausweichen. Sie lief um das Bett herum, so schnell der Schutzanzug es erlaubte, und rannte aus dem Zimmer. Bryans Schreie hallten durch den Flur und schreckten andere Patienten auf. Hinter der Glasscheibe in den Zimmertüren tauchten Gesichter auf, die Leute hämmerten an die Türen und verlangten lautstark, man möge sie sofort herauslassen. Thane flüchtete zur Treppe. Sie musste von hier verschwinden, und zwar schleunigst. Sie bekam fast keine Luft in dem schweren Schutzanzug, als sie in den dritten Stock hinunterhetzte. Auf dem Treppenabsatz hätte sie beinahe einen Mann in einem Krankenhausnachthemd umgerannt, der dort stand. Es war Mariano Kuperschmidt, der Mann vom Sicherheitsdienst, der vor Volcys Zimmer postiert gewesen war. Eine Welle von Traurigkeit erfasste Thane. Der Mann hatte aus Furcht vor Ansteckung immer einen Mundschutz getragen. Aber seine Augen hatte er nicht geschützt. »Lass meine Frau in Ruhe!«, herrschte er sie an. Er war krank, hatte offenbar Halluzinationen. Thane wich zurück. »Alles in Ordnung, Mariano«, sagte sie beschwichtigend. »Ich bin’s. Michaela Thane.« Aber der Mann bleckte die Zähne, packte sie in Brusthöhe an ihrem Schutzanzug und schleuderte sie die Treppe hinunter. Sie hatte sich bereits das Genick gebrochen, als sie auf dem untersten Treppenabsatz aufschlug. 23 Ich habe Geflammte Feder und Schmetterling Ohnegleichen, Auxilas Töchter, als mein Eigentum übernommen. Haniba gehorchte dem Befehl der Götter und richtete sich mit einem Messer. Die Mädchen besuchen ihr Grab jede zweite Sonne. Es ist mit einem Kreuz als Sinnbild für die vier Himmelsrichtungen gekennzeichnet. Die Mitglieder des königlichen Rats, die glauben, die Götter hätten Auxila als Opfer auserwählt, begrüßten die Selbsttötung seiner Witwe. Doch wie entsetzt waren sie, als sie hörten, dass ich seine Töchter zu meinen Konkubinen gemacht hatte. Denn sie kannten mich nicht als einen Mann der Fleischeslust. Verdunkelte Sonne glaubte mir erst, als ich ihm sagte, dass meine Enthaltsamkeit in Wirklichkeit von einer Vorliebe für unverdorbene Jugend herrühre und dass ich beabsichtige, zuerst mit der Jüngeren der beiden Mädchen den Beischlaf zu vollziehen. Ich trug Geflammter Feder auf, unter den anderen Mädchen von Kanuataba das Gerücht zu verbreiten, dass ihre junge Schwester meine unersättliche Begierde gehorsamst stille. Ich beruhigte die beiden Mädchen jedoch: Ich würde sie niemals zum Beischlaf zwingen. Vor allem Schmetterling Ohnegleichen, die erst neun Jahre alt war, hatte zuerst schreckliche Angst. Aber als sie einen Zahn verlor und ich ihr das Zahnfleisch schröpfte, um ihr Erleichterung zu verschaffen, war sie mir dankbar und sah mich mit sanfterem Blick an, nur um dann ihren Kummer ihren Sorgenpuppen anzuvertrauen. Geflammte Feder brauchte länger, um sich einzugewöhnen. Es dauerte Wochen, bis sie Vertrauen zu mir fasste. Aber die letzten vier Abende haben wir die großen Bücher von Kanuataba zusammen gelesen. Es erfüllt mich nicht mit Stolz, diese Mädchen zu besitzen, aber es ist, wie Haniba gesagt hatte: Ich konnte nicht zulassen, dass Auxilas Töchter geschändet werden. Ihr Vater war ein heiliger Mann, dessen Familie mich, eine Waise, bei sich aufnahm. Durch ihn wurde mir der Weg zum Adel geebnet, dafür stehe ich für alle Zeit in seiner Schuld. Dennoch weiß ich nicht, wie ich die Kinder trösten soll, wenn ihnen nach dem Besuch am Grab ihrer Mutter die Tränen aus den Augen schießen. Ich habe nie viel von Frauen verstanden. Ich gebe ihnen Krumen, damit sie mein Vogel-Ich füttern können. Der Ara hat es sich angewöhnt, in meine Höhle zu kommen. Ihn zu füttern muntert das kleinere der beiden Mädchen ein wenig auf. Sie ist zu jung, um zu verstehen, dass der Ara mein Geist-Ich ist, aber wenn er krächzt, bringt sie fast ein Lächeln zustande und ihre Tränen versiegen wenigstens für eine kleine Weile. Ich gebe mir große Mühe, aber ich kann den beiden die Mutter nicht ersetzen. Vor zwei Sonnen erwies uns Rauch Lied, der heilige Prinz, die Ehre seines Besuches. Normalerweise findet der Unterricht nicht außerhalb des Palastes statt, es sei denn, wir beobachten ein Naturschauspiel. Aber der König gewährte mir meine Bitte und erlaubte dem Prinzen, hierherzukommen. Der König ist mit seinen Kriegern vor drei Sonnen schon in die Schlacht gegen Sakamil gezogen. Glücklicherweise hatte er sich entschlossen, seinen jungen Sohn doch nicht mitzunehmen. Als der Prinz eintraf, war sofort klar, dass Geflammte Feder ihn ablenken würde. Seine Augen leuchteten auf, als er sie erblickte, und er konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Er hatte gedacht, er würde dieses Mädchen, dem er seit Jahren zugetan war, nie mehr wiedersehen. Als der Prinz zu dem Mädchen sprach, küsste sie den Boden unter seinen Füßen, so wie es Brauch war. Ich hörte zu, wie die beiden voller Bewunderung über den Vogel sprachen, der auf die Schulter von Geflammte Feder kletterte und sich putzte. Der Vogel erholte sich zusehends von seiner Verletzung, und in ein paar Wochen würde er aufbrechen und sich auf die Suche nach seinem Schwarm machen. Den Blick auf den Ara gerichtet, warf der Prinz sich in Pose, indem er seinen kleinen Zopf, der immer noch mit der weißen Perle als Zeichen der Ergebenheit gegenüber seinem Vater geschmückt war, nach vorn schob. Dann sprach er: – Dieser Vogel ist nichts verglichen mit meinem Krafttier, dem mächtigen Jaguar. Hast du jemals einen mit eigenen Augen gesehen? Er ist flinker als jedes andere Tier im Dschungel, er packt seine Beute sicherer, als der beste Bogenschütze sein Ziel je treffen könnte. Er ist schneller als ein Pfeil und auch leiser. Ich kann dir zeigen, wo Jaguarknochen begraben liegen, und dich wird ein Schauder erfüllen, den du so bald nicht vergessen wirst. Es ist gut möglich, dass dir bei dem Anblick die Sinne schwinden, aber ich werde da sein und dich auffangen, denn mein Herz und mein Geist sind stärker als die deinigen, kleines Mädchen. – Was dann zwischen diesen beiden Kindern geschah, erstaunte mich und gemahnte mich von Neuem daran, auf welch wunderbare und eigentümliche Weise die Götter uns, die vierten Menschen, erschaffen haben. Als der Prinz ihr in die Augen sah, senkte Geflammte Feder den Blick nicht, so wie der Brauch es vorschrieb. Im königlichen Palast hätte sie für diese Ungebührlichkeit den Göttern geopfert werden können. Doch es lag keine Angst in ihrem Gesicht, und es war keine Furcht in ihrem Herzen. Sie lächelte, sodass man die beiden Schneidezähne mit den Verzierungen aus Jade sehen konnte, doch sie verbarg sie sogleich wieder. Es war das erste Lächeln seit dem Tag, als ich die beiden Mädchen im Haus ihrer Eltern aufgesucht hatte, um ihnen zu sagen, dass ihre Mutter tot war. Dann sprach sie, wie ich noch nie ein Mädchen zu einem Prinzen hatte sprechen hören: – Aber heiliger Prinz, Rauch Lied, Erhabener, wie kann der mächtige Jaguar einen Fuchs schneller töten als ein Köcher Pfeile, wo ich doch selbst schon gesehen habe, wie Jaguare von ebendiesen Pfeilen, die unsere Bogenschützen abschossen, getötet wurden? Kannst du jemandem mit einem so armseligen Verstand wie meinem diesen Widerspruch erklären? – Ich konnte nicht vorhersagen, wie der Junge auf diese unerhörten Worte reagieren würde. Auf seinem Gesicht malte sich Verwirrung über ihren Einwand. Doch als er lächelte und die Jadeverzierung seiner Zähne zeigte, begriff ich, wie wenig Ähnlichkeit er mit seinem Vater hatte. Er wird eines Tages ein ausgezeichneter Herrscher sein, falls es uns gelingt, die Katastrophe abzuwenden, die unser mächtiges Reich zu vernichten droht. Ich war erfüllt von Stolz auf ihn. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, wie edelmütig und willensstark Geflammte Feder ist. Es ist kein Geheimnis, dass der Prinz ihre Gesellschaft sehr schätzt. Doch kann niemals etwas daraus erwachsen. Ihr Vater wurde den Göttern geopfert, und so ist sie gefangen zwischen den Welten, zu gering für einen König, nicht besser als ein Bastard. Der Anblick der beiden brachte mich den Tränen näher, als ich seit vielen Sonnen gewesen war. Der Prinz griff in seinen Beutel. Ich dachte, er werde eines der Bücher aus der königlichen Bibliothek herausnehmen, das mitzubringen ich ihn gebeten hatte. Ich wartete mit stolzgeschwellter Brust, weil ich glaubte, er werde uns zeigen, was ich ihn so lange gelehrt hatte, nämlich wie gut er lesen konnte. Doch statt eines Buches hielt er ein verziertes Tongefäß in der Hand, mehr als zwei Handbreit tief, so als wäre es gemacht, um Wasser zu fassen. Es war bemalt in den Farben des Todes und der Wiedergeburt, und er hielt es mit beiden Händen Geflammte Feder hin und sprach: – Siehe, dies ist Akabalam, der meinem Vater die Ehre erweist, ihn mit seiner Macht auszustatten, und zu dessen Ehren wir den neuen Tempel errichten werden. Hast du Akabalam jemals mit eigenen Augen gesehen, Mädchen? – Geflammte Feder war ganz still geworden, als der Name des Gottes fiel, der das Leben ihres Vaters gefordert hatte. Ich dagegen wurde von aufgeregter Wissbegierde erfasst. Konnte der König seinem Sohn gezeigt haben, wodurch dieser geheimnisvolle Gott sich offenbarte? Und würde ich es verstehen können? Der Prinz sprach zu dem Mädchen: – Fürchte dich nicht. Ich habe Macht über diese Wesen, die Verkörperung Akabalams. Fürchte dich nicht. Ich werde dich beschützen. – Rauch Lied öffnete das Gefäß. Darin zählte ich sechs Insekten, jedes so lang wie ein Finger. Sie hatten die Farbe von Blättern der kräftigsten Bäume, die einst unseren Wald beherrschten. Die Insekten kletterten übereinander und versuchten, an der Wand des Gefäßes hochzuklettern, doch es gelang ihnen nicht. Ihre langen abgeknickten Beine hatten sie unter den Körper gezogen. Ihre hervorstehenden Augen hatten die Farbe der Nacht. Der Prinz sprach: – Ich habe gesehen, wie er diese Wesen anbetete, ich habe sie aus dem Thronsaal genommen, wo sie ihr königliches Festmahl halten, und jetzt kann auch ich ihre Macht spüren. – Ich betrachtete die Insekten, diese Wesen, die mit dem Wald verschmelzen. Ich konnte mir nicht vorstellen, zu welchem Zweck wir diese Kreaturen anbeten sollten! Sie stellten keinen Honig her. Sie konnten nicht geröstet und gegessen werden. Warum sollte der König einem nutzlosen Insekt zu Ehren einen Tempel errichten und den Verwalter seiner Vorräte im Namen dieses Insekts töten lassen? Warum sollte der König uns, die heilige Schöpfung der Götter, die Maismenschen, im Namen dieses Insekts herabwürdigen? Ich sprach: – Das ist es, was dein Vater Akabalam nennt? Nur das? – – Ja. – – Und hat er dir auch den Grund genannt, warum wir diese Kreaturen verherrlichen sollen? – – Natürlich hat er das. Aber du, Schreiber, würdest niemals empfinden, was ein König im Angesicht so großer Macht empfindet. – Doch als ich die Insekten noch einmal näher betrachtete und sah, wie sie die winzigen Vorderbeine in der Luft langsam aneinanderrieben, da glaubte ich zu verstehen. Durch diese Haltung ähnelten sie einem Menschen, der mit den Göttern spricht. Noch nie habe ich in unserem Reich ein Wesen gesehen, das frommer zu sein scheint. Kein anderes Wesen zeigt den Menschen eindrücklicher, wie sie zu den Göttern beten sollen. Ist das der Grund, weshalb der König sie so verehrt? Weil er glaubt, unsere Frömmigkeit sei uns in der anhaltenden Trockenheit abhandengekommen, und weil er in diesen Wesen ein Sinnbild bedingungsloser Hingabe zu den Göttern sieht? Der Prinz wandte sich dem Mädchen zu und sprach: – Nur ein von unseren Vorfahren geweihter Mann kann Akabalam erkennen und verstehen. – Rauch Lied ist trotz des Einflusses, den sein Vater auf ihn hat, ein gutes Kind und reinen Herzens. Unsere Vorfahren im Urwald hätten seine Seele geliebt und geachtet. Sein Vater, der König, hätte mich vielleicht köpfen lassen, wenn er geglaubt hätte, dass ich ein Mädchen geschändet habe, das er begehrte. Rauch Lied hingegen wollte das Mädchen nur beeindrucken und ihr Herz gewinnen. Er hatte die Insekten aus dem Palast gestohlen, um Geflammte Feder zu zeigen, wie viel größer seine Macht war als meine. Ich wollte ihm dieses Vergnügen lassen. Das Mädchen schaute zu, wie ich mich hinunterbeugte und dem Prinzen die Füße küsste. 24 »Zweitausend Sonnen«, sagte Rolando. »Fast sechs Jahre. Das ist eine Mega-Dürre.« Er und Chel hatten sich über fünf weitere rekonstruierte und entschlüsselte Seiten der alten Bilderhandschrift gebeugt. Chel überflog noch einmal, was Paktul auf der achtundzwanzigsten Seite festgehalten hatte: Manche Maiskolben gedeihen selbst in so langen und schrecklichen Dürreperioden wie der jetzigen, die nunmehr seit fast zweitausend Sonnen andauert. »Meinst du nicht auch?« Rolando sah Victor an, der auf der anderen Seite des Getty-Labors saß, seine Kopie der Übersetzung studierte und dabei seinen Tee schlürfte. Als Chel vergangene Nacht von der Kirche zurückgekommen war, hatte sie gehofft, sie könnte ihren Frust über die Unterhaltung mit ihrer Mutter bei Victor abladen, weil sie dachte, er sei der Einzige, der sie wirklich verstand. Aber Victor war erst weit nach Mitternacht zurückgekommen – mit leeren Händen: Das Stöbern in seinem Bestand alter wissenschaftlicher Zeitschriften hatte nichts gebracht. Chel hatte sich da schon eine kurze Dusche im Gebäude des Getty Conservation Institute gegönnt, um auch die letzten Spuren ihrer Begegnung mit Ha’ana abzuwaschen, und sich dann wieder in die Arbeit gestürzt. Über ihren Besuch in der Kirche hatte sie kein Wort verloren. »Der König war sicher nicht ganz unschuldig an der Situation«, sagte Victor. »Aber du hast recht, es sieht tatsächlich so aus, als ob diese anhaltende Trockenheit der eigentliche Grund war.« Unter normalen Umständen wäre das vielleicht die bedeutendste Entdeckung in ihrer aller Karriere gewesen. In ihren von Land umschlossenen Städten konnten die Maya Wasser für bis zu achtzehn Monate speichern. Der Nachweis einer sechsjährigen Dürreperiode würde sogar Chels skeptischste Kollegen davon überzeugen, dass sie mit ihrer These recht hatte: Es war diese anhaltende Trockenheit, die den Untergang des Maya-Reichs herbeigeführt hatte. Aber normal waren die Umstände schon lange nicht mehr. Die Verbindung zwischen dem alten Buch und der versunkenen Stadt war das Einzige, was jetzt zählte, und die Hinweise auf diese Verbindung verdichteten sich mit jedem weiteren Abschnitt, den sie entschlüsselten. Paktul hatte die beiden Mädchen bei sich aufgenommen, um sie zu beschützen, und es schien fast unvermeidlich, dass er sie zu seinen Ehefrauen machen würde. Rolandos Theorie, dass die drei die Gründer der Stadt waren, wurde immer plausibler. Trotz dieser bahnbrechenden Entdeckungen hatten sie aber immer noch nicht herausgefunden, wo genau die versunkene Stadt lag oder wo Volcy sich infiziert haben könnte. Wenigstens wussten sie jetzt mehr über die rätselhafte Akabalam-Glyphe, die ihnen bei der Dechiffrierung des Textes so großes Kopfzerbrechen bereitet hatte. Chel, Rolando und Victor waren sich einig, dass es sich bei den beschriebenen Insekten nur um Gottesanbeterinnen handeln konnte. Diese Fangheuschreckenart war im gesamten Siedlungsgebiet der Maya verbreitet. Und obwohl der Schreiber sich fragte, aus welchem Grund sie diese Kreaturen anbeten sollten, war bekannt, dass die Maya tatsächlich Insekten verehrt und ihnen zu Ehren Gottheiten geschaffen hatten. Dennoch war das Rätsel nicht vollständig gelöst. Sie hatten zwar zweiunddreißig Seiten fast lückenlos entschlüsselt, stießen dann aber auf eine Seite, auf der diese Glyphe zehn oder elf Mal auf ungebräuchliche und gänzlich unerwartete Weise verwendet worden war. Chel ersetzte jede Akabalam-Glyphe durch Gottesanbeterin oder zur Gottheit erhobene Gottesanbeterin, aber das ergab keinen Sinn. Hatte sich die Glyphe in früheren Abschnitten auf den Namen des neuen Gottes bezogen, so schien sie auf den hinteren Seiten eher eine Handlung auszudrücken. »Es muss etwas sein, was charakteristisch für sie ist«, überlegte Rolando. »So wie Bienen für etwas Süßes stehen.« »Oder wie Hunab Ku gebraucht werden kann, um eine Veränderung anzuzeigen«, sagte Victor in Anspielung auf den Schmetterlingsgott. Ein lauter Knall ließ alle drei zusammenfahren. Chel lief ans Fenster. In den letzten beiden Tagen hatten sich ein paar Autos hierher verirrt – Plünderer in der Hoffnung auf leichte Beute. Doch sobald sie gesehen hatten, dass der Sicherheitsdienst das Museumsgelände immer noch bewachte, hatten sie wieder umgedreht. »Alles in Ordnung?«, fragte Rolando. »Ich glaub schon«, antwortete Chel, die draußen nichts Auffälliges bemerkte. Sie ging zu den beiden Männern zurück. »Also, was fangen wir jetzt damit an?« Rolando sah sie an. »Befiehlt der König Gehorsam diesem neuen Gott gegenüber, weil die Gottesanbeterin fromm erscheint?« »Die anhaltende Dürre dürfte dazu geführt haben, dass viele Menschen zu zweifeln begannen«, sagte Chel. »Vielleicht hat der König geglaubt, dieses Insekt sei so etwas wie eine göttliche Fügung.« Sie trat an den Glaskasten, in dem sich ein Fragment einer der teilweise rekonstruierten hinteren Buchseiten befand, und begann im Geist zu ersetzen: Vielleicht erlaubt der König diese/Frömmigkeit/, weil seiner Bitte um Regen nicht entsprochen wurde und weil er weiß, dass kein Regen kommen wird. Aber wird diese mutwillige/Frömmigkeit/nicht zu Unruhen unter den Menschen führen, selbst unter jenen, die die Götter fürchten? Nicht ohne Grund fürchten die Menschen von Kanuataba die/Frömmigkeit/genau wie ich; kein Verstoß ist so schreckenerregend, selbst wenn der König diese/ Frömmigkeit/ befiehlt! »Das ergibt keinen Sinn«, sagte sie langsam und schüttelte den Kopf. »Wieso sollte sich der Schreiber vor der Frömmigkeit fürchten? Und warum sollte sie ein Verstoß sein?« Nachdenklich betrachtete sie den Text und ging in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch. »Wie weit sind wir mit der Satellitensuche?«, fragte Rolando. Nach dem Besuch bei ihrer Mutter hatte Chel zuallererst Stanton angerufen und ihm erzählt, dass Chiams Angaben über die versunkene Stadt praktisch mit Paktuls Schilderung übereinstimmten. Er hatte aufmerksam zugehört. Dann hatte er nur gemeint: »In Ordnung, Chel. Ich werde alles Nötige veranlassen.« Dieses Mal klang seine Stimme nicht skeptisch oder zweifelnd. Seit gestern waren auf Veranlassung des CDC ein Dutzend NASA-Satelliten auf die Region rings um Kiaqix gerichtet und suchten den Dschungel auf mögliche Ruinen ab. Chel hatte nichts mehr von Stanton gehört. Aber jemand aus seinem Team oder er selbst würde sie sicherlich sofort informieren, wenn die Satelliten Bilder mit brauchbaren Hinweisen geliefert hätten. Sie hoffte, dass er selbst sich bei ihr melden würde. »Die Satelliten können jeweils bis zu tausend Aufnahmen pro Tag liefern«, antwortete sie auf Rolandos Frage, »und die Fotos müssen erst ausgewertet werden.« »Jetzt können wir bloß hoffen, dass Kanuataba ein zweites Oxpemul ist«, warf Victor ein. In den 1980er-Jahren hatten Satelliten Fotos geschossen, auf denen in unmittelbarer Nähe zu einer bedeutenden Ausgrabungsstätte in Mexiko die Spitzen zweier Tempel zu erkennen waren, die aus dem dichten Blätterdach des Dschungels ragten. Es stellte sich heraus, dass die Tempel zu einer antiken Stadt gehörten, die noch größer war als die bisher bekannte Ausgrabungsstätte. »Wir haben Regenzeit, das heißt, die Gegend um Kiaqix ist ständig von Wolken bedeckt«, rief Chel den beiden Männern ins Gedächtnis. »Außerdem könnte alles vollständig überwuchert sein. Wir reden hier von Bauwerken, die über tausend Jahre alt und verwittert sind. Einmal ganz abgesehen davon, dass sie jahrhundertelang unentdeckt geblieben sind.« »Und deshalb sollten wir uns jetzt voll und ganz auf die Handschrift konzentrieren«, sagte Victor. *** Es bereitete ihm keine Freude, dass die VFI-Infizierten furchtbar litten oder dass sich noch zahllose Menschen mit dem Erreger anstecken würden. Er war entsetzt, wenn er von erkrankten Kindern hörte oder von den gewalttätigen Ausschreitungen in den Straßen von L.A. Aber als er im Fernsehen den Börsencrash sah und die leeren Supermarktregale, konnte Victor sich des Gefühls nicht erwehren, dass ihm endlich Gerechtigkeit widerfahren war. Von seinen Kollegen war er verspottet worden, seine Familie hatte ihn verlassen. Sogar ihm waren Zweifel gekommen, ob er und die anderen 2012er nicht am Ende einsehen mussten, dass sie sich geirrt hatten, so wie viele andere vor ihnen, angefangen bei denen, die die Wiederkehr Christi und seiner Herrschaft angekündigt hatten, über diejenigen, die für den Jahreswechsel 1999/2000 den Zusammenbruch der Computersysteme und damit der Weltwirtschaft vorhergesagt hatten, bis hin zu – nun ja, zu jeder anderen Gruppe, die der Meinung gewesen war, eine weltweite dramatische gesellschaftliche und politische Veränderung bahne sich an. Und dann war die Epidemie ausgebrochen. Kurz nach zwölf Uhr mittags ging das Team auseinander. Chel hatte sich vom Labor in ihr angrenzendes Büro zurückgezogen, um über das Akabalam-Problem nachzudenken, und Rolando war in ein anderes Gebäude gegangen, wo er Geräte holen wollte, die für die Rekonstruktion benötigt wurden. Victor war allein im Labor geblieben. Er beugte sich über die Glasplatte mit dem Fragment, in dem Paktul sich auf den dreizehnten Zyklus bezog. Er hob die Platte vom Gestell und wog prüfend ihr Gewicht. Sie war schwer, fünfzehn Pfund oder so, aber ein Mann könnte zwei oder drei davon tragen. Als er ein Stück des alten Buches in der Hand hielt, konnte Victor dessen unglaubliche Macht spüren. Als kleiner Junge hatte er in der Synagoge gelernt, wie die Rabbis sich bei der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Römer schützend über die Schriftrollen der Thora geworfen hatten, weil sie glaubten, das jüdische Volk könne ohne die heiligen Bücher nicht weiterexistieren. Jetzt konnte Victor nachvollziehen, wie man sein Leben für ein Buch opfern konnte. »Was tust du da, Victor?« Er erstarrte, als er Rolandos Stimme hörte. Wieso war Rolando schon wieder zurück? Victor legte die Glasplatte behutsam wieder auf die Seite und rückte sie umständlich auf dem Leuchttisch hin und her. »Das Glas hat sich verschoben«, sagte er. »Ich hatte Angst, die Fragmente könnten beschädigt werden.« Rolando trat neben ihn. »Danke, das ist nett von dir, aber lass das mit den Glasplatten lieber mich machen, okay?« »Natürlich.« Victor ging ein kleines Stück weiter und tat so, als studierte er Fragmente aus dem letzten Teil des Buches. Es wäre zu auffällig gewesen, wenn er das Labor allzu schnell verlassen hätte. Als Rolando offenbar erledigt hatte, weswegen er ursprünglich gekommen war, verschwand er im hinteren Teil des Labors. Victor hörte, wie er an Chels Bürotür klopfte und wie die Tür sich kurz darauf schloss. Hatte Rolando Verdacht geschöpft? Victor setzte sich an einen Labortisch und überlegte, was er sagen würde, falls Rolando ihn zur Rede stellte. Einige Minuten später hörte er, wie die Tür zu Chels Büro wieder geöffnet wurde. Ihre leisen Schritte näherten sich. Sie stand hinter ihm. Victor hielt den Atem an und rührte sich nicht. »Kann ich mit dir reden?« »Natürlich«, antwortete er und drehte sich zu ihr um. »Worum geht’s denn?« Sie setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber. »Ich habe gerade mit Patrick telefoniert. Ich habe ihn gefragt, ob er herkommen und uns bei einigen von den noch verbleibenden Astronomie-Glyphen helfen könnte, aber er meinte, er will seine neue Freundin nicht noch einmal allein lassen. Martha. Was für ein altmodischer Name!« Sie verdrehte vielsagend die Augen. »Ich weiß bloß nicht, ob wir das ohne ihn schaffen.« »Erstens hat er seinen Beitrag geleistet, und wir brauchen ihn nicht mehr«, sagte Victor. »Und zweitens – du weißt doch, dass ich ihn sowieso noch nie leiden konnte.« »Du lügst.« Sie lächelte, als sie das sagte, aber Victor zuckte dennoch leicht zusammen. »In einem allerdings hatte Patrick recht«, fuhr sie nachdenklich fort. »Was meinst du?« »Volcy. Das alte Buch. Kiaqix und die drei Stadtgründer. Er war der Erste, der mich darauf hingewiesen hat, was für ein unglaublicher Zufall das alles ist.« Victor glaubte keine Sekunde an einen Zufall. »Na ja, alles ist möglich«, sagte er vorsichtig. Chel wartete darauf, dass er weitersprach, und ihr erwartungsvoller Blick weckte ein Gefühl in ihm, das er sehr lange nicht mehr verspürt hatte – das Gefühl, von jemandem gebraucht zu werden, den er aufrichtig liebte. »Was glaubst du?«, fragte er. Chel schwieg eine ganze Weile, dann antwortete sie: »Dieses ganze Theater um das Ende der Langen Zählung hat die Preise für Antiquitäten aus dem Kulturraum der Maya in die Höhe schnellen lassen, und das war vermutlich der Grund, warum Volcy überhaupt in den Dschungel gegangen ist. Alles, was im Moment passiert, ist in irgendeiner Weise eine Folge von 2012.« Victor betete im Stillen, dass er Chel doch noch überreden könnte, sich ihm und seinen Leuten anzuschließen. Und dass sie allmählich erkannte, dass die Prophezeiungen sich erfüllen würden. Er hoffte es inständig. Vielleicht war es noch nicht zu spät, vielleicht würde sie einsehen, dass Flucht der einzige Ausweg war. »Man muss aufgeschlossen bleiben, dann kann man so einiges über die Welt erfahren«, sagte er sanft. Sie schwieg einen Moment. »Kann ich dich etwas fragen?« »Sicher.« »Glaubst du an die Maya-Götter? Die richtigen Götter?« »Man muss nicht an das Pantheon glauben, um die Weisheit des göttlichen Plans zu erkennen, den die Menschen früher im Universum sahen. Vielleicht genügt es, wenn man weiß, dass es eine Macht gibt, die uns alle miteinander verbindet.« Chel nickte. »Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Sie holte tief Luft. »Was ich noch sagen wollte – danke, dass du hiergeblieben bist und mir geholfen hast.« Sie stand auf und ging in ihr Büro zurück. Victor sah ihr nach. Sie war immer noch dieselbe junge Frau, die an ihrem ersten Studientag vor ihm gestanden und ihm erklärt hatte, sie habe alle seine Arbeiten gelesen. Dieselbe junge Frau, die ihn Jahre später bei sich aufnahm, während alle anderen ihm die Tür vor der Nase zuschlugen. Als sich die Tür hinter Chel schloss, kämpfte Victor mit den Tränen. 25 Fast vier Stunden waren vergangen, seit Thane ins Krankenhaus gefahren war. Stanton war beunruhigt. Er starrte aus dem Fenster und wartete ungeduldig darauf, dass das Klingeln des Telefons endlich die Stille durchbrach. Das Klingeln des Telefons oder irgendetwas anderes. Für seinen Geschmack war es viel zu ruhig an der Strandpromenade. Er würde zu gern hören, wie einer der Straßenverkäufer die Touristen anschnauzte, sie sollten gefälligst keine Fotos von seiner »Kunst« machen. Er würde zu gern den bärtigen Gitarrespieler, den ehrenamtlichen Bürgermeister der Strandpromenade, auf seinen Rollschuhen hin und her laufen sehen. Oder Monster an seine Tür klopfen hören. »Wie wär’s mit einem kleinen Schluck?« Davies hielt Stanton ein halb volles Whiskyglas hin. »Gut für die Nerven.« Stanton machte zwar eine abwehrende Handbewegung, aber er hätte einen Schluck vertragen können. Wieso meldete sich Thane nicht, verdammt noch mal? Sie müsste längst alle Injektionen verabreicht haben. Er hatte versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber er hatte kein Netz. Das Handynetz in L.A. war schon immer störanfällig gewesen, aber jetzt war es praktisch vollständig zusammengebrochen. Thane könnte ja von einem Festnetzanschluss aus anrufen. Endlich klingelte das Telefon. Das Display zeigte eine Nummer aus L.A. an, die er nicht kannte. »Michaela?« »Hier ist Emily.« Cavanagh. Scheiße. »Was gibt es denn?«, fragte er so beiläufig wie möglich. »Kommen Sie sofort in die Kommandozentrale, Gabe.« »Ich habe gerade ein paar Denaturierungsexperimente am Laufen«, log er mit einem flüchtigen Blick zu Davies hinüber. »Das dauert noch eine Weile. Ich kann in ein paar Stunden bei Ihnen sein.« »Direktor Kanuth ist in L.A., er will mit Ihnen reden. Es interessiert mich nicht, was Sie gerade machen. Sie müssen sofort kommen.« *** Adam Kanuth, der oberste Chef des CDC, war seit Ausbruch der Epidemie in Washington und Atlanta gewesen, und seine Abwesenheit in L.A. war praktisch jedem aufgefallen, einschließlich den Medien. Seine Anhänger sagten, er sei mit der Koordinierung in Zusammenhang mit den Fällen beschäftigt, die nicht nur landes-, sondern jetzt auch weltweit auftraten. Seine Kritiker sagten, er halte sich aus Furcht vor Ansteckung von L.A. fern. Stanton hatte den Mann noch nie gemocht. Kanuth war aus der Pharmaindustrie gekommen, und er redete über Medizin und Wissenschaft wie über einen Wirtschaftszweig – die Nachfrage regelt das Angebot. Je seltener eine Krankheit war, desto spärlicher flossen die Gelder zu ihrer Erforschung. Aber immerhin hatte er die Verhängung der Quarantäne befürwortet, und das rechnete Stanton ihm hoch an. Asche regnete auf Stanton nieder, als er vor der Kommandozentrale des CDC aus dem Auto stieg. In den Hügeln oberhalb des HOLLYWOOD-Schriftzuges waren Brände ausgebrochen, die etliche Hundert Hektar Land verwüstet hatten. Dunkle Rauchwolken zogen sich von Downtown bis zum Meer. Stanton bemühte sich, seine Gedanken zu sammeln, bevor er das Gebäude betrat. Kanuth würde mit ihm über die Eindämmung der Krankheit sprechen wollen. Darüber, wie Quarantänemaßnahmen in anderen Städten durchgeführt werden könnten. Und Stanton würde ruhig und konzentriert mit ihm diskutieren müssen, und dabei hatte er immer noch nichts von Thane gehört. In dem ehemaligen Postamt arbeiteten die Mitarbeiter des Seuchenzentrums hinter kugelsicheren Scheiben, die früher vor aufgebrachten Angestellten und Arbeitern geschützt hatten. An der Wand hingen noch immer vergilbte Poster, die für Ronald-Reagan-Briefmarken mit dem Aufdruck Forever warben. Ein Beamter führte Stanton in das Büro des Dienststellenleiters. Cavanagh saß auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch. Stanton bemerkte, dass sie seinem Blick auswich. Hinter dem Schreibtisch saß Kanuth, ein Mittfünfziger mit einem mächtigen Brustkasten, schütteren silbergrauen Haaren und einem Bart, der bis über die Wangen hinaufwuchs. »Herr Direktor. Willkommen in Los Angeles.« Es war kein Stuhl da, auf dem Stanton hätte Platz nehmen können. Kanuth nickte ihm kurz zu. »Wir haben ein Problem, Gabe.« »Ich höre.« »Haben Sie eine Ärztin vom Presbyterian Hospital ins Krankenhaus geschickt, damit sie Patienten auf Mäusezellen basierende Antikörper injiziert? Entgegen unserer ausdrücklichen Anordnung?« Stanton erstarrte. »Wie bitte?« Cavanagh stand auf. »Wir haben zwei Dutzend Spritzen gefunden, jede mit einer auf Mäusezellen basierenden Antikörperlösung.« Hatten sie Thane erwischt? Sie wussten Bescheid, daran gab es keinen Zweifel. Aber er würde sie decken. Er würde die alleinige Verantwortung übernehmen. »Wo ist Dr. Thane jetzt?«, fragte er vorsichtig. Kanuth sah Cavanagh an, bevor er antwortete: »Sie wurde tot auf einem Treppenabsatz im Krankenhaus gefunden. Im Moment gehen wir davon aus, dass sie sich beim Aufprall das Genick gebrochen hat.« Stanton war fassungslos. »Sie ist die Treppe hinuntergefallen?« Cavanagh durchbohrte ihn mit ihrem Blick. »Ein Patient hat sie die Treppe hinuntergeworfen.« »Ich nehme an, dass Sie dahinterstecken«, sagte Kanuth. »Es sei denn, Sie wollen mir erzählen, Dr. Thane hätte vorgehabt, heimlich auf eigene Faust einen Versuch mit Antikörpern durchzuführen.« Zutiefst erschüttert schloss Stanton die Augen. Er sah Thanes Gesicht vor sich, als er das erste Mal im Presbyterian gewesen war, um sich auf ihr Drängen hin einen Patienten anzusehen, dem er sonst vielleicht keine Beachtung geschenkt hätte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie das provisorische Labor in seinem Haus gesehen hatte; ihre spontane Bereitschaft, ohne Rücksicht auf ihre eigene berufliche Laufbahn bei dem Versuch mitzuhelfen. Er hörte die Hoffnung in ihrer Stimme, als sie ins Krankenhaus gefahren war, um ihren Kollegen die Injektion zu verabreichen. »Ich habe sie gebeten, den Patienten die Antikörper zu spritzen«, flüsterte er schließlich kaum hörbar. Cavanagh war auf dieses Geständnis gefasst gewesen. »Wir hatten bereits mit dem Chef der FDA über Ihren Wunsch gesprochen, den Wirkstoff an einer Versuchsgruppe zu testen. In weniger als vierundzwanzig Stunden hätten wir die Genehmigung von ihm bekommen. Wir hätten den Versuch unter kontrollierten Bedingungen durchführen können. Jetzt musste eine Frau sterben, weil Sie einen strikten Befehl missachtet haben.« »Nicht nur das«, fügte Kanuth hinzu. »Wenn die Leute da draußen erfahren, was passiert ist – und sie werden es erfahren –, dann werden sie sagen, dass wir unsere eigenen Leute nicht mehr im Griff haben. Diese ganze beschissene Stadt ist ein Pulverfass; der kleinste Funke genügt, und sie fliegt in die Luft, und Sie haben jetzt ein Streichholz angezündet!« »Sie werden Ihren CDC-Ausweis abgeben, und versuchen Sie ja nicht, das Zentrum für Prionenforschung oder irgendeine andere Einrichtung des CDC noch einmal zu betreten«, sagte Cavanagh scharf. Sie machte sich nicht die Mühe, ihre tiefe Enttäuschung oder ihre Verachtung zu verbergen. »Sie sind gefeuert, Dr. Stanton«, sagte Kanuth. 26 Chel saß unter einem Apfelbaum auf der südseitig gelegenen Wiese des Getty Museums, rauchte eine Zigarette und blickte abwesend auf das Labyrinth aus Azaleen im Hof unter ihr. Sie dachte an gar nichts. Sie brauchte eine kleine Pause, eine Auszeit, um neue Kraft zu tanken. »Chel!« Durch den Nebel hindurch erkannte sie Rolando. Er stand oben an der Treppe, die zum großen Platz hinunterführte. Stanton war bei ihm. Chel fragte sich, was er hier wollte. Hatte die Satellitensuche einen Hinweis ergeben? Was immer ihn hergeführt hatte, sie freute sich, ihn zu sehen. Sie stand auf und ging zur Treppe. Rolando winkte ihr zu und ließ sie mit Stanton allein. »Ist was passiert?«, fragte sie, als er die Stufen hinuntergestapft war. Ihr fiel auf, wie erschöpft und abgespannt er aussah. Seit der Nacht, als sie ihm alles gebeichtet hatte und sie gemeinsam zu Gutierrez’ Haus gefahren waren, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Auch wenn sie in den vergangenen Tagen noch so viel durchgemacht hatte, es war nichts verglichen mit dem, was sich auf seinem Gesicht spiegelte. Sie gingen langsam zu einem der Schachbretttische auf der Terrasse des Südpavillons. Stanton erzählte ihr, was passiert war und was schließlich zu Thanes Tod geführt hatte, und auch das, was sich danach zugetragen hatte. »Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass sie so ein Risiko eingeht«, sagte er leise. »Sie wollten doch nur helfen. Wenn die Antikörpertherapie anschlägt –« »Die Antikörper sind nutzlos.« Ein bitterer Unterton schwang in seiner Stimme mit. »Die Versuche sind fehlgeschlagen, und selbst wenn sie erfolgreich gewesen wären, würde man die Therapie für zu riskant halten. Thane ist für nichts und wieder nichts gestorben.« Chel wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, ausgestoßen zu sein, alles zu verlieren, was einem wichtig war. Sie selbst hatte eine zweite Chance bekommen – von Stanton. Sie wünschte, sie könnte sich erkenntlich zeigen, sie wusste nur nicht, wie. Und so nahm sie seine Hand und drückte sie zärtlich. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Dann sagte Chel: »Ich nehme an, die Satellitensuche hat nichts gebracht?« »Was soll ich sagen – ich bin nicht mehr auf dem Laufenden. Ich dachte, Sie hätten vielleicht etwas vom CDC gehört. Aber anscheinend nicht. Und wie sieht’s bei Ihnen aus?« »Wir sind weitergekommen. Im hinteren Teil des Buches sind zwar ein paar Probleme aufgetaucht, aber vielleicht finden wir doch noch eine Ortsangabe.« »Ich möchte Ihnen helfen.« »Wobei?« »Bei Ihrer Arbeit.« Chel konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Haben Sie etwa auch einen Doktor in Linguistik und mir nichts davon gesagt?« »Ich meine es ernst. Im Grunde unterscheidet sich unsere Arbeitsweise nicht wesentlich. Das Problem erkennen, Vergleichswerte suchen und dann nach Lösungen suchen. Außerdem sieht ein Außenstehender oft mehr.« Es war wirklich merkwürdig, dass Stantons Karriere, nur drei Tage nachdem er Chels berufliche Zukunft in der Hand gehabt hatte, ein ähnliches Ende genommen hatte. Und jetzt kam er ausgerechnet zu ihr. War sie seine einzige noch verbliebene Option? Was wusste sie eigentlich von diesem Mann? Gabe Stanton war hochintelligent, beruflich sehr engagiert und manchmal ein bisschen zu hitzig. Sonst wusste sie so gut wie nichts über ihn. Bisher war es ihnen ja nicht vergönnt gewesen, sich bei einem Glas Wein näher kennenzulernen. Vielleicht würde ihr das, was sie sah, gar nicht gefallen, wenn sie genauer hinschaute. Andererseits war er es gewesen, der die Tür einen Spaltbreit geöffnet und das Licht hereingelassen hatte, das es ihr ermöglichte, ihr Lebenswerk fortzuführen – und das, obwohl er allen Grund gehabt hätte, es nicht zu tun. Wenn er also helfen wollte, würde sie ihn nicht daran hindern. Sie musste nur dafür sorgen, dass das CDC nichts davon erfuhr. Chel nickte. »Gut, versuchen wir’s.« Sie beugte sich näher zu ihm. »Der Schreiber spricht vom Niedergang seiner Stadt. Oder zumindest von seiner Angst vor dem Niedergang. Er sieht überall, auf dem großen Platz, im Palast, Vorboten des Verfalls. Aber das Schlimmste für ihn ist die Verehrung dieses neuen Gottes, Akabalam. Seine Verkörperung ist die Gottesanbeterin. Dieser Gott ist bis dahin völlig unbekannt; man könnte glauben, er wäre in exakt diesem historischen Moment erschaffen worden.« »Ist das ungewöhnlich? Dass die Maya … neue Götter erschaffen haben?« »Nein, überhaupt nicht. Es gibt Dutzende von Gottheiten, und ständig kamen neue dazu. Als Paktul das erste Mal von dem neuen Gott hört, möchte er mehr über ihn erfahren, damit er zu ihm beten kann. Aber jetzt, in diesem letzten Teil der Handschrift, scheint es, als hätte er Todesangst vor dieser neuen Gottheit.« Stanton runzelte die Stirn. »Todesangst?« »Ja. Er gebraucht alle Superlative seiner Sprache, um seine Furcht zu beschreiben. Einige Glyphen legen sogar nahe, dass er größere Angst vor diesem Gott hat als vorm Sterben. Eine Passage, die wir entschlüsseln konnten, lautet: Das war etwas, was sehr viel bedrohlicher war, und niemand musste mich je lehren, es zu fürchten.« Stanton stand auf, trat an das Geländer und ließ den Blick über den von Platanen gesäumten Bach schweifen. Er dachte über Chels Worte nach. Schließlich drehte er sich wieder zu ihr um und sagte: »Wir sollten vielleicht nach einer tief sitzenden, einer angeborenen Furcht suchen. Denken Sie an Mäuse.« Chel starrte ihn verständnislos an. »Mäuse?« »Es gibt wenig, was eine Maus so sehr fürchtet wie eine Schlange. Das muss ihr niemand beibringen – diese Angst ist genetisch bedingt. Indem wir die Genstruktur verändern, können wir diese Angst auslöschen.« Chel stellte sich vor, wie Stanton Jahr für Jahr in irgendeinem Labor forschte und arbeitete – nicht anders als sie selbst. Seine Denkweise war ihr in gewisser Weise fremd und sein Wortschatz nicht sehr vertraut. Aber sein ständiger Rückgriff auf die zugrunde liegenden wissenschaftlichen Methoden war in der Tat ganz ähnlich wie ihr eigener Umgang mit Sprache und Geschichte. Stanton fuhr fort: »Die Frage, die wir stellen müssen, lautet also: Wovor könnte sich Ihr Schreiber am meisten fürchten?« »Davor dass seine Stadt für immer untergeht?« »Das scheint aber nichts Neues für ihn zu sein, oder?« Chel zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass er von Schlangen spricht.« »Nein, ich meine, wovor könnte er sich so sehr fürchten, dass diese Angst eine solche Reaktion auslöst? Es muss etwas anderes sein, eine urwüchsige Angst. Eine angeborene.« »Sie meinen, so wie die Angst vor Inzest«, sagte Chel. »Ganz genau. Könnte es das sein?« Chel schüttelte langsam den Kopf. »Blutschande war verboten. Von den Göttern. Von allen. Und es würde auch keinen Sinn ergeben. Was hätten die Gottesanbeterinnen damit zu tun?« Genau in dem Moment, als sie diese Worte aussprach, kam ihr ein Gedanke, ein Gedanke, den sie währen ihrer gesamten Laufbahn immer tunlichst beiseitegeschoben hatte. Sie hatte sich von Anfang an gewünscht, dass die alte Bilderhandschrift beweisen würde, dass ihr Volk seinen Untergang nicht selbst herbeigeführt hatte. Aber was, wenn es doch so war? 27 Vierzig Mal ist die Sonne wiedergekehrt, während ich gefastet und nichts als Maismehlbrühe und Wasser zu mir genommen habe. Kein Regen ist auf unsere Felder oder auf unsere Wälder gefallen, und in den Wasserspeichern geht das Wasser immer mehr zurück. Überall in der Stadt fängt man an, Wasser und Mais und Maniok zu horten, und es heißt, manche trinken ihren eigenen Urin, um ihren Durst zu stillen. In zwanzig Sonnen wird es kein Wasser mehr geben. Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich, dass einige nach Norden ziehen wollen, auf der Suche nach Land, das sie bestellen könnten, aber Jaguar Imix hat verkünden lassen, dass jeder, der Kanuataba verlässt, mit dem Tod oder mit noch Schlimmerem bestraft wird. In den ärmsten Winkeln von Kanuataba hat es in den letzten zwanzig Sonnen achtzehn Todesfälle gegeben, darunter viele Kinder; sie sind verhungert, weil sie bei der Zuteilung der Rationen als Letzte bedacht werden. Früher war unsere Stadt im Umkreis von zehn Tagesmärschen ein Umschlagplatz für die besten Waren. Aber Jadeschmuck ist nutzlos, und abgesehen von denen, die mit der Erhaltung der königlichen Kleinodien und der Geschichtsschreibung betraut sind, so wie ich, gibt es für die Handwerker nichts mehr zu tun. Nicht mehr Ohrgehänge aus Perlmutt und Federumhänge in schillernden Farben sind die begehrtesten Güter für die adligen Frauen, sondern Tortillas und Limonen. Eine Mutter, deren Kinder nichts mehr zu essen haben, verschwendet keinen Gedanken an goldene Medaillons, mögen sie auch noch so heilig sein. Als die Sonne gestern im Zenit stand, wurde ich in den Palast befohlen. Ich ließ Auxilas Töchter in meiner Höhle zurück, ich wusste, mein Krafttier würde in meiner Abwesenheit über sie wachen. Jaguar Imix, der allerheiligste König, war gerade erst zurückgekehrt von seinem weit entfernten Sternenkrieg. Er befahl mich zu sich, um mir die Bedeutung des Gottes Akabalam zu offenbaren, damit ich den Prinzen auch in Zukunft unterrichten könnte. Als ich einige Hundert Schritt von der Mitte unserer Stadt entfernt war, weniger als tausend Schritt von dem Platz, wo die neue königliche Grabstätte errichtet werden soll, konnte ich nicht glauben, was ich sah. Dicker schwarzer Rauch stieg über den Türmen des kleinen Tempels auf, unserer heiligen Katakombe. Und als ich um die Ecke bog, sah ich eine solche Menge von versammelten Männern und Frauen, wie ich sie seit sechshundert Sonnen in Kanuataba nicht mehr gesehen hatte. Ich wusste, dass für diesen Tag eine Versammlung angekündigt worden war, aber ich hätte nicht im Traum gedacht, dass sie so groß und so prachtvoll sein würde. Ich kann nicht beschreiben, was ich empfand beim Anblick des lebendigen Treibens. Es war wie in meiner Kindheit, als ich auf den kräftigen Schultern meines Vaters über den Markt getragen wurde, zwischen den geschäftigen Händlern hindurch. Man munkelte, Jaguar Imix habe ein Wunder vollbracht, er werde die Massen speisen, und es gebe so viel, dass wir bis zur nächsten Ernte mit Nahrung versorgt seien. Ich sah, wie Männer große Mengen von Gewürzen und Holz und Jade zur Südtreppe des Palastes trugen. Sie brachten auch Salz und Piment und Koriander, dazu über dem Feuer getrocknete Pfefferschoten; das waren die Gewürze, die man für Truthahn- und Hirschfleisch brauchte. Auch mein Magen knurrte vor Hunger. Aber die Sklaven sagten, im Umkreis von zwei Tagesmärschen gebe es weder Hirsche noch Truthähne noch Agutis. Hatten Jaguar Imix und seine mächtigen Krieger Fleischvorräte erbeutet? Der königliche Zwerg trat neben mich. Ich werde wiedergeben, was er sagte, damit alle wissen, zu welch niederträchtigen Machenschaften er fähig war. Er sprach: – Wenn die Menschen dich so gut kennen würden wie ich, Schreiber, und wenn sie wüssten, dass du diese beiden Mädchen niemals anrühren würdest, würde man dir deine Konkubinen wegnehmen. Dein Leben könnte um zehntausend Sonnen verkürzt werden und das Leben dieser Mädchen dazu. Daher rate ich dir, nie wieder mein Missfallen zu erregen. – Noch nie in meinem Leben hatte ich einen so heftigen Drang verspürt, eines Mannes Leib ausbluten zu lassen und ihm das Herz herauszureißen. Ich wünschte, es käme zu irgendeinem Tumult, der laut genug wäre, dass er Jacomos Schreie erstickte. Ich würde diesen Zwerg in Stücke reißen und irgendwo verscharren. Doch bevor ich meine Hand gegen ihn erheben konnte, wurde ich von einem lauten Lärmen abgelenkt. Blau bemalte Gefangene, fünfzehn an der Zahl, wurden herbeigezerrt. Sie waren an eine lange Stange gebunden und an den Händen und am Hals aneinandergefesselt. Einige konnten sich kaum noch auf den Beinen halten, so lange waren sie schon unterwegs. Viele schienen halb tot zu sein. Ich bemerkte die Tätowierungen auf dem Oberkörper eines der Gefangenen, ein Zeichen für seine vornehme Herkunft. Noch nie habe ich einen Adligen gesehen, der sich im Angesicht des Todes so ängstlich gebärdet hätte. Er schrie und wand sich, während er weitergeführt wurde, seine Füße schleiften über den Staub und wirbelten ihn hoch. Den Aufsehern war anzumerken, dass auch sie so etwas noch nie erlebt hatten. Was für ein unwürdiges Gebaren! Nur ein kranker Geist konnte die Seele dieses Adligen so versehrt haben, dass er sich nicht in sein Schicksal fügte. Ich bahnte mir einen Weg an den Wirtschaftern, Schneidern, Konkubinen vorbei. Die Schwitzhütte, ein kuppelförmiger Raum, befindet sich ganz oben im Turm, ein hochheiliger Ort, um mit den Göttern in Verbindung zu treten und ihre Weissagungen zu empfangen. Normalerweise haben hier nur die engsten Gefolgsleute des Königs Zutritt. Als ich das Schwitzbad betrat, sah ich, dass der König allein war, was nach meiner Erinnerung in tausend Sonnen nicht mehr vorgekommen war. Sein Gesicht war eingefallen und abgezehrt, es wirkte so wenig heilig wie noch nie zuvor. Nicht einmal ein Sklave oder eine Ehefrau von niederem Rang waren anwesend, um seine Wünsche zu erfüllen. Der König sprach: – Ich habe dich hierher befohlen, Paktul, damit du bei den Vorbereitungen des großen Festmahls zugegen bist und alles in den großen Büchern für die Nachwelt festhalten kannst. – Ich ließ mich neben den glühenden Kohlen auf die Knie sinken, und die Hitze war unerträglich. Aber da es eine große Ehre war, in die Schwitzhütte gebeten zu werden, wollte ich mir nicht anmerken lassen, wie ich litt. Ich sprach: – Erhabener, du hast recht, wir müssen in den Büchern über das große Fest schreiben, aber ich möchte dich noch einmal bitten, mir zu erklären, warum die Götter uns mit diesem üppigen Mahl segnen, wo sie uns sonst doch keineswegs wohlgesonnen sind. Ich möchte verstehen, warum wir uns heute an einem Festessen laben, aber an allen anderen Tagen Hunger leiden. – Der König presste die Kiefer aufeinander. Seine schielenden Augen blickten an mir vorbei, als versuchte er, seinen Zorn zu zügeln. Er hielt seinen Herrscherstab fest umklammert. Doch er erhob sich nicht, als ich geendet hatte, er wies mich nicht zurecht und rief auch nicht die Wachen, damit sie mich wegschafften. Er blickte nur auf meine Hand und deutete auf meinen Ring, das Zeichen des großen Affen-Schreibers, meines Vorgängers. Und dann sprach er: – Der Ring, den du da trägst, der Ring des Affen-Schreibers, das Symbol deines Standes – was, glaubst du, ist dieser Ring gegen die Krone der Götter, die ich auf dem Kopf trage? Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als diese Bürde mit meinem Volk zu teilen und ihm erklären zu können, welche Zugeständnisse ich machen muss, um die Götter zufriedenzustellen. Diese Bürde zu tragen kann man nicht aus Büchern lernen, sondern nur von jenen, die mir vorangegangen sind, von meinen Vätern, die einst über unsere Terrassenstadt herrschten. Einer, der den Ring des Affen-Schreibers trägt, kann die Schwere dieser Bürde kaum ermessen. – Mit diesen Worten erhob sich der König in seiner Nacktheit. Ich dachte, er werde mich schlagen, aber er befahl mir nur, mich zu erheben. Er schlang sich einen Lendenschurz um die Hüften und hieß mich, ihm in die Küche des Palastes zu folgen. Man munkelt, es gebe nichts, was die königlichen Köche nicht so zubereiten können, dass es dem Herrscher mundet. Sie schicken ihre Helfer an bis zu sieben Tagesmärsche entfernte Orte, um Guaven oder Schweinepflaumen zu sammeln, die nur auf den höchsten Bergen wachsen, oder um mit den Baummenschen um Süßkartoffeln zu feilschen, die nur im Winter im Schatten eines Kapokbaumes wachsen. Ich folgte seiner Heiligkeit, Jaguar Imix, und ich konnte die schlangengleich flink umherhuschenden Männer sehen, die, ganz auf ihre Kunst konzentriert, mit den Vorbereitungen für das große Festmahl beschäftigt waren. Jeder hatte eine andere Aufgabe. Da gab es welche, die für Soßen und Garnierungen zuständig waren und Blättchen von Manioksträuchern auf die verschiedenen Mischungen von Pfefferschotenpaste, Zimt, Kakao und Piment gaben. Andere wiederum kümmerten sich um das eigentliche Kochen und wachten über die großen Bratspieße in jeder Ecke des Raumes und brieten das Fleisch, bevor sie es zu den üppigen Eintöpfen hinzugaben, die in gewaltigen Kesseln in der Mitte der Küche schmorten. Die offenen Feuerstellen strahlten eine Hitze ab, die fast so erdrückend war wie in der Schwitzhütte. Wir gingen weiter, und ich wusste, dass wir zum Schlachthaus gingen. Bevor wir dort eintraten, bedachte mich der König mit einem strahlenden Jadelächeln. Er sprach: – Gemeiner Schreiber, es kann keine bedeutendere göttliche Eingebung geben als jene, die ich vor zwanzig Monden erhielt, das göttliche Gebot Akabalams, das unsere Rettung sein und Kanuataba für immer verändern wird. Fast ein Jahr habe ich dieses Blut in mir aufgenommen, und es ist an der Zeit, mein Volk an der Quelle meiner Kraft teilhaben zu lassen. Meinen Spionen zufolge sind diese Rituale bei anderen Völkern eine Alltäglichkeit geworden. Nicht nur bei den Adligen, sondern auch beim niederen Volk. Sie haben sich viele Monde davon ernährt und brauchten nichts anderes. – Ich folgte dem König ins Schlachthaus. Der Boden schwamm in Blut, es durchtränkte meine Sandalen. Mehr als zwei Dutzend tote Körper hingen da, gehäutet und geköpft, ausgeweidet, ausgeblutet und zerlegt. Die Schlachter lösten das Fleisch von den Knochen der Gliedmaßen und warfen die Stücke auf einen Berg aus dicken Fleischscheiben. Mit Steinklingen wurde das Fleisch so zurechtgeschnitten, dass es gebraten werden konnte, und nicht das kleinste Stückchen wurde verschwendet. Ich begriff erst nach einem Augenblick, dass es menschliche Gliedmaßen waren, die man uns zum Verzehr vorsetzen wollte. Es waren menschliche Körper, die an den Fleischerhaken hingen. Der König sprach: – Akabalam hat befohlen, dass wir uns dieses Fleisch einverleiben, weil wir so die Macht der Seelen, die in diesen Toten wohnten, in uns aufnehmen. Ich und meine engsten Getreuen haben diese Macht bereits erlangt, da wir in den vergangenen dreihundert Sonnen mehr als zwanzig Männer verzehrt haben. Jetzt ist es Akabalams Wille, dass wir die Kraft von zehn Männern in jedem einzelnen Mann unseres großartigen Volkes konzentrieren. Die Gottesanbeterin verspeist den Kopf ihres Männchens, um zu überleben. Gesegnet sei sie! Und wie sie werden wir alle das Fleisch unseresgleichen verzehren. – Als er geendet hatte, wusste ich, dass dies kein Gott war, der bestimmt wurde, damit wir wieder auf den Pfad der Frömmigkeit zurückkehren. Das war etwas sehr viel Schrecklicheres, und niemand musste mich je lehren, es zu fürchten. Seit meiner letzten Niederschrift ist viel geschehen in Kanuataba; sechzig Sonnen sind aus der Farbe der Wiedergeburt geboren worden und in Schwärze erloschen. Akabalam hat sich bis in jeden Winkel der Stadt verbreitet, als bekannt wurde, dass der König bei dem Festmahl auf dem großen Platz das Fleisch der Adligen unserer Feinde seinem eigenen Adel vorsetzte. Jaguar Imix hat befohlen, Akabalam zu huldigen. Kein Regen ist auf die Felder gefallen, und so sind die Kochtöpfe gefüllt mit dem Fleisch der Toten; alles wurde verwendet, jeder kleinste Fleischfetzen von den Knochen geschabt. Niemand darf seinen eigenen Sohn oder seinen Vater, seine eigene Tochter oder seine Mutter essen – das ist das einzige Verbot, das der König erließ, weil die Götter es so angeordnet haben. Aber ich habe kindliche Sklaven gesehen, die gezwungen wurden, fleischlose Mahlzeiten zuzubereiten, nur um dann geopfert zu werden wie Tiere, hin und hergewendet im würzigen Sud, den sie selbst zubereitet hatten. Ich habe Akabalam nicht gehuldigt und habe es auch Auxilas Töchtern nicht erlaubt. Wir ernähren uns von Blättern und Wurzeln und kleinen Beeren. Schmetterling Ohnegleichen und Geflammte Feder wären schon längst Nahrung für die Massen geworden, wenn meine Stellung sie nicht schützen würde. Die Waisen in der Stadt gehörten zu den Ersten, die geopfert wurden, aber in meiner Höhle sind die beiden Mädchen in Sicherheit. Mein Krafttier wacht über sie. Ich habe ihnen verboten, die Höhle zu verlassen, weil sich viele grausame Wilde auf den Straßen herumtreiben, die nicht zögern würden, ein Kind zu töten, um es zu essen. Der König hat sich tief in den Palast zurückgezogen, wo er auf eine Eingebung der Götter wartet. NurJacomo, der Zwerg, sowie die Königin und der Prinz dürfen zu ihm. Der Rat wurde aufgelöst. Jaguar Imix verkündete, kein Mann außer ihm könne den Ruf der himmlischen Götter vernehmen, und im Rat habe es zu viele falsche Propheten gegeben. Jeden Tagbei Sonnenaufgang steht Jacomo, der Zwerg, auf den Stufen des Palastes, wo er die Befehle des Königs verliest und die Opfer, die dargebracht werden müssen, um die Götter zufriedenzustellen. Jeden Tag bei Sonnenuntergang sind die Opfer dargebracht, sind Männer und Frauen und Kinder, unter ihnen auch adlige, auf den Opferaltar gezerrt worden, wo sie von den Scharfrichtern getötet, wo ihnen das Herz und die Eingeweide herausgerissen wurden, bevor sie den Massen als Nahrung dienen. Doch mit jeder Opferung wachsen in Kanuataba die Zweifel an der Macht des Königs. Ich habe das Murren im Volk vernommen. Jeder hat Angst, er könnte der Nächste sein, der geopfert wird. Jaguar Imix habe seine besondere Verbindung zu den Göttern verloren, wird gemunkelt, ein Fluch habe seinen Geist verwirrt. Und was hat Akabalam uns gegeben? Es ist kein Regen auf die Felder gefallen, nichts hat den Boden genährt, damit die Frucht wachsen könnte, von der wir leben. So vieles hat sich verändert. Grauen und Schrecken überall! Der Tod umgibt uns, er hält die Stadt in seiner kalten schwarzen Umarmung gefangen. Nach der letzten Zählung sind über tausend Menschen tot und noch viel mehr sind verflucht und warten auf den Tod. Ich hatte recht mit meinen Befürchtungen. Der Fluch von Akabalam hat viele befallen, er saugt den Geist aus ihnen heraus, sodass sie nicht mehr imstande sind, in die Traumwelt hinüber zugleiten, um in Verbindung mit ihren Göttern zu treten. Verflucht sind jene, die sich gegen ihre Mitmenschen vergehen, und die Zahl der Verfluchten wird mit jedem Sonnenwechsel größer. Die Gewalt regiert in den Straßen bei Tag und bei Nacht; einst friedliche Menschen gehen aufeinander los, weil sie die Geister in ihren Träumen nicht mehr heraufzubeschwören vermögen, und prügeln sich um die wenigen noch verbliebenen kostbaren Dinge auf den Märkten. Jaguar Imix und sein Gefolge haben viele Monde lang im Einvernehmen mit den Göttern Menschenfleisch verzehrt. Doch welcher Gott sie auch immer beschützt haben mag, er beschützt sie nun nicht mehr: Der König ist verflucht, seine Adligen sind verflucht, und Akabalam ist über unser Land hinweggefegt und hat alles verwüstet. Akabalam hat Menschen in Ungeheuer verwandelt, genau wie ich es befürchtet habe. Wenn wir träumen, befinden wir uns im Einklang mit den Göttern, wir halten Zwiesprache mit unseren Krafttieren, wir überantworten uns den Göttern, wie wir es im Tode tun. Aber die Verfluchten können nicht träumen, sie können sich weder in die Obhut der Götter begeben noch Verbindung zu ihrem wayob aufnehmen, das über sie wacht. Hier ist der Bericht meines letzten Aufenthalts im großen Palast, wo sich einst die Männer des königlichen Rates versammelten. Ich kam bei Nacht, ich trug den Ara auf den Schultern. Für einen frommen Mann war es zu gefährlich, sich am helllichten Tag auf den Straßen zu zeigen. Ich machte mich auf, und nur der Mond wies mir den Weg. Ich sorgte mich um den Prinzen, Rauch Lied, meinen Schüler. Ich wollte ihn aus dem Palast bringen. Dass der Junge nicht verflucht ist, beweist, wie verwirrt sein Vater ist und wie wankelmütig im Glauben, denn seinem eigenen Sohn gab er kein Menschenfleisch zu essen. Rauch Lied ist nicht das einzige Kind, das die Geschichten und die Legende der Terrassenstadt weitergeben wird. Geflammte Feder und Schmetterling Ohnegleichen warteten in meiner Höhle auf mich. Wir wollten in den Wald an dem See fliehen, den mein Vater einst gesucht hatte. Auxilas Töchter haben mein Verbot beachtet und kein Menschenfleisch gegessen. Wir werden uns von dem ernähren, was das Land hergibt, und wir werden sicher sein vor den Traumlosen und vor jenen, die ihnen ins Verderben folgen werden. Seit zwanzig Sonnen war ich weder im Palast gewesen, noch hatte ich den König gesehen. Alles, was ich sah und erlebte, wirkte seltsam falsch, und ich hatte den merkwürdigen Verdacht, dass diese Lebensweise im Palast und in Kanuataba vorbei war, dass der Schein nicht länger aufrechterhalten werden konnte. Es waren keine Wachen zu sehen, und ich gelangte unbehelligt zu den königlichen Gemächern. Ich fand den Prinzen nicht in seinem Zimmer, und so ging ich weiter zu den Gemächern des Königs. Der Prinz musste zu seinem Vater gegangen sein, und der Gedanke versetzte mich in Angst, weil ich nicht glaubte, dass der König ihm erlauben würde, den Palast zu verlassen. Kühn betrat ich die Kammer des Königs. Der Prinz kniete neben der Bettstatt seines Vaters. Da wusste ich, dass Ah Puch den Geist des Königs ins Jenseits getragen hatte, wo er mit anderen Königen die Zyklen der Zeit durchwandern würde, wie es bestimmt ist. Kein Atem stieg von seinen Lippen empor, kein Schlag seines Herzens war zu spüren. Rauch Lied berührte den Leichnam nicht, so wie ich es ihn gelehrt hatte. Er schwenkte nur die Räucherstäbchen, die einen bitteren Duft verströmten, um den Körper herum. Rauch Lied blickte auf und sah mich an. Tränen standen ihm in den Augen. Plötzlich sprach eine Stimme hinter uns: – Dies ist die Kammer des Königs, seine ganz allein. Dein unbefugtes Eindringen hier wird dir nicht vergeben werden, gemeiner Schreiber. – Ich drehte mich um. Der Zwerg stand zehn Schritt hinter mir. Ich sprach: – Viel zu lange hast du deine Lügen auf den Straßen der Stadt verbreitet und das Volk von Kanuataba mit deiner Zunge verführt. Sie sollen keine Lügen mehr hören. Sie sollen erfahren, dass der König tot ist! – – Wenn du irgendjemandem davon erzählst, werde ich dafür sorgen, dass alle erfahren, dass du den Beischlaf mit Auxilas Töchtern nicht vollzogen hast und dass sie deshalb nicht deine Konkubinen sind und du keinen Anspruch auf sie erheben kannst. Ich werde sie mir nehmen, und sie werden erblühen und meine Söhne gebären! Ich werde die Wachen des Königs schicken, damit sie sie holen und, wenn es sein muss, mit Gewalt hierher bringen! – Da erhob ich meinen Gehstock und hieb ihn dem Zwerg über den knollenförmigen Kopf. Ich traf ihn mit der Jadespitze, sodass das Blut aus ihm herausfloss. Der Zwerg schrie auf, als er zu Boden fiel, und flehte den Prinzen um Hilfe an. Rauch Lied rührte sich nicht. Der Zwerg raffte sich auf, stürzte sich auf mich und schlug die Zähne in mein Bein. Ein Schmerz wie Feuer raste durch mich hindurch. Ich stach ihm mit der Spitze meines Jademessers ein Auge aus, und er ließ von mir ab. Ich rammte ihm die Jadeklinge in den Bauch, so fest ich konnte, und löschte sein Leben aus. Dann wandte ich mich zu dem Prinzen hin. – Geh! Ich bleibe hier. Nimm Geflammte Feder und Schmetterling Ohnegleichen und flieh mit ihnen aus der Stadt! – Als der Prinz das vernahm, sprach er mit der Entschiedenheit, die seine neue Macht ihm verlieh: – Als oberster ajaw dieser Stadt befehle ich dir, mit uns zu kommen, Paktul! Ich werde dich zum Hüter des Tages machen, wo immer wir hingehen werden. Das befehle ich dir als dein König! – Aber ich wusste, dass die noch verbliebenen königlichen Wachen mich verfolgen würden. Es würde sie nach meinem Blute dürsten, und ich wollte das Leben der Kinder nicht aufs Spiel setzen. Ich sprach zum Prinzen: – Dass du mir die Ehre erweisen und mich zum Hüter des Tages machen würdest, ist mir Anerkennung genug, Rauch Lied, und dieser Ruhm wird genügen, um mir Einlass zu verschaffen in die heilige Welt der Schreiber dort oben. Aber du musst mich hier zurücklassen, damit Itzamnaaj, der heilige Gott des Himmels, dich beschützen kann. – Er sprach: – Heiliger Lehrer, die Abtrünnigen kommen! Ich kann ihre Schreie hören! Als dein neuer König befehle ich dir, mir zu folgen! – Da sprach ich zum Prinzen: – Dann komm, mein König, ich will dich dorthin führen, wo meine Familie, die ich verloren habe, einst lebte, dorthin, wo all jene lebten, die vor mir waren. – Heiliger Itzamnaaj, möge ich sie an den sicheren Ort führen, verborgen im tiefsten Wald, wo einst meine Vorfahren lebten und für alle Zeit leben werden. Wo wir zu den wahren Göttern beten und ein neues Volk hervorbringen werden, das den nächsten großen Zyklus einleiten wird. Rauch Lied wird Geflammte Feder zu seiner Frau machen, und mit dieser Verbindung soll ein fruchtbarer neuer Anfang gemacht, neue Menschen sollen erschaffen, ein neuer Zeitzyklus eingeleitet werden. Ich kann nur von den Generationen träumen, die Rauch Lied mit Geflammte Feder und deren Schwester zeugen wird, Männer, die gerecht und tugendhaft über ihr Volk herrschen werden. Und das Volk von Kanuataba wird weiterleben. 12.19.19.17.16 – 17. DEZEMBER 2012 28 Chel stand allein in der Eingangshalle des Getty Research Institute und schaute zu, wie die Strahlen der Nachmittagssonne durch das Oculus genannte runde Oberlicht fielen. Zur Sommersonnwende stand die Sonne um zwölf Uhr mittags senkrecht über diesem Oculus und warf einen Schatten genau auf die Mitte der Glasplatte im untersten Stock – der Entwurf war eine Anlehnung an die zum Teil auf astrologischen Beobachtungen basierende Architektur des Altertums. Dies war das Bollwerk der Maya-Forschung, dem das Kuratorium auf ihr beharrliches Drängen hin zugestimmt hatte. Es sei ein historisches Verbrechen, die fortschrittlichste Kultur der Neuen Welt zu ignorieren, hatte sie argumentiert. Und jetzt stellte sich heraus, dass die Maya selbst ein historisches Verbrechen begangen hatten. Jahrhundertelang hatten die spanischen Eroberer als Beweis für ihre eigene moralische Überlegenheit den Ureinwohnern Kannibalismus vorgeworfen. Missionare hatten diesen Vorwurf als Rechtfertigung benutzt, um alte Handschriften zu verbrennen; spanische Könige hatten mit diesem Vorwurf ihren Anspruch auf das Land untermauert. Bis in die Neuzeit hatten sich diese Lügengeschichten gehalten. Selbst während der Revolution in Chels Kindheit waren entsprechende Behauptungen aufgetaucht, um die Unterdrückung der modernen Maya zu rechtfertigen. Und jetzt würde sie den Feinden ihres Volkes den Beweis liefern, nach dem sie so lange gesucht hatten. In der Postklassik hatten die Azteken dreihundert Jahre lang in Mexiko geherrscht, hatten Bedeutendes in Kunst und Architektur geschaffen und die Handelsbräuche in Mittelamerika revolutioniert. Aber wenn man jemanden fragte, was er über die Azteken wisse, so dachten die meisten an Kannibalismus und Menschenopfer. Und genau das Gleiche würde jetzt den Maya widerfahren. Alles, was Chels Vorfahren an großartigen Leistungen vollbracht hatten, würde von dieser Entdeckung überschattet werden. Sie wären nur noch die Wilden, die Gottesanbeterinnen verehrt hatten, weil die ihre Männchen auffraßen. Die Wilden, die Kinder opferten und sie verspeisten. »Das gibt es schon seit etlichen Hunderttausend Jahren.« Stanton war ihr in die Eingangshalle gefolgt. Er war dabei gewesen, als Chel, Victor und Rolando den letzten Teil des alten Buches rekonstruiert hatten. Chel war ihm dankbar dafür. Nach allem, was sie entdeckt hatten, empfand sie seine Gegenwart als tröstlich. »In jeder Kultur gibt es Hinweise auf Kannibalismus«, fuhr er fort. »Auf Papua-Neuguinea, in Nordamerika, in der Karibik, in Japan, in Zentralafrika aus der Zeit, als unser aller Vorfahren dort lebten. Aufgrund einer bestimmten Anzahl genetischer Marker in der menschlichen DNA überall auf der Welt kann man darauf schließen, dass alle unsere Vorfahren in der Frühzeit tote Menschen verspeisten.« Chel blickte wieder zum Oculus hinauf. Ein Stück weiter unten konnte man die Regale der Bibliothek mehr erahnen, als dass man sie sah – Tausende bibliophile Kostbarkeiten, Zeichnungen und Fotografien aus aller Welt. Und jedes Stück hatte seine eigene komplizierte Geschichte. »Haben Sie schon mal von Atapuerca gehört?«, fragte Stanton. »In Spanien?« Er nickte. »Dort hat man bei Ausgrabungen die ältesten Überreste von Urmenschen in Europa entdeckt. Gran Dolina. Man fand Skelette von Kindern, die verspeist worden waren. Die Vorfahren der Konquistadoren haben Kannibalismus praktiziert, lange bevor Ihre das taten. Es ist nur allzu menschlich, dass man in der Verzweiflung etwas so Unvorstellbares tut, wenn die eigene Familie hungert. Seit Anbeginn der Geschichte ist es immer nur schlicht ums Überleben gegangen.« *** Eine halbe Stunde später saßen Stanton, Chel, Rolando und Victor auf den Hockern im Labor, wo sie seit achtundvierzig Stunden praktisch ununterbrochen gearbeitet hatten. Stanton las noch einmal die Übersetzung dessen, was der König zum Schreiber gesagt hatte: Ich und meine engsten Getreuen haben diese Macht bereits erlangt, da wir in den vergangenen dreihundert Sonnen mehr als zwanzig Männer verzehrt haben. Jetzt ist es Akabalams Wille, dass wir die Kraft von zehn Männern in jedem einzelnen Mann unseres großartigen Volkes konzentrieren. Stanton stellte sich das Schlachthaus vor, in dem die beiden standen. Er fühlte sich auf geradezu unheimliche Weise an die Schlachthäuser und Fleischverarbeitungsanlagen erinnert, die er zehn Jahre lang im Rahmen seiner Arbeit besichtigt hatte. Die Verbindung zwischen Kannibalismus und der Krankheit war klar: Der Rinderwahnsinn war ausgebrochen, weil Bauern ihre Rinder mit dem Hirn anderer Rinder gefüttert hatten. VFI war ausgebrochen, weil ein verzweifelter König seinem Volk menschliches Hirn zu essen gegeben hatte, das mit pathogenen Prionen infiziert war. »Kann das Zeug wirklich so lange in einem Grab überdauert haben?«, fragte Rolando. »Prionen könnten theoretisch Jahrtausende überdauern«, antwortete Stanton. »Die Erreger müssen in diesem Grab quasi auf der Lauer gelegen haben. Eine tickende Zeitbombe.« Und Volcy hatte den Zündmechanismus in Gang gesetzt. Er hatte ein Grab gefunden, in der Erde gescharrt und sich dann an die Augen gefasst. »Paktul schreibt, dass nur diejenigen krank wurden, die Menschenfleisch gegessen haben«, sagte Victor. »Und Sie glauben doch sicher nicht, dass Volcy Kannibale war. Wie kommt es also, dass VFI durch die Luft übertragen werden kann?« »Prionen haben die Tendenz zu Mutationen«, erklärte Stanton. »Es ist sozusagen ihr Daseinszweck, sich ständig zu verändern. Nach tausend Jahren in diesem Grab verwandelten sie sich in etwas anderes, etwas viel Wirkungsvolleres.« Er überflog die Seite auf der Suche nach einer anderen Passage. Jaguar Imix und sein Gefolge haben viele Monde lang im Einvernehmen mit den Göttern Menschenfleisch verzehrt. Doch welcher Gott sie auch immer beschützt haben mag, er beschützt sie nun nicht mehr. Sie wussten jetzt zwar, wie die Krankheit entstanden war, aber auch Stanton fragte sich, was er mit diesen Informationen anfangen sollte. Barg das Grab selbst die Antworten, die ihnen noch fehlten? Noch vor zwei Tagen hätte er das CDC anhand dieser Ergebnisse eventuell dazu bewegen können, eine großangelegte Suche nach Kanuataba zu starten. Er hatte Davies, der wieder im Zentrum für Prionenforschung arbeitete, angerufen und ihm von ihrer Entdeckung erzählt. Aber es gab keinerlei Experimente, die sein Team aufgrund dieser Informationen hätte durchführen können. Stanton überlegte, ob er Cavanagh eine E-Mail schicken sollte, doch selbst wenn sie sich dazu durchgerungen hätte, ihm zu antworten, wüssten sie immer noch nicht, wohin sie das Team entsenden sollten, weil sie immer noch keine genaueren Ortsangaben hatten. Und die Guatemalteken würden vermutlich weiterhin abstreiten, dass sich der Infektionsherd in ihrem Land befand, und einem offiziellen Team die Einreise verweigern. Außerdem hatte das CDC den Nachrichten zufolge im Moment andere Sorgen: Immer mehr Menschen suchten auf dem Land-, auf dem Luft- und auf dem Seeweg nach Schlupflöchern, um der Quarantäne zu entkommen. Atlantas oberste Priorität war es ganz sicher nicht, den Infektionsherd zu finden. Eine tausend Jahre alte Bilderhandschrift würde nicht genügen, um die Bürokraten vom Seuchenzentrum zu überzeugen. »Wenn Paktul und die drei Kinder Kiaqix gegründet haben«, sagte Rolando, »dann verstehe ich aber nicht, warum in der Legende von drei Gründern die Rede ist. Es sind vier, nicht drei.« »Diese mündlichen Überlieferungen darf man nicht so wörtlich nehmen«, erwiderte Chel. »Es gibt unzählige Versionen, und die werden von Generation zu Generation weitergegeben, da kann es schon passieren, dass das eine oder andere verloren geht.« Stanton hörte nur mit halbem Ohr zu. Etwas an den Passagen, die er gerade gelesen hatte, machte ihn stutzig, und er überflog sie noch einmal. Der König war stolz darauf, dass er und seine Getreuen so lange Menschenfleisch gegessen und dadurch so große Macht erlangt hatten. Dreihundert Sonnen. Das bedeutete, fast ein Jahr, bevor der König dem Volk Menschenfleisch vorsetzte, waren er und seine Männer bereits Kannibalen geworden, und sie hatten auch Hirn gegessen. Warum also waren sie nicht viel früher krank geworden? Waren die verspeisten Hirne gänzlich frei von Prionen gewesen? Stanton wies die anderen auf diesen Punkt hin und fügte hinzu: »Innerhalb eines Monats, nachdem alle Einwohner mit Menschenfleisch versorgt wurden, sind ausnahmslos alle krank geworden, einschließlich des Königs und seinen Getreuen.« »Die Frage ist also, was ist passiert?«, sagte Rolando. »Etwas hat sich verändert.« »Aber was?«, fragte Chel. »Früher glaubten die Menschen, dass großes Unheil über sie hereinbricht, wenn sie die Götter nicht achten.« Rolando spielte auf Paktuls Worte an, dass, welcher Gott den König auch immer beschützt haben mochte, er diesen nun nicht mehr beschütze. »Viele indígenas würden Ihnen auch heute noch sagen, dass diese Krankheit eine Strafe der Götter ist.« »Dann würde ich ihnen antworten, dass diese Krankheit das Ergebnis mutierter Proteine ist und sonst gar nichts«, erwiderte Stanton. »Aber ich glaube nicht an wissenschaftliche Zufälle. Der König und sein Gefolge müssen über viele Monate hinweg sehr viel mehr Hirn gegessen haben als das gemeine Volk in wenigen Wochen, richtig? Das heißt, der Erreger hat sich plötzlich in eine tödliche Gefahr verwandelt, und dafür muss es einen Grund geben.« »Sie meinen, er ist stärker geworden«, sagte Chel. Stanton dachte kurz nach. »Oder aber die Abwehrkräfte der Menschen sind schwächer geworden.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Denken Sie doch an einen AIDS-Kranken«, antwortete er. »HIV schwächt das Immunsystem und macht anfälliger für andere Krankheiten.« Victor schaute verstohlen auf seine Uhr. Stanton bemerkte es. Der Mann wirkte irgendwie gleichgültig, und Stanton fragte sich, was ihm so wichtig sein konnte, dass es ihn von den drängenden Problemen ablenkte, die sie hier besprachen. »Sie glauben also, irgendetwas hat das Immunsystem des Königs und seines Gefolges heruntergefahren?«, fragte Rolando. »Vielleicht war es auch umgekehrt«, murmelte Stanton nachdenklich. »Das Reich zerfällt, die gesellschaftlichen Strukturen lösen sich auf, richtig? Die letzten Bäume werden verbrannt, die Ressourcen vollständig ausgeschöpft, bis es nichts mehr gibt – nichts zu essen, keine Gewürze, kein Papier, keine Medizin. Könnte es nicht sein, dass irgendetwas ihre Abwehrkräfte künstlich gestärkt hat, das es auf einmal nicht mehr gab?« Chel runzelte die Stirn. »Sie meinen, so etwas wie ein Impfstoff?« »Ich denke eher an so etwas wie Chinin, das gegen Malaria schützt, oder Vitamin C als Vorbeugung gegen Skorbut. Etwas, das sie gegen die Krankheit schützte, ohne dass sie es wussten. Der König sagt, er habe über ein Jahr Menschenfleisch gegessen und kein Fluch sei über ihn gekommen. Paktul glaubt, ihr Ungehorsam gegen die Götter habe die Krankheit ausgelöst. Aber vielleicht war es ganz anders. Vielleicht haben sie das, was sie davor geschützt hat, nicht mehr zu sich genommen.« »Und was könnte das gewesen sein?«, fragte Victor, der seine Aufmerksamkeit wieder der Diskussion zuwandte. »Irgendein Nahrungsmittel oder ein Getränk. Etwas auf Pflanzenbasis, nehme ich an. Chinin hat die Menschen, lange bevor man etwas über diesen Wirkstoff wusste, vor Malaria geschützt. Penicillium-Pilze haben vermutlich alle möglichen bakteriellen Infektionen verhindert, bevor auch nur ein Mensch irgendetwas über Antibiotika wusste.« Sie gingen die Übersetzung noch einmal Wort für Wort durch und durchforschten sie nach Hinweisen auf Pflanzen, Bäume, Nahrungsmittel, Getränke – auf alles, was die Maya zu sich genommen hatten, bevor sie zu Kannibalen geworden waren. Verschiedene Maiszubereitungen, Alkohol, Schokolade, Tortillas, Pfefferschoten, Limonen, Gewürze. Sie suchten nach Anhaltspunkten, ob irgendetwas davon als Heilmittel verwendet worden war. Etwas, das sie möglicherweise vor Ansteckung geschützt hatte. »Wir brauchen Proben von allen diesen Pflanzen, damit wir sie untersuchen können«, sagte Stanton schließlich. »Und zwar von genau den gleichen Arten, wie sie damals verwendet wurden.« »Und wie stellen Sie sich das vor?«, fragte Rolando. »Selbst wenn wir die Pflanzen im Regenwald finden würden, wie können wir wissen, dass es sich um die gleiche Art handelt?« »Archäologen haben an Tongefäßen pflanzliche Rückstände gefunden«, warf Chel ein. »An einer einzigen Schale konnten sie Spuren von mehreren Dutzend verschiedenen Pflanzenarten nachweisen.« »In Gräbern?«, fragte Stanton. Victor brummte etwas, das Zustimmung ausdrücken sollte. Dann stand er auf und ging zur Tür. »Entschuldigt mich einen Moment. Ich muss zur Toilette.« »Du kannst die in meinem Büro benutzen«, rief Chel ihm nach. Er reagierte nicht, so als hätte er sie nicht gehört. Der alte Mann benahm sich seltsam, und ein beunruhigender Gedanke durchzuckte Stanton. Er würde Victors Augen auf Anzeichen von VFI untersuchen müssen. »Wir müssen dahin«, sagte Chel. »Nach Guatemala.« »Und wohin genau?«, fragte Rolando. »In die entgegengesetzte Richtung des Izabal-Sees. Von Kiaqix aus gesehen.« Paktul hatte geschrieben, er werde die Kinder in das Land seiner Vorfahren führen, an einen »großen See neben dem Meer«. Der Lago de Izabal im Osten Guatemalas war der einzige See weit und breit, auf den diese Beschreibung zutraf. »Wenn er sie zum Izabal-See geführt hat und sie sich schließlich im heutigen Kiaqix niedergelassen haben, können wir davon ausgehen, dass die versunkene Stadt sich in einer Entfernung von höchstens drei Tagesmärschen in der entgegengesetzten Richtung befindet.« »Der Izabal-See ist wahnsinnig groß. Etliche Hundert Quadratmeilen«, gab Rolando zu bedenken. »Das ist eine riesige Fläche, die du da absuchen müsstest.« »Aber irgendwo innerhalb dieser Koordinaten muss es sein«, sagte Stanton. Die Tür zum Labor öffnete sich. Victor kam herein. Er war nicht allein. 29 Es dauerte einige Sekunden, bis Chel begriffen hatte. In einem der Männer, die mit Victor hereingekommen waren, erkannte sie seinen Freund aus dem Museum of Jurassic Technology wieder, den, der als Ausbilder beim Militär in Guatemala gewesen war. Dann sah sie, dass die beiden Männer hinter Colton Shetter – die genau wie dieser ein weißes Hemd, eine schwarze Hose und Stiefel trugen – einen Supermarkteinkaufswagen schoben. In fassungslosem Entsetzen zählte sie zwei und zwei zusammen: Sie waren hier, um die alte Bilderhandschrift zu stehlen. Als Rolando fragte: »Was soll das, Victor?«, wusste Chel bereits Bescheid. Victor hatte diese Leute hereingelassen. Er hatte den Sicherheitsdienst am Eingang zum Museumsgelände angerufen und ihnen gesagt, sie sollten die Männer durchlassen. Chel schob sich um die beleuchteten Tische herum, sodass sie zwischen den Männern und dem Kodex stand. Sie konnte die kalte Kante des Metalltischs spüren, die ihr durch die Jeans von hinten gegen die Beine drückte. Shetter machte einen Schritt nach vorn und sagte, zu Victor gewandt: »Es sind die Glaskästen hinter ihr, nehme ich an.« Victor nickte. »Wer sind diese Typen, verdammte Scheiße?«, brauste Rolando auf. Er und Stanton waren hinter Chel auf der anderen Seite der Tische stehen geblieben. »Dr. Manu«, sagte Shetter, »wir wären Ihnen und Ihren Kollegen sehr verbunden, wenn Sie kooperieren würden. Mark und David werden die Glaskästen jetzt einpacken. Ich weiß, wie zerbrechlich sie sind, wir werden so vorsichtig sein wie möglich, und deshalb muss ich Sie jetzt bitten, aus dem Weg zu gehen. Gehen Sie hinter den Tisch.« Shetter zog eine Waffe aus dem Hosenbund. Sie war so klein, dass sie aussah wie ein Spielzeug. Er hielt sie lässig an seiner Seite. Chel warf einen kurzen Blick zu der Gegensprechanlage neben der Tür. Es waren keine fünf Meter bis dorthin, aber sie musste an Shetters Leuten vorbei. Sie kamen langsam auf sie zu, den Einkaufswagen hinter sich her ziehend wie kleine Jungs ihren Schlitten. Chel rührte sich nicht vom Fleck. Keine zehn Pferde würden sie von der alten Handschrift wegbringen. Lieber würde sie sterben, als ihnen den Kodex zu überlassen. »Warum tun Sie das, Victor?«, fragte Stanton. »Was zum Teufel soll das?« Victor achtete nicht auf ihn. Er sah Chel an, und seine Worte waren ausschließlich an sie gerichtet: »Hör zu, Chel. Du kannst mit uns kommen. Wir gehen zurück in das Land deiner Väter. In deine wahre Heimat. Aber wir müssen das Buch haben. Flucht ist der einzige Weg, der uns noch bleibt, Chel.« Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie antwortete: »Nur über meine Leiche, Victor. Wenn du das Buch haben willst, musst du mich vorher umbringen.« Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab und sah deshalb nicht, wie Rolando lossprintete und durch den Raum zur Gegensprechanlage lief. Sie hörte nur den Schuss, der ihn aufhielt, bevor er bei der Tür war. Und die dumpfe Stille unmittelbar danach. Einen Sekundenbruchteil lang war Chel wie gelähmt. Dann rannte sie los. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie den Raum durchquert hatte. Niemand hielt sie auf. Sie fiel neben Rolando auf die Knie. Sie sah das Blut erst, als sie seinen Kopf in ihren Schoß gebettet hatte. Er hielt sich mit einer Hand den Bauch. Sein Hemd war bereits blutgetränkt. Chel legte ihre Hand auf seine. Shetter zielte immer noch in ihre Richtung. Obwohl die Hand, die die Waffe hielt, nicht zitterte, schien er selbst überrascht zu sein, dass er tatsächlich einen Schuss abgefeuert hatte. »Ich bin Arzt.« Stanton machte einen Schritt nach vorn. »Lassen Sie mich zu ihm!« »Bleiben Sie, wo Sie sind!«, befahl Shetter. »Nehmen Sie, was Sie wollen, und verschwinden Sie«, sagte Stanton. »Aber lassen Sie mich zu ihm.« Er machte einen kleinen Schritt und dann noch einen, und als Shetter ihn nicht aufhielt, lief er zu Rolando und Chel hinüber. Shetter hielt seine Waffe auf die drei gerichtet. Chel presste ihre Hand fest auf die Wunde am Bauch. Der Blutfluss war nicht zu stoppen. Sie redete leise und beruhigend auf Rolando ein, damit er bei Bewusstsein blieb. Victor stand stumm, wie versteinert hinter Shetter. »Los, ladet das Zeug ein!«, befahl Shetter seinen Männern. Sie brauchten nicht einmal eine Minute, um die alte Handschrift in den Glaskästen in den Einkaufswagen zu laden. Sie schoben den Wagen aus dem Labor, und Shetter folgte ihnen. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Kommst du, Hüter des Tages?« Er war sich Victors Antwort so sicher, dass er sie nicht abwartete, sondern weiterging. Victor rührte sich nicht. Er schaute benommen zu, wie Stanton eine Hand auf Rolandos Bauchwunde presste, während er mit der anderen eine Herzmassage ausführte. Chel hielt Rolandos Kopf mit ihren blutverschmierten Händen, strich ihm über die Haare, in denen jetzt auch Blut klebte, und versuchte krampfhaft, nicht auf die immer größer werdende Blutlache unter ihnen zu starren. »Chel …«, begann Victor. »Ich … ich wusste nicht, dass er eine Waffe hatte. Es tut mir leid. Ich –« »Das ist deine Schuld, Victor!«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Ganz allein deine Schuld. Raus hier! Verschwinde!« Er wandte sich zum Gehen. In der Tür hielt er kurz inne und sagte leise: »In lak’ech.« Dann war er fort. Kurz darauf sah Chel die Scheinwerferkegel eines Autos über die Fenster streichen, bevor es in die Nacht davonfuhr. Sie wusste, sie würde weder Victor noch die alte Handschrift jemals wiedersehen. Das wären die letzten Worte gewesen, die er zu ihr sagen würde. In lak’ech – ich bin du, und du bist ich. 30 Aschewolken von den Waldbränden in den Santa Monica Mountains lagen über der Schnellstraße. Drei F-15 im Formationsflug donnerten vorbei und hinterließen helle Kondensstreifen am dunkelgrauen Nachthimmel. Der Pacific Coast Highway glich einem heruntergekommenen Gebrauchtwagenhof: Hunderte Fahrzeuge standen kreuz und quer, sie waren von ihren Fahrern nach einem Unfall oder nachdem das Benzin ausgegangen war, einfach stehen gelassen worden. Es war fast kein Durchkommen. Zwei Stunden nachdem Victor Shetter und seine Männer am Sicherheitsdienst vorbei vom Gelände des Museums geschleust hatte, saß Chel auf dem Beifahrersitz neben Stanton und starrte schweigend aus dem Fenster. Ihre verzweifelten Bemühungen, Rolando zu retten, waren umsonst gewesen. Er hatte zu viel Blut verloren, und als Stanton seine Wiederbelebungsversuche aufgegeben hatte, waren auch er und Chel voller Blut gewesen. Fast zwanzig Minuten hatte Chel ihren toten Freund in den Armen gehalten, ihn sanft gewiegt und ein Gebet in Qu’iche gesprochen, damit er sicher im Jenseits ankäme. Sie und Stanton hatten bisher kein Wort über die Ereignisse verloren, aber sie wussten beide, was zu tun war. Stanton bog von der Schnellstraße ab in Richtung Santa Monica State Beach. Der Sandstrand war verlassen. Auf dem Parkplatz stand nur ein einziges Fahrzeug: Stanton hatte Davies angerufen und sich hier mit ihm verabredet. Er war überrascht, als ein zweiter Mann aus dem Auto seines Partners stieg. »Hey, Doc, was geht?«, sagte Monster. »Mann, ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht«, erwiderte Stanton. »Wo hast du denn gesteckt?« »Die Bullen haben uns aus der Show geworfen, und da haben die kleine Electric Lady und ich uns in dem Tunnel unter dem Santa Monica Pier verkrochen. Du glaubst ja gar nicht, wie praktisch es ist, wenn man eine Freundin hat, die ihr eigenes Licht erzeugen kann.« Falls Chel verblüfft war über diese Begegnung mit dem exotischsten Freak, den Venice zu bieten hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie schwieg. Sie war mit ihren Gedanken ganz offensichtlich woanders. »Wie habt ihr zwei euch denn gefunden?«, fragte Stanton und nickte zu Davies hin, als sie seinen Wagen auszuladen begannen. »Ich war bei dir zu Hause in Venice«, antwortete Monster. »Ich hab geklopft, und als niemand aufgemacht hat, bin ich rein. Mit den ganzen Mäusen überall sieht’s bei dir aus wie nach einem Experiment, das gründlich in die Hose gegangen ist, Bruder. Tja, und als du nicht zurückgekommen bist, hab ich mir gedacht, ich ruf bei dir im Labor an. Wollte nur mal hören, ob alles in Ordnung ist.« »Zum Glück bin ich rangegangen und nicht einer von Cavanaghs Laufburschen«, sagte Davies. »Sie lässt jeden unserer Handgriffe im Forschungszentrum überwachen. Ich hätte nicht mal einen Objektträger dort hinausschmuggeln können, geschweige denn ein Mikroskop.« Stanton sah Monster an. »Dann habt ihr das ganze Zeug aus meinem Haus geholt?« »Klar. Electra hat mir dabei geholfen. Sie ist noch dort und kümmert sich um die Mäuse.« »Ihr solltet dort bleiben, bis sich die Lage beruhigt hat.« »Die Frage ist, wann das sein wird. Aber danke für das Angebot, Doc.« Davies fand, dass es an der Zeit war, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Und ihr glaubt wirklich, ihr könnt diesen Ort ohne das Buch finden?«, fragte er. »Wir haben eine digitale Kopie, die Übersetzung und eine Landkarte«, erwiderte Chel, die bisher kein Wort gesagt hatte. »Ich würde dir ja sagen, du hast den Verstand verloren, aber ich schätze, das weißt du selbst«, sagte Davies zu seinem Partner. »Hast du eine bessere Idee?«, entgegnete Stanton. »Im Radio haben sie gebracht, dass in New York die Fünftausendermarke überschritten worden ist.« Sie luden die luftdichten Schutzanzüge, die Messgeräte, ein batteriebetriebenes Mikroskop und andere Gegenstände für ein mobiles Labor in Stantons Audi. Dann hievte Davies die letzte Tasche aus dem Kofferraum und sagte: »Dreiundzwanzigtausend in bar. Jeder im Labor hat zusammengekratzt, was er konnte. Und das da.« Er öffnete die Tasche noch ein Stück weiter. Ganz unten lag die Waffe aus Stantons Safe. »Ich danke euch«, sagte Stanton leise. »Für alles.« »Und wie willst du hier rauskommen, Doc?«, fragte Monster. »Die Grenzen sind mit zusätzlichen fünfzigtausend Mann verstärkt worden. Sie haben ihre Leute im Abstand von einer Meile postiert. Und ein Sportflugzeug oder einen Hubschrauber kriegst du jetzt nirgends mehr.« Stanton streifte Chel mit einem flüchtigen Blick und sah dann auf den Pazifik hinaus. *** Gleich südlich von Kanan Beach an der Küste von Malibu kam der Campus der Pepperdine University in Sicht. Stanton bog scharf nach links auf eine unbefestigte Straße ab und folgte ihr bis ganz ans Ende. Er stellte den Motor ab, und sie stiegen aus. Sie mussten ungefähr ein halbes Dutzend Mal die steinige Böschung hinunter- und wieder hinaufklettern, bis sie alles ausgeladen und an den Strand geschleppt hatten. Dann warteten sie. Dieser Küstenabschnitt zählte aufgrund seiner Untiefen und Klippen zu den gefährlichsten von Malibu, und nur wer bestens mit den geografischen Gegebenheiten vertraut war, konnte es wagen, bei Dunkelheit sein Boot hindurchzusteuern. Außerdem würde die Küstenwache nach wie vor auch diesen Abschnitt kontrollieren. Endlich sahen sie ein paar Hundert Meter weiter draußen auf See eine Taschenlampe aufblitzen. Wenige Minuten später näherte sich ein kleines Beiboot. Ninas Haare waren zerzaust, und ihre Haut war salzverkrustet. »Du hast es tatsächlich geschafft«, sagte Stanton, als sie ans Ufer sprang und das Boot an den Strand zog. Sie umarmten sich. »Dein Glück, dass ich mich mein ganzes Leben lang vor den Hafenmeistern versteckt habe«, sagte Nina. Selbst unter diesen Umständen kam es ihm merkwürdig vor, mit den beiden Frauen zusammen zu sein. »Chel, das ist Nina.« Er hatte Nina nur gesagt, er werde jemanden mitbringen, der mit der Gegend dort unten vertraut war und ihm als Führer im Dschungel dienen würde. Er hatte nicht erwähnt, dass dieser Jemand eine Frau war. Doch Chel und Nina schienen sich auf Anhieb sympathisch zu finden. »Danke, dass Sie das für uns tun«, sagte Chel. Nina lächelte. »Ich kann mir doch die Chance nicht entgehen lassen, dass mein Exmann mir einen Gefallen schuldet.« Sie luden die Ausrüstung in das Beiboot und fuhren zur Plan A hinaus, die etwa zweihundert Meter von der Küste entfernt vor Anker lag. Als sie das Fallreep hinaufkletterten und an Bord gingen, wurde Stanton von einem vertrauten heiseren Bellen begrüßt. Er bückte sich, drückte Dogma an sich und kraulte ihm das weiche, nasse Fell. Ihr Ziel war Ensenada in Mexiko, zweihundertvierzig Meilen weiter südlich. Nina hatte mit dem Kapitän eines größeren Schiffes gesprochen und vereinbart, dass er dort auf sie warten und die beiden Passagiere an Bord nehmen würde. Von dort würde es, vorbei an der Halbinsel Baja California, weiter Richtung Süden gehen, wo sie eher eine Chance hätten, ein Flugzeug nach Guatemala zu chartern. Die McGray erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von zweiundvierzig Knoten, was bedeutete, dass die Fahrt nach Ensenada inklusive Tankstopp etwa acht Stunden dauern würde. Als sie aus der Bucht hinausfuhren, auf die gewaltige nordpazifische Meeresströmung zu, suchte Stanton mit den Augen den Horizont nach Booten der Küstenwache ab. Bei der Herfahrt hatte Nina einen Umweg von mehreren Meilen gemacht, um den Patrouillenbooten auszuweichen, deren Route sie entschlüsselt hatte. Über Funk hörten sie ein paar andere, die in verschlüsselten Sätzen über ihre Fluchtpläne sprachen. Draußen auf offener See wechselten sich Nina und Stanton am Steuerrad ab, wobei Nina die schwierigeren Passagen übernahm. Chel war nach unten in die Kajüte gegangen und nicht wieder heraufgekommen. Stanton machte sich Sorgen um sie. *** Kurz vor Sonnenaufgang gerieten sie in einen Ausläufer des nordpazifischen Müllteppichs, und als sich Teile der Plastik- und sonstigen Abfälle an den Schiffsbug hefteten und am Ruderblatt hängen blieben, schlingerte das Boot heftig hin und her. Aber Nina, eine erfahrene Schiffsführerin, meisterte die Situation und steuerte sie mit Umsicht und Gelassenheit in ruhigere Gewässer. Stanton bewunderte ihr im Laufe vieler Jahre erworbenes Können. Obwohl sie unverkennbar ganz in ihrem Element war, musste es ein merkwürdiges Gefühl gewesen sein, diese letzte Woche ganz allein hier draußen auf See zu sein. Es war eine Sache, der Welt freiwillig den Rücken zu kehren, aber eine ganz andere, sich vorzustellen, dass es vielleicht keine Welt mehr gab, in die man zurückkehren konnte. »Alles in Ordnung?«, fragte Stanton, als sie den gewaltigen Wirbel hinter sich gelassen hatten. Nina, die Hände fest am Ruder, streifte ihn mit einem flüchtigen Blick. »Hab nur nachgedacht.« »Und worüber?« »Wir waren drei Jahre verheiratet«, sagte sie. »Das heißt, wir haben ungefähr tausend Nächte miteinander verbracht, minus den dreißig Prozent, die du im Labor geblieben bist. Und den ungefähr fünfzehn, die du auf der Couch geschlafen hast, weil du mich genervt hast.« »Ein Rundungsfehler, wenn du mich fragst.« »Und da habe ich mir überlegt«, fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwurf zu achten, »dass wir jede Nacht acht Stunden schlafen. Unter der Woche verbringen wir tagsüber nur ein paar Stunden zusammen, richtig? Das heißt, wir haben schlafend mehr Zeit miteinander verbracht als wach.« »Könnte stimmen.« Sie lauschten den sanften, rhythmischen Geräuschen des Meeres. Nina drehte das Ruder und änderte den Kurs ein klein wenig. Stanton sah ihr an, dass noch etwas anderes sie beschäftigte. »Was?« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Kajüte, wo Chel war. »Es ist schon komisch, wenn du jemand anderen so ansiehst«, flüsterte sie. »Was meinst du?« »Du weißt schon.« »Wir haben doch nicht mal ein Dutzend Worte miteinander gewechselt, seit wir hier sind.« »Ist auch nicht nötig«, erwiderte Nina trocken. »Ich kenne deinen Gesichtsausdruck, wenn du etwas willst, besser als irgendjemand sonst.« Stanton tat die Bemerkung mit einem Achselzucken ab. »Ich kenne sie ja kaum.« Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Chel an Deck kam, das erste Mal seit Stunden. Sie bewegte sich langsam und zog sich am Handlauf hoch. Die seltsame Unterhaltung, die Stanton und Nina geführt hatten, wirkte noch nach, und Chel glaubte eine leichte Veränderung im emotionalen Klima zu spüren. »Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Sie sollten was essen«, antwortete Nina ausweichend. »Ich hab Junkfood für mindestens ein Jahr da unten.« »Ja, das werde ich, danke.« Chel wandte sich Stanton zu. »Wir sollten uns die Karten und den Routenverlauf zusammen ansehen. Ich habe schon mal angefangen, die verschiedenen Wege vom Izabal-See aus zu berechnen und anhand der Informationen, die wir haben, die Orte zu bestimmen, wo die Stadt möglicherweise gestanden haben könnte.« Er nickte. »Ja, sicher. Ich komme sofort.« »Ich müsste vorher noch telefonieren. Darf ich das Satellitentelefon benutzen?« Stanton gab es ihr, und sie ging wieder nach unten. Nina flüsterte: »Die Frau hat gerade ihren Freund verloren, sie wurde von ihrem Mentor aufs Kreuz gelegt, und man hat ihr dieses alte Buch gestohlen. Wenn mir das alles passiert wäre, würde ich Jahre brauchen, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen könnte. Und was tut sie? Arbeitet einfach weiter! Ich kenne nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der das auch fertigbringen würde. Worauf wartest du also, verdammt noch mal? Kannst du nicht ein Mal deinen Verstand ausschalten?« *** Chel las vom Display des Telefons ab, dass es kurz nach acht Uhr morgens war an diesem 18. Dezember. Noch drei Tage bis zum Ende der Langen Zählung. Noch drei Tage, bis Victor und alle anderen begreifen würden, dass sie Rolando wegen eines Scheißkalenders getötet hatten. Chel würde sich bis an ihr Lebensende Vorwürfe machen, weil sie den Kontakt zu ihrem Mentor wiederaufgenommen und ihn von Neuem in ihr Leben gelassen hatte. Wie konnte er so etwas tun? Das würde ihr für immer ein Rätsel bleiben. Im Geist ging sie wieder und wieder jede Einzelheit durch, angefangen bei ihrem Besuch im Museum of Jurassic Technology bis zu jenem schrecklichen Moment in ihrem Labor und bis zu Victors Verschwinden. Was hatte sie übersehen? Hatte es irgendeinen Hinweis darauf gegeben, wozu er wirklich fähig war, und sie hatte es nicht erkannt? Sie wählte langsam die Nummer, die sie am besten kannte. Die Mobilfunknetze waren hoffnungslos überlastet, aber diese Verbindung kam schnell zustande. Nach dem dritten Läuten wurde abgenommen, und sie hörte die von atmosphärischen Störungen überlagerte Stimme ihrer Mutter. »Chel?« »Kannst du mich verstehen, Mom?« »Chel, wo bist du? Kannst du in die Kirche kommen?« »Geht es dir gut?«, fragte Chel. »Bist du in Sicherheit?« »Ja, alles in Ordnung, wir sind hier sicher. Aber mir wäre wohler, wenn du herkommen könntest.« »Hör zu, Mom, ich kann nicht lange reden. Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht mehr in Los Angeles bin.« »Wo willst du denn hin?« »Nach Kiaqix. Und von dort werden wir uns auf die Suche nach der versunkenen Stadt machen.« Ein kurzes Schweigen, dann sagte Ha’ana in resigniertem Ton: »Ich wollte nie, dass du das gleiche Risiko eingehst wie ich, Chel.« »Was willst du damit sagen, Mom? Mom?« Die Verbindung war unterbrochen. Chel wählte noch einmal, aber sie fuhren gerade unter einer Wolkenbank hindurch, und das Signal kam nicht zustande. Sie schaltete das Telefon aus, um die Batterie zu schonen. Im Grunde war ja auch alles gesagt. Ha’ana hatte wieder einmal auf das Risiko angespielt, das sie eingegangen war, um sich und ihre Tochter in Sicherheit zu bringen. Aber in Chels Augen hätte sie sehr viel mehr Mut bewiesen, wenn sie in Kiaqix geblieben wäre. Stanton kam herunter. Er sah Chel prüfend an. Er spürte, dass sie eine Ablenkung brauchte, daher fragte er: »Wollen Sie mir nicht erzählen, was uns in Kiaqix erwartet?« Sie lächelte leicht, als sie antwortete: »Bäume, so hoch, dass sie in den Himmel zu wachsen scheinen, mit rosaroten Blüten und grünem Moos, das aussieht wie Rauschgold. Mehr Tiere auf einer Quadratmeile als auf der exklusivsten Safari in Afrika. Ganz zu schweigen von dem süßesten Honig, den Sie je gegessen haben.« »Klingt, als wär’s das Paradies.« Zum ersten Mal wurde Chel von der Erkenntnis übermannt, dass sie tatsächlich in ihre Heimat zurückkehrte. Stanton fasste nach ihrer Hand, beugte sich langsam zu Chel hinunter und küsste sie leicht auf den Mund. Sie war überrascht, aber es machte sie glücklich. Seine Lippen schmeckten salzig. Wie die Meeresluft. Sie sah ihn unverwandt an. Aber als er sich von ihr löste, griff sie nach einer der bereitliegenden Karten, hielt sie hoch und meinte: »Wollen wir uns an die Arbeit machen?« *** Ensenada lag an einer Bucht, die Bahía de Todos Santos hieß; Plan A kam kurz vor zwölf Uhr mittags dort an. Nina steuerte auf einen zwölf Meter langen Hatteras-Fischerkahn zu, der fünf Meilen vor der Küste dümpelte. Sie konnten es nicht riskieren, näher ans Ufer zu fahren, hatte Stanton gewarnt, weil die mexikanischen Behörden garantiert nach amerikanischen Booten Ausschau hielten, deren Passagiere auf der Flucht vor der Epidemie waren. Nina fuhr längsseits an das Fischerboot heran. Dominguez, der Kapitän, war ein stämmiger Mann mit einem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht. Vor einigen Jahren hatte Nina einen Artikel für ein Magazin über ihn geschrieben, weil er an der Goldküste bekannt dafür war, dass er selbst in den am schwierigsten zu befahrenden Gebieten Makrelen fing. Er sprach nur ein paar Brocken Englisch, aber er hieß die Amerikaner mit einem angespannten Lächeln auf seinem Boot willkommen. Sie luden die Ausrüstung um und bezahlten die vereinbarten viertausend Dollar. Dann konnte es losgehen. »Vielen Dank noch mal«, rief Chel Nina von dem Fischerkahn aus zu. »Viel Glück!« Mit Tränen in den Augen nickte Nina zu Stanton hin. »Passen Sie gut auf ihn auf!« Stanton sprang noch einmal auf die Plan A hinüber. Eine kräftige Brise war aufgekommen. Er ging in die Hocke und strich Dogma ein paar Mal über den Kopf. Dann richtete er sich wieder auf und nahm Nina in die Arme. »Ich schätze, es ist reine Zeitverschwendung, wenn ich dir sage, du sollst keine Dummheiten machen, oder?«, flüsterte sie. »Tja, dafür ist es jetzt wohl ein bisschen zu spät. Ich hoffe, du weißt, wie sehr ich dich liebe.« Eine gute Minute lang hielten sie einander umschlungen. »Sieh zu, dass du deinen Arsch wieder heil nach Hause kriegst, okay?« *** Die Fahrt auf dem mexikanischen Abschnitt des Kalifornienstroms verlief ohne Zwischenfälle. Am darauffolgenden Morgen fuhren sie kurz nach Tagesanbruch um die Spitze von Baja California herum und hielten dann Kurs Richtung Osten. Da ihr Kapitän ein Einheimischer war, konnten sie die wenigen Kontrollen der Küstenwache nahe Cabo problemlos passieren. Schließlich steuerten sie den Hafen von Mazatlán an. Der Duft von frittiertem Teig wehte von den Karren der Straßenhändler herüber. Das Leben hier schien seinen gewohnten Gang zu gehen, und falls irgendjemand sich wegen VFI sorgte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Nachdem sie angelegt hatten, schmierte Dominguez einen Hafenmeister und sagte ihm, sie bräuchten einen Van oder einen Geländewagen. Eine halbe Stunde später hatten sie einen alten silberfarbenen Jeep für zweieinhalbtausend Dollar. Sie luden ihre Sachen vom Boot in den Wagen um und verabschiedeten sich von Dominguez. Am Flughafen von Mazatlán waren mit Maschinengewehren bewaffnete Wachen am Eingang postiert. Die Leute musterten Stanton und Chel misstrauisch. Anders als im Hafen waren einige Passagiere an diesem bedeutenden Verkehrsknotenpunkt sichtlich beunruhigt beim Anblick von Stantons Gringogesicht. Im Charterterminal wartete eine schlechte Nachricht auf sie: Sämtliche Chartermaschinen waren ausgebucht – wer es sich leisten konnte, versuchte möglichst viel Abstand zwischen sich und die Epidemie zu bringen. Hinzu kam, dass sie eine Maschine brauchten, die groß genug war, um den neu erworbenen Jeep an Bord zu nehmen. Nach einer halben Stunde vergeblicher Bemühungen belauschte Chel zufällig die Unterhaltung eines schmächtigen, zwergenhaft kleinen Maya Anfang, Mitte zwanzig. Er sprach Chor’ti, einen Maya-Dialekt, der im Süden Guatemalas und im Norden von Honduras gesprochen wurde. Chel beherrschte zwar die moderne Form dieser Regionalsprache nicht, aber diese war eng verwandt mit der Maya-Sprache des Altertums, und Chel glaubte zu verstehen, dass der Mann so etwas war wie ein Transportflugzeugpilot. Sie wandte sich an ihn. Er war so klein, dass sogar sie ihn überragte. »Binik ulew ojer taq qa chuch qa qajaw«, sagte sie. »Chi’j. Majok k’istajik najtir etajbal q’ij.« Wir möchten in das Land unserer Vorfahren, bitte, Sie müssen uns helfen. Bevor der Kalender zu Ende ist. Nicht einmal ein Dutzend Menschen weltweit – allesamt Gelehrte – konnten die Maya-Sprache des Altertums so fließend sprechen wie Chel. Der Pilot, der sich als Uranam vorstellte, hatte bis dahin vermutlich noch nie jemanden in dieser Sprache sprechen hören, einmal abgesehen von den paar Wörtern, die sein Hüter des Tages beherrschte. Aber er verstand sie. »Woher kennen Sie die alte Sprache?«, sagte er und starrte sie an, als wäre sie ein Geist. Da es nur noch zwei Tage bis zum 21. Dezember waren und ihnen die Zeit davonlief, fackelte Chel nicht lange. »Ich bin die Nachfahrin eines königlichen Schreibers«, sagte sie in herrischem Ton. »Er hat im Traum zu mir gesprochen und mir gesagt, dass, wenn wir Petén nicht rechtzeitig erreichen, die vierten Menschen von der Erde ausgelöscht werden.« Einige Telefonate später hatte ihr neuer Freund in Guadalajara eine ausgemusterte Maschine der U.S. Navy aufgetrieben, die sie nach Süden bringen würde. Zwei Tage nachdem sie L.A. verlassen hatten, näherten sie sich dem Ziel ihrer Reise – dem Dschungel. 12.19.19.17.18 – 19. DEZEMBER 2012 31 Das Hochland der Maya wird von Norden nach Süden von einem Gürtel von Vulkanen durchzogen, die seit Jahrmillionen aktiv sind. Die frühen Hochlandbewohner verehrten die Vulkane als Gottheiten, aber nach vielen heftigen Ausbrüchen, die mit einem Schlag einen ganzen Stamm auslöschen konnten, zogen die Maya weiter nach Süden in das »Land der Bäume« oder, wie sie es in Qu’iche nannten, Guatemala. Die C-2 Greyhound flog in einer Höhe von weniger als sechshundert Metern. Vier Stunden nach dem Start blickten Stanton und Chel auf das dichte grüne Blätterdach, das dem Land seinen Namen gab. Uranam, ihr Pilot, orientierte sich mithilfe eines Radarsystems, denn sehen konnte man nach allen Seiten hin nichts als bewaldete Hügel. Während sie über dem Gebiet kreisten, verdunkelten sich die Farben unter ihnen nach und nach, und Chel fürchtete schon, dass sie Kiaqix vor Einbruch der Dunkelheit vielleicht nicht finden würden. Falls sie mit ihrer Annahme richtig lagen, musste Kanuataba sechzig bis hundert Meilen von ihrem Dorf entfernt liegen, und zwar in einer Position von 230 bis 235 Grad in südwestlicher Richtung. Volcy war zu Fuß drei Tage unterwegs gewesen, was bedeutete, das fragliche Gebiet konnte nicht größer als etwa dreihundert Quadratmeilen sein. Sie würden jeden Zentimeter durchkämmen. Aber zuerst mussten sie Kiaqix finden. »Bekommen wir auch Aras zu sehen?« Stanton musste schreien, um das Dröhnen des Flugzeugs zu übertönen. »Um diese Jahreszeit nicht«, antwortete Chel und rückte ihren Augenschutz zurecht. »Das Dorf liegt zwar auf ihrem Zugweg, und im Herbst kommen sie zu Tausenden, aber jetzt sind sie schon weitergezogen.« Sie suchte mit den Augen den Regenwald nach der zypressenbewachsenen Anhöhe ab, in deren Nähe sich die Landepiste des Dorfes befand. »Festhalten!«, brüllte Uranam. Bei jedem Übergang von den Bergen zu den Tälern und wieder hinauf bockte das Flugzeug, und als jetzt die Backbordtragfläche zusätzlich von einer Strömung erfasst und nach oben gedrückt worden war, ging ein kräftiges Rütteln durch die Maschine. Eine Minute lang fühlte es sich so an, als ob das Flugzeug gleich in zwei Teile gerissen würde. Dann hatte Uranam die Maschine abgefangen. Chel blickte wieder nach unten. Undurchdringliche Waldgebiete wechselten sich ab mit gerodeten Flächen, auf denen Ackerbau und Viehzucht betrieben wurde – der Appetit der Nordamerikaner auf Mais und Rindfleisch hatte seine verheerenden Spuren hinterlassen. Eine Minute später sah sie endlich den gewaltigen zypressenbestandenen Höhenzug, der das Tal begrenzte, in dem fünfzig Generationen ihrer Familie gelebt, gebetet, ihre Kinder großgezogen hatten. Sie stieß Stanton an und zeigte auf das Tal, für das ihr Vater sein Leben geopfert hatte: Beya Kiaqix. »Da drüben.« Die Regenzeit war zwar ein Segen für die Vegetation, aber der Sturm hatte ein halbes Dutzend Mahagonibäume und Zedern und viele große Äste auf die Landepiste geweht. Die letzten Lichtstreifen zogen sich aus dem Wald zurück, was die Landung noch schwieriger machte. Es hatte den Anschein, als wäre seit Monaten kein Flugzeug mehr hier gelandet. Als Chel das letzte Mal nach Kiaqix gekommen war, hatten sich Hunderte Dorfbewohner eingefunden, um Alvar Manus Tochter, der großen Gelehrten, zuzujubeln. Ein Dutzend Kinder mit runden Gesichtern hatten sie mit Kerzen und Räuchergefäßen empfangen. Aber an diesem Tag war niemand da, der sie erwartete; niemand wusste, dass sie kamen. Die Maschine rollte über die Piste und kam zum Stehen. Uranam sprang hinaus und riss die Türen zum Frachtraum auf. Augenblicklich strömte die feuchte, stickige Hitze des Dschungels herein. Sie luden ihre Schutzanzüge, die Zelte, Prionenproben, Metallkäfige, Reagenzgläser und Glaskolben in den Jeep. Als die Laderampe am Heck sich hinuntergesenkt hatte, fuhr Stanton den Wagen in den Morast hinaus. Endlich waren sie so weit, dass sie aufbrechen konnten. Bis nach Kiaqix waren es noch fünf Meilen. »Sie warten auf uns, nicht wahr?«, sagte sie zu Uranam. »Wir sind in vierundzwanzig Stunden zurück.« Angst spiegelte sich auf dem Gesicht des Piloten. »Nein«, stammelte er und wich zum Flugzeug zurück. »Nein, hier bleibe ich nicht.« »Es war vereinbart, dass er hier auf uns wartet«, sagte Stanton stirnrunzelnd, nachdem Chel für ihn übersetzt hatte. »Er kann nicht einfach abhauen.« »Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.« Uranam schüttelte langsam den Kopf. »Und ich will es auch gar nicht wissen.« Er zeigte auf einen Punkt über den Baumwipfeln. Als Chel sich umdrehte, sah sie eine dicke Rauchfahne himmelwärts wabern. Es sah fast so aus, als ob sich irgendwo ganz tief im Dschungel eine Fabrik befände. »Das sind nur Bauern, die Land brandroden, damit sie es nächstes Jahr bestellen können«, sagte sie erst zu Uranam, dann zu Stanton. »Das ist alles.« Uranam schien keineswegs überzeugt. Entschlossen kletterte er zurück ins Cockpit. »Nein. Das ist etwas anderes«, sagte er, den Blick auf die Rauchfahne geheftet. »Das ist ein Zeichen der Götter.« Es dauerte keine Minute, bis er die Maschine startklar gemacht und die Motoren angeworfen hatte. Als das Flugzeug in der Dunkelheit verschwunden war, versuchte Stanton, Chel zu beruhigen. Sie würden schon einen Weg finden, von hier wegzukommen, tröstete er sie. Aber Chel wusste, dass es unmöglich war, so schnell ein anderes Flugzeug aufzutreiben, das sie hier abholen würde, und falls das Wetter umschlug, würden sie womöglich einige Wochen hier festsitzen. Sie drehte sich um und starrte auf die Rauchsäule über den Bäumen. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Auch wenn der Pilot vielleicht sehr abergläubisch war, in einem Punkt musste sie ihm recht geben: Der Rauch kam nicht von einer Brandrodung – kein Bauer würde so spät in der Regenzeit seine Felder abbrennen. Und so fuhren sie los, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie sie wieder von hier wegkommen sollten. Der Jeep war vollgetankt, aber Chel wusste, dass es bis zur nächsten Esso-Tankstelle mindestens hundert Meilen waren. Und in diesem Teil von Petén waren Straßen oft bloß Linien auf der Landkarte, weil sie durch Schlamm- oder Gerölllawinen einen Großteil des Jahres unpassierbar waren. Doch zunächst einmal hatten sie vor, in Kiaqix zu übernachten und am anderen Morgen in aller Frühe aufzubrechen, vom Izabal-See aus in den Dschungel – auf den Spuren der Stadtgründer, nur in der entgegengesetzten Richtung. Die Piste war so stark ausgefahren, dass Stanton praktisch nur im ersten Gang fahren konnte. Es hatte leicht zu regnen angefangen. Obwohl das Land zu beiden Seiten gerodet war, waren die Geräusche des Dschungels nie weit weg: Man konnte die schrillen Rufe der Tukane mit ihren gewaltigen Schnäbeln hören und gelegentlich Affen, deren Schreie dem Geheul von Wölfen ähnelten. Stanton versuchte, trotz der Dunkelheit die Vegetation ringsum in Augenschein zu nehmen, auf der Suche nach irgendeiner Pflanze, die den König und dessen Getreue gegen die Krankheit immun gemacht haben könnte. Er hatte sich unterwegs mit der Flora im tropischen Regenwald vertraut gemacht und erkannte im Scheinwerferlicht einige Bäume und Pflanzen an ihrer Form: Spanische Zedern mit ihren paarig gefiederten Blättchen, die aussahen wie ausgestreckte Arme, oder die Ranken der Vanille, die an den kleinen dünnen Stämmen der Kopalbäume hinaufkletterten. »Wo sollen wir über Nacht bleiben?«, fragte Stanton und wischte sich den Schweiß, der ihm in die Augen lief, von der Stirn. Er war noch nie so weit in den Süden gereist, und er konnte nicht fassen, wie unerträglich heiß es war. Als er aus dem Flugzeug gestiegen war, hatte er das Gefühl gehabt, gegen eine Wand zu laufen. Die Hitze war nichts Neues für Chel, aber die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass es sogar ihr so vorkam, als würde sie die Welt unter Wasser sehen. »Vielleicht beim Cousin meiner Mutter, Doromi. Oder bei einer Schwester meines Vaters. Jeder wird uns bei sich aufnehmen. Sie kennen mich alle.« Keiner von beiden sprach darüber, dass sie keine Ahnung hatten, was sie tatsächlich in Kiaqix erwarten würde. Trotz dieser leisen Furcht war Chel aufgeregt, so wie jedes Mal, wenn sie in ihr Heimatdorf zurückkehrte. In ihrer Erinnerung war Kiaqix so lebendig wie die Straßen von L.A.: die langen, erhöhten Wege, der Markt mit seinen vielen Gerüchen, die Reihen von Häusern aus Stroh, Holz und Beton, so wie jenes, in dem sie zur Welt gekommen war, und die modernen Steinbauten aus jüngster Zeit wie die Kirche mit ihren Buntglasfenstern, die geräumige Mehrzweckhalle, die Schule mit mehreren Klassenzimmern. Sie würden zuerst in das kleine Krankenhaus an der Hauptstraße gehen, für dessen Bau Chel Spenden gesammelt hatte. Das Krankenhaus mit zwanzig Betten war vor zehn Jahren am Ortsrand errichtet worden. Ein Arzt kam ein Mal im Monat, um Antibiotika zu verteilen und Impfungen durchzuführen. Ansonsten wurde es von den alten Frauen des Dorfes und von einem Schamanen geleitet, die traditionelle Heilmittel ausgaben. Die Straße führte durch einen kleinen Wald von Mahagonibäumen. Zwischen den Stämmen konnte man kümmerliche Maisstängel erkennen. In Petén hatte eine furchtbare Trockenheit geherrscht. Um auch das kleinste Fleckchen fruchtbaren Boden zu nutzen, hatten die Bauern dort, wo sie die Baumstümpfe nicht hatten ausgraben können, um die Stämme herum gepflanzt. Dann kam das Krankenhaus in Sicht. Die Dorfbewohner nannten es ja akjun, was in Qu’iche »das Haus des Doktors«, bedeutete. Stanton fand, es ähnelte eher einer Kirche aus dem Mittelmeerraum als einem Krankenhaus. Holzsäulen stützten ein weißes Dach, und eine Wendeltreppe führte außen in den zweiten Stock hinauf – eine architektonische Spielerei, die man sich nur in einer Gegend erlauben konnte, wo es niemals kalt wurde. Stanton hielt vor dem Gebäude. Bei ihrem letztem Besuch hier war Chel sofort von Krankenschwestern umringt worden, die darauf brannten, ihr zu zeigen, wie sie moderne und traditionelle Heilkunde vereinten, um Verletzungen durch Macheten zu behandeln, bei schwierigen Geburten zu helfen und die unzähligen Krankheiten und Schmerzen zu kurieren, die zum Leben in Kiaqix gehörten. Jetzt war kein Mensch zu sehen. Die rote Eingangstür stand offen, und die einzigen Geräusche, die zu hören waren, waren die des Dschungels, der sich der Nacht übergab: das Raunen der Bäume im Wind und die unheimlichen Schreie der Klammeraffen. »Bist du so weit?«, fragte Stanton. Chel nickte. Er drückte zärtlich ihre Hand, dann stiegen sie aus. Stanton ging nach hinten, öffnete die Heckklappe, nahm zwei Taschenlampen aus einer Reisetasche und seine Smith & Wesson und steckte sie ganz lässig in den Hosenbund. Er gab Chel einen neuen Augenschutz und wechselte auch seinen eigenen aus. Dann gingen sie zum Eingang des Krankenhauses. Irgendetwas stimmte hier nicht. Drinnen war es stockdunkel. Stanton schwenkte den Strahl seiner Taschenlampe durch den Raum. Vorhänge trennten die einzelnen Abteile, in denen die Patienten untersucht wurden, voneinander ab. Die Holzstühle in dem, was offenbar das Wartezimmer gewesen war, waren zertrümmert worden. Es herrschte eine gespenstische Stille. Kein Anzeichen von Leben, und es schien so, als hätte es hier schon sehr lange keines mehr gegeben. »Nu Bi’ Chel«, rief Chel, als sie in den dunklen Raum traten. Ihre Stimme hallte von den Wänden wider. »Mial Alvar Manu.« Ich bin Chel, die Tochter von Alvar Manu. Keine Antwort. Sie gingen langsam weiter, bogen um eine Ecke. Der Strahl der Taschenlampen erfasste Papierblätter, die über den ganzen Fußboden verteilt waren. Dann Stühle, die umgeworfen worden waren und in Pfützen von verschüttetem Antiseptikum lagen. Zwischen den Scherben eines zerbrochenen Keramikgefäßes lagen durchtränkte Wattebäusche und lange Wattestäbchen. Fliegen so groß wie ein Vierteldollar surrten herum. Es stank nach Ammoniak und vermutlich auch nach Exkrementen. Stanton griff in seine Hosentasche und zog zwei Paar Latexhandschuhe heraus. »Nichts mit bloßen Händen anfassen!«, warnte er Chel und gab ihr das eine Paar Handschuhe. Während sie ihre schwitzenden Hände mühsam in die Handschuhe zwängte, rief sie noch einmal laut in Qu’iche, dass sie die Tochter von Alvar Manu sei und dass sie gekommen war, um zu helfen. Ihre Stimme hörte sich dünn an in ihren Ohren, aber sie hallte laut in dem leeren Zimmer. Sie gingen weiter durch das Gebäude. Chels Unruhe wuchs mit jedem Schritt. Die Räume waren nicht einfach verlassen worden – man hatte sie verwüstet. Betten waren umgekippt, die Matratzen aufgeschlitzt und die Polsterung herausgerissen worden. Überall lagen Glasscherben. Stanton öffnete Schränke und zog Schubladen auf. Alles war durchwühlt worden. Es gab fast keine medizinischen Hilfsmittel mehr. Am Ende des Flurs stieß Chel die Tür zu der kleinen Kapelle auf. Sie schwenkte den Strahl ihrer Maglite über den Altarbereich und sah, dass das große Holzkreuz über dem Predigtpult abgenommen und zerschmettert worden war. Das wunderschöne Buntglasfenster war eingeworfen worden, der Boden war voller Glassplitter. Aus Bibeln und aus Kopien des Popol Vuh herausgerissene Seiten lagen im Mittelgang und auf den Kirchenbänken. Dann fiel ihr Blick auf ein vertrautes Zeichen, und ihre letzte Hoffnung schwand: Sie hörte, wie Stanton hinter ihr die Kapelle betrat. »Jetzt glauben es sogar die indı´genas«, flüsterte sie. »Vielleicht stimmt es ja doch.« Er sagte nichts, aber sie spürte, wie er ihre Schulter drückte. Als sie den Arm hob und ihre Hand auf seine legte, merkte sie, dass die Hand auf ihrer Schulter keinen Handschuh trug. Sie fuhr herum. »Wer sind Sie?« Der Fremde antwortete nicht. Er war groß. Er trug ein Kapuzensweatshirt mit einem rostfarbenen Fleck auf der Vorderseite. Er war kein Maya. »Qué está haciendo aquí?«, fragte sie auf Spanisch. Sie hatte keine Ahnung, woher dieser ladino kam oder was er hier wollte. Sie dachte an die Warnung ihrer Mutter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie langsam zurückwich. »Estoy aquí con un médico. Gabe! Gabe!« Sie schrie, so laut sie konnte, aber ihre Stimme war nur ein Flüstern. Sie bekam keine Luft mehr. Der ladino stürzte sich auf sie und warf sie zu Boden. Er riss ihr den Augenschutz herunter und hielt ihr mit einer Hand den Mund zu. Chel wehrte sich verzweifelt. Sie versuchte zu schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Sie schlug nach seinem Gesicht, doch er begrub sie förmlich unter sich mit seiner massigen Gestalt und drückte ihr mit der anderen Hand den Hals zu. Sie wusste, was er möglicherweise an den Händen hatte, daher kniff sie die Augen zusammen, so fest sie konnte. Es würde nur nichts mehr nützen: Sie wäre tot, bevor sie krank werden konnte. Ich bin Chel Manu, Tochter von Alvar Manu. Töte mich, wie du meinen Vater getötet hast. Das war ihr letzter Gedanke, bevor der Schuss fiel. 32 Stantons Hände zitterten, als er den Schlüssel ins Zündschloss steckte und den Motor anließ. Er hatte einen Mann getötet. Die Waffe, die er dazu benutzt hatte, lag griffbereit auf seinem Schoß. Da draußen in der Dunkelheit musste es noch mehr Infizierte geben, trotzdem schien es ihm sicherer zu sein, diesen Ort zu verlassen. Chel saß benommen und in sich zusammengesunken auf dem Beifahrersitz. Sie würden erst in ein paar Stunden wissen, ob der Mann sie infiziert hatte, bevor Stanton ihn erschossen hatte. Nicht einmal mit dem Schnelltest war ein rascheres Ergebnis möglich. Die Scheinwerferkegel erfassten winzige Moskitoschwärme, als sie die Straße hinunter in das eigentliche Dorf fuhren. Stanton hatte das Fernlicht eingeschaltet, und jetzt sah er, woher die schwarze Rauchsäule gekommen war, die sie von der Landepiste aus gesehen hatten. Ein Gebäude, etwa so groß wie das Krankenhaus, war niedergebrannt. Wände und Dach waren eingestürzt, der Kalkstein durch die Hitze geborsten. Ein Haufen rauchende Trümmer. »Das ist die Schule«, murmelte Chel tonlos. Sie fuhren weiter. Auf beiden Seiten der Straße tauchten Hütten auf, oder besser gesagt, das, was davon übrig geblieben war. Alle paar Hundert Meter standen vier bis sechs solcher Hütten, kleine Häuschen ohne Fenster, mit nur einem einzigen Raum und mit einer einzigen Tür. Die lehmverputzten Holzwände waren eingerissen worden, die Palmwedel, mit denen die Dächer gedeckt waren, heruntergerissen. Mitten auf der Straße lagen Dutzende Hängematten; es sah aus, als wären sie aus einem der Häuser geschleift und dann einfach hier liegen gelassen worden. Achtlos zur Seite geworfene Stoffe in Rot und Gelb und Grün und Lila waren halb von Morast bedeckt, und die Räder des Jeeps rollten ruckelnd über diesen Friedhof der Farben. Stanton wäre am liebsten aus dem Dorf hinausgefahren, um irgendwo auf freiem Feld zu übernachten. Sie durften nicht Gefahr laufen, noch einmal angegriffen zu werden. Andererseits würde der Jeep dann vielleicht mehr Aufmerksamkeit erregen, als wenn sie ihn irgendwo versteckten und für die Nacht in einer der verlassenen Hütten Unterschlupf suchten. Er fuhr langsam an einem Haus vorbei, das noch unbeschädigt zu sein schien. »Weißt du, wer dort wohnt?«, fragte er und zeigte darauf. Chel antwortete nicht. Sie wirkte völlig abwesend. Stanton stellte den Jeep kurzerhand ab, stieg aus, öffnete die Beifahrertür und führte Chel zu dem Haus. In der freien Hand hielt er die Smith & Wesson. Er klopfte. Als niemand antwortete, stieß er die Tür mit dem Fuß auf. Das Erste, das der Strahl seiner Taschenlampe erfasste, waren zwei Leichen in einer Hängematte. Eine junge Frau und ein Kleinkind. Sie mussten seit mindestens einer Woche tot sein. Stanton drehte sich um und versuchte, Chel den Blick auf die Leichen zu versperren, aber es war zu spät. Sie stand hinter ihm in der Tür und starrte die Frau und das Kind an. »Wir müssen sie begraben«, sagte sie mit einer Stimme, die ihm völlig fremd war. »Ich brauche Weihrauch.« Sie war offenbar nicht bei klarem Verstand. »Das geht nicht. Wir müssen hier weg.« Er packte sie an der Hand und zog sie hinter sich her zur nächsten Hütte. Drinnen fanden sie keine Leichen, nur auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke, eine kaputte Hacke und einige Keramikschüsseln. Stanton kickte mit dem Fuß alles zur Tür hinaus. »Glaubst du, hier sind wir sicher?«, brachte Chel hervor. Er wusste es nicht, aber etwas Besseres würden sie vermutlich nicht finden. »Nimm deinen Augenschutz auf keinen Fall ab«, schärfte er ihr ein. Erschöpft ließen sie sich auf die festgestampfte Erde fallen, wo sie sich, mit dem Rücken an einer Wand, eng aneinanderschmiegten. Stanton kramte einige Müsliriegel aus seinem Rucksack und zwang Chel, wenigstens ein paar Bissen zu essen. Schließlich knipste er die Taschenlampe aus. Er hoffte, Chel würde ein bisschen schlafen können. Er selbst würde versuchen, wach zu bleiben. »Weißt du, warum wir Weihrauch für die Toten verbrennen?«, fragte sie leise. »Nein. Warum?« »Ohne den Rauch kann die Seele eines Toten nicht in die Unterwelt gelangen. Wir alle hier sind in einer Zwischenwelt gefangen.« Chel hatte ihm in den letzten Tagen eine ganze Menge über die Sitten und Bräuche ihres Volkes erzählt, aber nicht mit diesem schwermütigen, bedrückten Unterton. Stanton hätte sie gern getröstet, aber er wusste nicht, wie. Nur Gläubige fanden in Momenten wie diesen die richtigen Worte. Und so wandte er sich lieber den Dingen zu, mit denen er sich auskannte. Er war immer noch überzeugt, dass irgendeine Substanz den König und dessen Gefolge vor VFI geschützt hatte, bevor es in Kanuataba zum Ausbruch der Krankheit gekommen war. Morgen würden sie diese Substanz finden. »Wir haben eine Landkarte und die Koordinaten für den Izabal-See, und sobald es draußen hell wird, brechen wir auf.« Chel antwortete nicht. Sie bettete ihren Kopf in seine Armbeuge, und Stanton spürte, wie sie sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn lehnte und wie ihre Haut seine berührte. »Vielleicht hat Victor recht gehabt«, flüsterte sie. »Vielleicht ist Flucht der einzige Ausweg, der uns noch bleibt.« *** Stanton fuhr aus dem Schlaf hoch. Auf der anderen Seite der Mauer stapfte etwas über das nasse Laub. Chel kauerte bereits an der hinteren Wand und lauschte angestrengt. Man konnte ein schrilles, quiekendes Geräusch hören. Stanton griff nach seiner Waffe. Dann hörte Chel noch etwas anderes, eine Stimme, die in Qu’iche sagte: »Vertreib die bösen Winde, Hunab Ku!« »Was ist da draußen los?«, fragte Stanton leise. Chel bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Mein Name ist Chel Manu«, rief sie in Qu’iche. »Ich bin aus Kiaqix. Mein Vater war Alvar. Ich bin mit einem Doktor hier. Er kann dir helfen, wenn du krank bist.« Eine sehr kleine alte Frau mit hüftlangen Haaren erschien im Türrahmen. Sie trug eine Brille mit dicken Gläsern auf der breiten Nase. Stanton ließ die Waffe sinken. In der Ferne donnerte es. Die Frau kam langsam und mit schwankenden Schritten näher. »Sind böse Winde in diesem Haus?«, fragte sie auf Qu’iche. »Wir sind nicht krank. Wir sind hier, um herauszufinden, was die Krankheit ausgelöst hat. Ich bin Chel Manu, die Tochter von Alvar. Bist du krank?« »Seid ihr über den Himmel gekommen?«, fragte die Greisin. Chel nickte. »Ja. Ist deine Familie krank?« »Ich bin nicht verflucht.« Chel streifte Stanton mit einem flüchtigen Blick. Er zeigte auf seine Augen. Die Brille. Die Brille hatte sie wahrscheinlich vor Ansteckung geschützt, so wie ihn und Chel eine Woche zuvor in L.A. »Wann seid ihr gekommen?« Sie seien etwa fünf Stunden zuvor in Kiaqix angekommen, erwiderte Chel. »Frag sie, ob es im Dorf noch andere Überlebende gibt«, sagte Stanton. »Fünfzehn oder zwanzig«, antwortete die Frau, als Chel übersetzt hatte. »Die meisten sind in den Häusern am Rand des Dorfes. Ein paar verstecken sich im Dschungel und warten darauf, dass die bösen Winde weiterziehen. Hurakan, der Gott der Stürme, wird uns retten.« »Wann hat es angefangen?«, fragte Chel. »Vor zwanzig Sonnen. Bist du wirklich Chel Manu?« »Ja.« »Wie ist der Name deiner Mutter?« »Meine Mutter ist Ha’ana. Kennst du sie?« »Natürlich«, antwortete die alte Frau. »Ich bin Yanala. Du und ich, wir haben uns vor vielen Jahren kennengelernt.« »Yanala Nenam? Die Tochter von Muram, dem großen Weber?« »Das bin ich«, bestätigte die alte Frau. Chel zögerte. »Ist von meiner Familie noch jemand am Leben?«, fragte sie besorgt. »Eine von deinen Tanten ist unter den Überlebenden. Initia die Ältere. Sie wäre vielleicht selber hergekommen, aber das Gehen fällt ihr schwer. Kommt!« Yanala winkte ihnen, ihr zu folgen. *** Die alte Frau führte Chel und Stanton durch Seitenstraßen und über Felder. Als sie auf eine Lichtung kamen und auf eine kleine Anhöhe mit ein paar Häusern zugingen, wurde Chel durchzuckt von der einzigen Kindheitserinnerung an diesen Ort: Sie sah sich als kleines Mädchen auf den Schultern ihres Vaters, der den erhöhten Weg entlangging. Aber jetzt waren keine jungen Mädchen da, die Eimer voll Maismehl trugen, jetzt drang keine Musik aus den Häusern. Über allem lag eine gespenstische Stille. Yanala führte sie zu einem kleinen, aus Holzbalken errichteten Haus, dessen dickes Strohdach noch unversehrt war. Sie traten nacheinander ein. Der Raum war vollgestopft mit alten Holzmöbeln und mit Hängematten; eine Wäscheleine war von einer Wand zur anderen gespannt. Über einer Feuerstelle aus großen Steinen wurden Tortillas gebacken, und der Duft von Mais hing in der Luft. Yanala ging in den hinteren Teil der Hütte. Kurz darauf öffnete sich die Hintertür, und eine noch ältere Frau kam herein. Sie hatte ihre langen silbergrauen Haare zu einem Zopf geflochten, den sie kranzförmig am Kopf festgesteckt hatte. Sie trug eine huipil in Lila und Grün, die mit einem Dutzend bunter Perlenschnüre geschmückt war. Chel erkannte Initia sofort. Die Frau stützte sich an den Möbeln ab, als sie langsam auf die Besucher zuging. »Chel?« »Ja, Tante«, antwortete sie auf Qu’iche. »Ich habe einen Doktor aus Amerika mitgebracht.« Initia trat ins Licht. Jetzt erst konnte man sehen, dass die Iris in beiden Augen mit einem trüben, milchigen Film überzogen war. Grauer Star, dachte Chel. Das hatte ihr vermutlich das Leben gerettet. »Ich kann nicht glauben, dass du wirklich hier bist, Kind.« »Geht es dir gut, Tante?«, fragte Chel, als sie sich umarmten. »Bist du nicht krank? Kannst du schlafen?« »Soweit man in meinem Alter noch schlafen kann«, antwortete Initia. Sie bat Chel und Stanton mit einer Handbewegung, an einem kleinen Holztisch Platz zu nehmen. »Du bist so lange nicht mehr hier gewesen, und ausgerechnet jetzt kommst du zurück. Wie ist das möglich?« Chel erzählte ihr von den Ereignissen in L.A., und Initia hörte ungläubig zu. Dann sagte sie: »Du bist durch das Dorf gegangen, du hast gesehen, was die bösen Winde auch hier angerichtet haben.« »Frag sie, wer als Erster krank geworden ist«, warf Stanton ein. »Malcin Hanoma«, antwortete die Greisin. »Wer ist das?«, fragte Chel. »Volcy hatte keine leiblichen Brüder, deshalb hat er zusammen mit Malcin Hanoma, dem Sohn von Malam und Chela, das Land bestellt und bepflanzt. Sie sind auch zusammen weggegangen, um nach den Schätzen aus der versunkenen Stadt zu suchen. Volcy ist nie zurückgekommen, Malcin schon. Er war verletzt, und er brachte den Fluch über uns, den Zorn unserer Vorfahren.« »Wie schnell hat es sich ausgebreitet?« »Malcins Familie war als Erste betroffen. Ihre Kinder konnten nicht mehr schlafen; keiner von denen, die mit ihm unter einem Dach wohnten, konnte mehr schlafen. Das war die Strafe der Götter, und innerhalb von wenigen Tagen haben die bösen Winde immer schneller und schneller um sich gegriffen.« Chel schloss die Augen, als sie sich die Katastrophe vorzustellen versuchte, die über das Dorf hereingebrochen war. Wie lange hatte es gedauert, bis die Menschen aufeinander losgingen? Bis sie durchdrehten? Und die Kirche verwüsteten, die Schule niederbrannten, das Krankenhaus plünderten? »So viele schreckliche Dinge sind hier passiert, Tante«, flüsterte sie betroffen. Initia erhob sich mühsam und winkte den beiden, ihr zu folgen. Sie schlurfte zur Hintertür. »Nicht nur schreckliche.« Gleich hinter dem Haus stand eine Hütte, deren Eingang ganz mit Palmwedeln zugedeckt war. Sie schoben sie auseinander, und Initia schlüpfte als Erste hinein. »Lasst die Winde nicht herein«, rief sie Chel über die Schulter zu. Eingepackt in bunte Tücher, die von der Decke hingen wie Hängematten, lagen mindestens ein Dutzend Babys. Einige weinten leise, andere lagen ganz still da, mit offenen Augen, manche schliefen friedlich. Yanala kümmerte sich um mehrere Kinder gleichzeitig. Initia half ihr: Sie liebkoste ein kleines Mädchen, das unentwegt weinte, während sie ein anderes mit dünnem Maisbrei fütterte. Dann drückte sie Stanton einen kleinen Jungen in den Arm und Chel ein Mädchen. Es war noch sehr klein und hatte flaumige Haarbüschel auf dem Kopf, eine breite Nase und dunkelbraune Augen, die hin und her huschten, sich dabei aber nie auf Chel richteten. »Ein Säugling braucht die Nähe seiner Mutter, er muss neben ihr in der Hängematte schlafen und an ihrer Brust trinken, wenn er Hunger hat«, sagte Initia. »Aber diese Kinder hier haben ihre Mütter verloren und mit ihnen alles, was sie so dringend brauchen.« »Wo hast du sie gefunden, Tante?« »Ich wusste, in welchem Haus erst vor Kurzem ein Kind geboren worden ist, weil alle zusammenkommen, um die Ankunft eines neuen Lebens zu feiern. Also haben Yanala und ich uns auf die Suche nach Überlebenden gemacht. Ein paar Kinder waren unter Palmwedeln versteckt gewesen, andere lagen einfach so da.« Chel sah Stanton an. »Wie lange werden sie immun sein?« »Ungefähr sechs Monate«, antwortete er und wiegte den kleinen Jungen auf dem Arm. »Bis die Sehnerven vollständig ausgebildet sind.« »Das ist Sama«, sagte Yanala und deutete mit dem Kinn auf das kleine Mädchen auf Chels Arm. Der Name kam ihr bekannt vor. »Sama?« »Die Tochter von Volcy und Janotha.« Fassungslos schaute Chel das Kind an, dessen geöffnete Augen nass waren. »Das ist ihre Tochter? Volcys Tochter?« Yanala nickte. »Sie hat als Einzige aus der Familie überlebt.« Volcys Tochter. Und er hatte sich so sehr gewünscht, sie wiederzusehen, als er in der Fremde im Sterben lag. »Verstehst du jetzt, Kind?«, sagte Initia. »Was meinst du, Tante?« »Die Sonne wird noch ein Mal aufgehen und wieder untergehen, dann ist das Ende der Langen Zählung gekommen. Und wenn es so weit ist, wird nichts mehr so sein, wie es war. Vielleicht ist das, was wir jetzt erleben, schon der Anfang vom Ende. Aber Itzamnaaj, der allergnädigste Gott, hat in seiner Barmherzigkeit dafür gesorgt, dass unsere Jüngsten überlebt haben, und sie sind unsere Zukunft. Im Popol Vuh steht geschrieben, dass nach der Zerstörung, die mit dem Ende eines jeden Zyklus einhergeht, ein neues Menschengeschlecht die Erde bevölkern wird. Diese Kinder sind die fünften Menschen.« 12.19.19.17.19 – 20. DEZEMBER 2012 33 Es war kurz nach Mitternacht. Chel wiegte Sama in ihren Armen und schaute zu, wie Initia Teig zu Fladen flach drückte. Stanton war bei den Kindern und untersuchte sie, um ganz sicherzugehen, dass keines irgendwelche Krankheitssymptome zeigte. Als Yanala kam und Sama holte, damit auch sie untersucht werden konnte, gab Chel ihr die Kleine nur widerstrebend. Als sie mit Initia allein war, erzählte sie ihr von dem Überfall im Krankenhaus. »Ein ladino hat mich angegriffen, ich glaube, er war infiziert. Meine Mutter hat mich gewarnt. Sie hat gesagt, sie würden hier sein, aber ich habe ihr nicht geglaubt. Jetzt weiß ich, dass sie recht hatte.« »Nein, Chel, dieser Mann war hier, weil er uns helfen wollte.« »Was?« Chel starrte sie ungläubig an. »Die Gruppe einer Kirchengemeinde der ladinos hat uns Lebensmittel und andere Vorräte gebracht, als sie erfahren haben, dass die Menschen hier krank sind. Sogar ein Arzt ist mitgekommen. Diese ladinos wollten uns helfen. Sie trifft keine Schuld. Sie nicht und auch nicht die indígenas, die verflucht waren. Ein Mensch, der nicht mehr schlafen kann und deshalb keine Verbindung mehr zu den Göttern hat, verliert sich selbst, egal, wer er einmal war. Das würde jedem von uns genauso gehen. Es tut mir leid, dass der Fluch diesen Mann dazu gebracht hat, dich anzugreifen, aber ich weiß, er ist mit den besten Absichten hierhergekommen.« Chel dachte an Rolando, und eine ungeheure Traurigkeit erfasste sie. »Ich kann es dir oder deiner Mutter nicht verdenken, dass ihr so schlecht über die ladinos denkt«, fuhr Initia fort. »Deine Mutter musste ihretwegen sehr viel durchmachen. So etwas kann man nicht vergessen.« Chel sah im Geist den missbilligenden Gesichtsausdruck ihrer Mutter vor sich. »Sie versucht schon lange, jede Erinnerung an Kiaqix zu verdrängen. Sie wollte nicht, dass ich hierher fahre. Und sie glaubt auch nicht, dass wir die versunkene Stadt jemals finden. Chiam, Vaters Cousin, hätte das alles nur erfunden, sagt sie. Es gäbe überhaupt keine versunkene Stadt.« Initia seufzte. »Wer weiß das schon so genau. Ich habe viele Jahre nicht mehr an Chiam gedacht.« Chel fragte sich, woran ihre Tante sich wohl noch erinnerte. »Warst du dabei, als Chiam den anderen die Briefe meines Vaters vorgelesen hat?« »Die Briefe deines Vaters?« Initia machte ein verwirrtes Gesicht. »Die, die er aus dem Gefängnis geschrieben hat.« »Ach so. Ja. Ja, ich war dabei, als sie vorgelesen wurden.« Chel hörte das Zögern in ihrer Stimme. »Was ist?« »Nichts. Ich bin alt, weißt du, ich kann mich nicht mehr so genau erinnern.« »Du erinnerst dich ganz genau.« Chel berührte sie am Arm. »Was ist? Was verschweigst du mir?« »Ich bin sicher, es gibt einen Grund dafür«, murmelte Initia mehr zu sich selbst. Chel ließ nicht locker. »Einen Grund wofür? Sag mir, was du denkst.« »Die Geschichte von den Briefen hat dir Kraft gegeben und dir Mut gemacht«, sagte Initia. »Und genau das wollte sie erreichen.« »Die Briefe sind nicht nur irgendeine Geschichte«, widersprach Chel. »Es gibt sie tatsächlich. Ich habe mit Leuten gesprochen, die dabei waren, als sie vorgelesen wurden, und die haben mir erzählt, sie hätten die anderen zum Widerstand ermutigt.« »Ja, das stimmt, das haben die Briefe tatsächlich getan.« »Also was?« Ihre Tante verschränkte die Hände ineinander wie zum Zeichen der Buße. »Ich weiß nicht, warum deine Mutter dir das nie erzählt hat, Kind. Ha’ana ist eine kluge Frau, Ati’t par Nim, der schlaue Graufuchs, ihr Krafttier. Aber du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.« »Ich verstehe nicht, Tante. Was meinst du?« Initia seufzte abermals. »Dein Vater war ein wunderbarer, liebevoller Mann. Er wollte immer nur das Beste für dich und deine Mutter und für seine Familie, er wollte euch beschützen. Aber sein wayob war der Tapir, und der Tapir ist zwar stark, aber nicht klug, so wie das Pferd. Er war ein einfacher Mann, er hat nicht die Worte gehabt, um diese Briefe zu schreiben.« Chel zwang sich, ruhig zu bleiben. Ihre Tante war eine vergessliche alte Frau. »Mein Vater ist ins Gefängnis gekommen, weil er die Menschen zum Widerstand aufgerufen hat«, sagte sie und hoffte, dass sie sich nicht herablassend anhörte. »Er hat diese Briefe heimlich geschrieben und wurde hingerichtet, als seine Wärter dahinterkamen. Meine Mutter hat mir alles erzählt. Alles, was er für sein Dorf getan hat.« Initia nickte. »Deine Mutter hat dir diese Geschichten erzählt«, sagte sie mit besonderer Betonung auf dem Wo r t Mutter. »Willst du damit sagen, sie hat mich angelogen und jemand anders hat die Briefe geschrieben?«, sagte Chel fassungslos. »Nicht nur dich«, erwiderte Initia. »Alle sollten glauben, dass die Briefe von deinem Vater waren. Aber ich war mit dem Bruder deines Vaters verheiratet, Kind. Mein Mann kannte die Wahrheit.« Chel wusste nicht mehr, was sie denken sollte. »Wer hat sie denn dann geschrieben? Ein Mithäftling?« Das Feuer im Herd knisterte und knackte. Initia schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Schon als junges Mädchen hat deine Mutter vor nichts und niemandem Angst gehabt. Auch nicht vor den Grundbesitzern oder den Soldaten. Sie war gerade einmal zehn Jahre alt, als sie sich auf dem Markt vor sie hingestellt und ihnen verächtlich auf die Schuhe gespuckt hat. Sie wollte nichts wissen von den Veränderungen, die sie uns aufzwingen wollten. Als die ladinos vorhatten, den Unterricht an unseren Schulen zu ändern, damit die Kinder nicht mehr die Geschichte unseres Volkes lernen würden, sondern die Geschichte der Weißen, gehörte sie zu denen, die das verhindert haben.« Chel erstarrte. »Meine Mutter?« »Als Ha’ana zwanzig Jahre alt war, hat sie heimlich an den Versammlungen der Dorfältesten teilgenommen«, fuhr Initia fort. »Eines Tages wurde ein junger Mann von den Soldaten ermordet. Sie haben ihn am Balkon des Gemeindehauses erhängt. Da bekamen viele im Dorf Angst. Aber deine Mutter nicht. Sie rief die Männer zum Kampf auf, sie sagte, wir müssten uns bewaffnen, wir dürften uns nicht einfach ergeben, wenn die Armee oder die Guerillas zurückkämen. Aber wer hörte schon auf eine Frau? Dann kam dein Vater ins Gefängnis, und kurz darauf fing die Sache mit den Briefen an.« Chel war wie betäubt. Sie schaute sich um. Eine steinerne Feuerstelle, ein paar Hängematten, ein kleiner Holztisch und Stühle auf dem Boden aus Kalkmergel, die huipils, die zum Trocknen an der Leine hingen. An einem Ort wie diesem gingen die Frauen seit tausend Jahren ihrer Arbeit nach. »Warum hat sie gelogen?«, sagte sie leise. »Ha’ana kannte die Menschen«, antwortete Initia. »Sie wusste, dass sie die Frauen um sich scharen konnte, aber kein Mann würde auf eine Frau hören, wenn es um Dinge wie Kriegführung und bewaffneten Widerstand ging. Sie brauchte die Stimme eines Mannes, um die Männer dazu zu bringen, dass sie handelten. Und als dann dein Vater ins Gefängnis kam, sah sie ihre Chance, so furchtbar seine Verhaftung auch für sie war.« »Aber als er gestorben ist, ist sie von hier weggegangen«, wandte Chel ein. »Sie hat euch alle im Stich gelassen und ist nie wieder zurückgekehrt. Und so ein Mensch soll diese Briefe geschrieben haben?« »So einfach war das nicht, Kind. Sie hatte Angst, dass früher oder später jemand dahinterkäme, dass sie die Briefschreiberin war. Sie hatte Angst um ihr Leben, vor allem aber um dich. Sie wollte dich schützen, deshalb ist sie von hier weggegangen.« »Aber warum hat sie mir das nie gesagt?«, fragte Chel bestürzt. Initia legte ihr zärtlich die Hand auf den Rücken. »Dein Vater musste sterben wegen dieser Briefe, obwohl er sie gar nicht geschrieben hatte. Deine Mutter hat sich schwere Vorwürfe gemacht deswegen. Sie hat sich die Schuld an seinem Tod gegeben.« Chel hatte ihre Mutter für deren Teilnahmslosigkeit bestraft, dafür, dass sie sich von ihrem Volk abgewandt hatte, und Ha’ana hatte ihr nie widersprochen, hatte den Sachverhalt nie richtiggestellt. Es hatte ihr genügt zu wissen, wie hart sie gekämpft, wie viel sie geopfert hatte. »Deine Mutter ist der Graufuchs«, fuhr Initia fort. »Ati’t par Nim ist sehr schlau.« Chel hatte immer gefunden, Ati’t par Nim passe nicht zu Ha’ana. Jetzt wusste sie es besser. Ihre Vorfahren hatten geglaubt, die Macht des wayob sei allgegenwärtig; sie hatten geglaubt, das Krafttier und dessen menschliche Gestalt seien austauschbar; sie hatten geglaubt, das Krafttier beherrsche das Leben eines Menschen und übertrage seine Eigenschaften auf ihn. Der schlaue Fuchs machte die Leute glauben, was ihm dienlich war. Das brachte Chel auf einen Gedanken. Sie sprang auf und lief um die Feuerstelle herum zu einem der Rucksäcke, die sie auf dem Boden abgestellt hatten. Sie durchwühlte ihn, bis sie die Übersetzung der alten Handschrift gefunden hatte. »Was hast du denn, Kind?«, fragte Initia ganz erstaunt. Chel war davon ausgegangen, dass Paktul die Kinder von Kanuataba aus in den Dschungel geführt hatte, und zwar an den Ort, an dem einst seine Vorfahren gelebt hatten. Aber wenn er nun gar nicht von seinen menschlichen Vorfahren gesprochen hatte? Seine menschliche und seine tierische Gestalt – sein Krafttier – waren für den Schreiber austauschbar gewesen. Und hatten sie sich nicht gewundert, warum in der mündlichen Überlieferung von drei Stadtgründern die Rede war und nicht von vier, nämlich Paktul, Rauch Lied und die beiden Mädchen? Vielleicht lag es daran, dass der Mensch Paktul gar nicht mit ihnen aus der Stadt geflohen war. *** Als Stanton zurückkam, stand Initia immer noch an der Feuerstelle und backte Tortillas, und Chel grübelte über ihren Aufzeichnungen. Sie sprach so aufgeregt und lebhaft wie seit dem Tag nicht mehr, als sie im Innenhof des Museums gesessen hatten. »Ich glaube, wir haben nach dem falschen Ort gesucht. Der Izabal-See hat überhaupt nichts mit der Route zu tun, die die drei genommen haben.« Stanton sah sie fragend an. »Wie kommst du darauf?« »Paktul bezieht sich nicht auf seine menschlichen Vorfahren. Es steht alles hier in der Übersetzung. Wenn er von sich spricht, in der ersten Person, meint er sowohl sich als Menschen wie auch sein Krafttier. Die beiden sind austauschbar. Wir wissen aber, dass er tatsächlich einen Ara in seiner Höhle hatte, weil er von anderen erzählt, die ihn gesehen haben. Er zeigt ihn dem Prinzen und Auxilas Töchtern, und er schreibt, der Vogel würde zu seinem Schwarm zurückkehren, sobald seine Verletzung geheilt sei.« Chel suchte eine andere Passage heraus. Mein Krafttier, so erzählte ich dem Prinzen, habe sich auf der weiten Reise, die jeder Ara mit seinem Schwarm zurücklegt, in Kanuataba niedergelassen. In ein paar Wochen würden wir weiterfliegen, dorthin, wohin unsere Vogelvorfahren seit Tausenden von Jahren zu jeder Erntezeit zurückkehren. »Ich dachte, er spricht von seinen menschlichen Vorfahren«, fuhr sie fort, »aber was, wenn Paktul die Stadt überhaupt nicht verlassen hat? Wenn er von den Wachen getötet wurde, so wie er es vorausgesagt hat, oder wenn er geblieben ist, um den Kindern die Flucht zu ermöglichen?« »Aber wer hat die Kinder dann nach Kiaqix geführt?«, fragte Stanton. Dann dämmerte es ihm. »Du glaubst, sie sind einem Vogel gefolgt?« »Der Prinz hat mit Sicherheit gelernt, Fährten zu lesen und ein Stück Wild über hundert Meilen zu verfolgen. Und der Ara wird instinktiv zu seinem Schwarm zurückgekehrt sein. Kiaqix bedeutet so viel wie ›Tal des scharlachroten Ara‹. Das Dorf liegt auf ihrem Zugweg. Die mündliche Überlieferung berichtet, die drei Stadtgründer hätten die vielen Aras hier als gutes Vorzeichen betrachtet. Wenn sie nun einem der Vögel gefolgt sind, weil sie glaubten, er sei Paktuls Geist?« Chel breitete die Karte aus, auf der die Breiten- und Längengrade angegeben waren. Sie hatte den Zugweg der Aras bereits darauf eingezeichnet. »Auf ihrer Wanderung kommen die Aras von Südwesten hierher, diese Zugziele bleiben immer gleich. Wir können den exakten Weg ermitteln und ihm folgen.« Die Idee, dass drei Kinder einem Vogel über hundert Meilen hinweg gefolgt sind, hätte Stanton bis vor Kurzem noch als völlig absurd abgetan. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Es kam ihm immer noch unwahrscheinlich vor, aber er musste Chels Instinkt vertrauen. Er hatte keine andere Wahl. »Und du bist sicher, dass das die exakte Route der Zugvögel ist?« Chel kramte im Rucksack nach dem Satellitentelefon. »Ich habe im Internet drei verschiedene Websites gefunden, die alle die gleichen Koordinaten angeben. Da, überzeug dich selbst.« Sie gab ihm das Telefon, aber als er es einschaltete, blieb das Display dunkel. Der Akku hatte endgültig den Geist aufgegeben. Jetzt waren sie ganz von der Welt abgeschnitten. »Egal.« Chel tippte mit dem Finger auf die Landkarte. Eine fiebrige Erregung hatte sie erfasst. »Wir haben alles, was wir brauchen, um der Zugvogelroute folgen zu können.« In diesem Moment bemerkte Stanton etwas in ihren Augen, das ihn erstarren ließ. Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. »Schau mich an«, befahl er ihr. Chel war verwirrt. »Das tu ich doch.« Stanton zog seine Pupillenlampe heraus und untersuchte ihre Pupillen. Sie hätten sich im Licht zusammenziehen und im Dunkeln weiten müssen. Als er die Lampe ausknipste, blieben ihre Pupillen unverändert klein. »Was ist? Bin ich krank?« Chels Stimme zitterte. Stanton drehte sich um, ging in die Hocke und kramte in seinem Rucksack nach einem Fieberthermometer. Bevor er sich wieder aufrichtete, zwang er sich zur Ruhe. Er wollte nicht, dass sie die Angst in seinen Augen sah. Er musste stark sein, stark für Chel. Sie glaubte so fest daran, dass sie die versunkene Stadt finden würden, und diesen Glauben durfte er ihr nicht nehmen. Die versunkene Stadt war jetzt ihre einzige Hoffnung. Er konzentrierte sich und tat sein Bestes, um sich seine Zweifel nicht anmerken zu lassen. 34 Sie verließen Kiaqix bei Tagesanbruch. Es dauerte nicht lange, bis die Sonne unbarmherzig auf Petén herunterbrannte und die Luft aufheizte wie in einem Backofen. Der schwache Fahrtwind, der durch die geöffneten Fenster des Jeeps hereinwehte, verschaffte Chel nur wenig Linderung. Sie konnte den VFI-Erreger fast in sich spüren. Sie streifte Stanton mit einem Seitenblick. Er war ihrem Blick ausgewichen, so gut es ging, als sie ihre Sachen, vor allem die medizinischen Hilfsmittel, aber auch das Essen, das Initia ihnen mitgegeben hatte, in den Jeep luden. In einer Gegend, wo die Krankheit derart gehäuft auftrat, sei das Ergebnis des Schnelltests sowieso unzuverlässig, hatte er immer wieder betont. Er weigerte sich, das Ergebnis eines Tests, den er selbst entwickelt hatte, zu akzeptieren. Chel konnte seine Körpersprache zwar nicht besonders gut deuten, aber sie kannte Stanton inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er sich Vorwürfe machte, weil er eine Sekunde zu spät gekommen war. Sie hätte ihm gern gesagt, dass es nicht seine Schuld war – wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre sie längst gestorben, da auf dem Fußboden der Krankenhauskapelle. Doch sie fand nicht die richtigen Worte. Sie schaute wieder nach vorn. Der Zugweg der Aras verlief in 232,5 Grad südwestlicher Richtung. Stanton steuerte den Jeep mitten durch den Dschungel, durch überbeanspruchte Ackerflächen und durch unberührten Wald. Sie hielten Ausschau nach erhöhtem, ebenem Gelände, nach einem Ort, der sich für die Errichtung von Städten wie Kanuataba geeignet haben könnte. Als sie zwei Stunden unterwegs waren, wurde der Boden holpriger. Wege gab es so gut wie keine mehr. Irgendwann würden sie den Wagen stehen lassen und zu Fuß weitergehen müssen. Der Jeep schaukelte heftig in dem unwegsamen Gelände, Schlammfontänen spritzten auf und verschmierten die Scheiben. Man konnte fast nichts mehr sehen. Chels Welt wurde lauter und greller und fremdartiger: Die Geräusche des Fahrzeugs taten ihr in den Ohren weh, und das Heulen und Kreischen des Dschungels ängstigte sie wie noch nie in ihrem Leben. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon unterwegs waren, als Stanton den Jeep anhielt. »Dem Kompass nach müssen wir weiter in diese Richtung fahren.« Er zeigte auf ein Waldstück vor ihnen, so undurchdringlich wie keines bisher. Zudem blockierten Dutzende umgestürzter Bäume den Weg. Für den Jeep war die Fahrt damit zu Ende. »Gehen wir«, sagte Chel mit einer Energie, die sie nicht mehr hatte. »Ich kann zu Fuß gehen.« Stanton beugte sich über den Meilenzähler. »Wir sind zweiundsechzig Meilen von Kiaqix entfernt. Wenn sie drei Tage zu Fuß unterwegs waren, kann es nicht mehr weit sein, oder?« Chel nickte stumm. »Wie fühlst du dich?«, fragte er besorgt. »Ich kann auch allein gehen, wenn du meinst, du schaffst es nicht.« »Die Menschen gehen in dieser Gegend hier seit Jahrhunderten auf die Jagd, aber niemand ist jemals au diese Ruinen gestoßen«, stieß sie keuchend hervor. Das Sprechen fiel ihr schwer. »Sie müssen sehr gut verborgen sein. Du würdest sie niemals allein finden.« *** Stanton schulterte die gesamte Ausrüstung: Werkzeug, um Überreste von den Gefäßen zu schaben, die sie in Jaguar Imix’ Grab zu finden hofften; ein Mikroskop, Objektträger und anderes Laborgerät, das sie für die Untersuchung von Stichproben benötigten. Er ging voraus und schlug den Weg mit einer Machete frei, die er aus Initias Haus mitgenommen hatte. Sie rutschten über schlammige Hänge und hielten sich an der knorrigen Rinde von Baumriesen fest. Chel hatte bald schmerzhafte Blasen an den Füßen, ihr brummte der Kopf, und es juckte sie am ganzen Körper von unzähligen winzigen Insekten. Sie waren fast eine Stunde marschiert, als Stanton stehen blieb. Sie hatten den Gipfel einer felsigen Anhöhe erreicht, von wo aus sie meilenweit ins Land blicken konnten. Stanton hielt den Kompass hoch. »Der Zugweg führt in diese Richtung. Da drüben. Das Tal dort, das muss es sein.« Vor ihnen lagen zwei Bergrücken, beide jeweils einige Meilen lang, und dazwischen ein breites Tal mit unberührtem tropischen Regenwald. »Das kann nicht sein.« Chel schüttelte den Kopf. Sie war völlig erschöpft und keuchte vor Anstrengung. »Die Menschen früher hätten die Stadt nicht zwischen zwei Bergmassive gebaut, sie … hätten dann von zwei Seiten angegriffen werden können.« Sie konnte in Stantons Gesicht lesen, dass er nicht wusste, ob er angesichts ihrer schlechten Verfassung ihrem Urteil noch trauen sollte oder nicht. »Gut.« Er nickte. »Wohin dann?« »Höher hinauf.« Sie zeigte auf den größeren der beiden Bergrücken. »Von dort oben haben wir einen guten Blick und können den Wald nach Tempeltürmen über den Baumkronen absuchen.« Die Stämme am Fuße des Berges waren dünn und rußgeschwärzt – wie verkohlte Zahnstocher, die in die Erde gesteckt worden waren. Ein Feuer hatte hier gewütet, entzündet wahrscheinlich durch einen Blitzschlag. Solche kleineren Waldbrände waren in der stürmischen Regenzeit häufig. Früher hatten die Menschen sie für ein Zeichen der Götter gehalten, die ihnen zu verstehen geben wollten, dass dieses bestimmte Stück Land Zeit brauchte, um sich zu erholen. Der niedergebrannte Teil des Waldes ging allmählich wieder in eine grüne Pflanzendecke über. Dann entdeckte Chel in der Ferne, etwa auf halber Höhe am Berghang, ein Dickicht aus Vanilleranken. Sie nahm es zuerst nur aus den Augenwinkeln wahr, doch dann blieb sie stehen und wandte sich zu dem seltsam vertrauten Muster hin. Vanille wuchs in ganz Guatemala. Sie rankte sich an Baumstämmen etliche Dutzend Meter bis in die Baumkronen hinauf, dem Licht und dem Regen zu. Diese Ranken jedoch hörten nach ungefähr fünf Metern einfach auf, so als ob der Baum, an dem sie emporkletterten, abgesägt und die Äste entfernt worden wären. Chel rief Stanton zu, er solle warten, aber er hörte sie nicht. Kurz entschlossen änderte sie ihren Kurs. Die gut fünfzig Meter den Hang hinauf schienen kein Ende zu nehmen. Ein Schritt war mühsamer als der andere. Aber die dünnen länglichen Blätter der Vanille zogen sie an wie ein Magnet. Das Gewirr aus Ranken sah lockerer aus, als es hätte sein sollen, so als fänden sie auf der Oberfläche keinen richtigen Halt; wenn sie sich um Baumrinde geschlungen hätten, wäre das Geflecht sehr viel fester und dichter gewesen. Hunderte steinerne Zeugen der Maya-Kultur waren unter Ranken wie diesen entdeckt worden. Endlich hatte Chel es geschafft. Ihre Hände zitterten, vor Aufregung oder als Folge der Krankheit, als sie mit letzter Kraft an dem Rankengestrüpp zerrte und es Stück für Stück wegriss, bis sie erkennen konnte, was sich darunter verbarg. Es war eine mindestens zweieinhalb Meter hohe, von Menschenhand geschaffene Steinsäule. »Da bist du ja!« Stanton hatte sie gefunden. »Du warst auf einmal verschwunden.« Er beugte sich vor und schaute ihr über die Schulter. »Was ist das?« »Eine Stele«, antwortete Chel. »Baum aus Stein nannten die Menschen sie früher. Sie haben wichtige Daten, historische Ereignisse und die Namen von Königen in den Stein gemeißelt.« Diese Stelen fänden sich oft in der Nähe von Städten, erklärte sie, aber auch bei kleineren Dörfern als Zeichen der Ehrerbietung gegenüber den Göttern. Das Einzige, was sie mit Sicherheit über diese Stele hier sagen konnte, war, dass sie den Augen der Menschen sehr, sehr lange verborgen geblieben war. Die Oberfläche war verwittert, eine Ecke abgesprengt. Chel bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, während Stanton das Gestrüpp vollends entfernte. Inschriften kamen zum Vorschein, erodiert, abgeschliffen von der Zeit und von der Witterung. In der Mitte der Stele befand sich eine Darstellung des Maisgottes, während die Ecken mit Darstellungen von Itzamnaaj, der höchsten Maya-Gottheit, verziert waren. Dann fiel Chels Blick auf drei vertraute Glyphen. »Was heißt das?«, fragte Stanton. Sie zeigte auf die erste Inschrift. »Naqaj xol ist Ch’olan und heißt ›sehr nah‹. Und die hier – u’qajibal q’ij – bedeutet, wir sind genau westlich davon.« Er zeigte auf die letzte Glyphe. »Und die hier?« »Akabalam.« *** Der steile Hang war vollständig überwuchert. Umgestürzte Bäume lagen kreuz und quer über dem undurchdringlichen Unterholz. Mühsam, Meter für Meter, kämpften sie sich vorwärts. Jeder Schritt kostete Chel ungeheuer viel Kraft. Alle fünfzig Meter blieben sie stehen, damit sie sich ausruhen konnte. In der unerträglich heißen, feuchten Luft fiel das Atmen schwer, und Chel hatte bei jedem Atemzug das Gefühl, dass sie nicht mehr weiterkonnte. Aber sie raffte sich immer wieder auf und legte mit Stantons Hilfe die nächsten paar Meter zurück. Je weiter sie nach Westen kamen, desto mehr flachte der Hang sich ab. Das mühsame Klettern hatte ein Ende, und Chel tat sich leichter mit dem Gehen. Nach ungefähr zwei Meilen war die nach Westen hin liegende Seite des Berges ganz allmählich in eine Hochebene übergegangen. Paktul hatte zwar von der Terrassenstadt Kanuataba gesprochen, doch er hatte nirgendwo den Terrassenanbau erwähnt. Chel überlegte, ob die Bezeichnung sich vielleicht von diesem Sims ableitete, entstanden durch einen Fluss, der vor Jahrmillionen den Berg durchschnitten hatte – eine natürliche Felsterrasse, die unentdeckt geblieben war, nachdem ihre Vorfahren von dort weggegangen waren. Einige Minuten später entdeckten sie noch etwas, was ihnen Hoffnung machte. In der Ferne standen Hunderte Kapokbäume, Bäume, die den Maya heilig waren. Die Stämme hatten Dornen, die Äste waren bewachsen mit Gras und Moos in phosphoreszierendem Grün. Chel erinnerte sich an Paktuls Worte: Aber ich weiß, dass früher nirgendwo sonst im Hochland so prächtige Kapokbäume wuchsen wie in Kanuataba, Kapokbäume, die den Weg in die Unterwelt säumen. Nirgendwo sonst auf der Welt standen die von den Göttern gesegneten Kapokbäume dichter als hier, die Stämme berührten sich fast. Jetzt gibt es in ganz Kanuataba nicht einmal mehr ein Dutzend davon! Sie hielten auf die heiligen Bäume zu, deren Bestand sich wieder erholt hatte. Die Äste ragten himmelwärts, den Göttern entgegen, und Chel konnte im Spiel von Licht und Schatten zwischen den Blättern Gesichter erkennen – jenes von Ahau Chamahez, dem Gott der Heilkunde, von Ah Peku, dem Donnergott, von Kinich Ahau, dem Sonnengott. Alle winkten sie heran. »Alles in Ordnung?« Stanton, der ein paar Schritte vor ihr war, hatte sich zu ihr umgedreht. Konnte er die Zeichen in dem Laubdach über ihnen sehen? Vernahm auch er den Ruf der Götter? Chel blinzelte ein paar Mal und suchte nach Worten, während sie auf Stanton zuging. Ihr Blick fiel auf eine schmale Lücke zwischen den Baumstämmen. Dahinter konnte man etwas Steinernes erkennen. »Da drüben!«, flüsterte sie. Nach einer Dreiviertelmeile hatten sie den Sockel der alten Pyramide erreicht. Die Spitze war in Dunst gehüllt. Bäume, Büsche, Blumen sprossen aus jeder Felsritze in alle Richtungen. Bis ganz nach oben waren auf den Stufen Bäume gewachsen; die Wurzeln hatten den Stein auseinandergesprengt. Eine Seite der Pyramide war so vollständig überwachsen, dass sie aussah wie ein natürlicher Hang. Nur an der Spitze, wo Säulen in Gestalt länglicher Vögel drei nebeneinanderliegende Öffnungen bildeten, waren die Überreste von Kalkstein zu erkennen. Die abgesprengten Felsbrocken fügten sich in Chels Vorstellung wieder zu Stufen zusammen. Im Geist sah sie Sklaven und Zwangsarbeiter, die Felsblöcke auf dem Rücken schleppten. Rings um den Sockel der Pyramide sah sie Gewerbetreibende, die Körper bemalten oder die Haut durchstachen, um Schmuck anzubringen, sie sah Gewürzmischer, die Paprika gegen Feuerstein tauschten. Der verwitterte Kalkstein war bemalt in den schönsten Regenbogenfarben – in Gelb und Rosarot und Lila und Grün. Das war die Wiege ihres Volkes in ihrer ganzen Herrlichkeit. 35 Sie gingen langsam weiter und hielten Ausschau nach anderen Hinweisen auf die versunkene Stadt. Die Stele und die kleine Pyamide waren zuverlässige Anzeichen dafür, dass sie den Rand der großen Stadt erreicht hatten. Stanton ging voraus. Er hielt Chel fest an der Hand; mit der anderen schlug er ihnen mit der Machete den Weg durch das Dickicht frei. Er versuchte, sich die Pflanzen zu merken, die er durchtrennte, falls sich herausstellen sollte, dass sie von Bedeutung waren. Während sie über Wurzeln kletterten, die sich über den Boden wanden wie gigantische Schlangen, lauschte Stanton angespannt. Es gab Wölfe, Füchse, sogar Jaguare in der Gegend. Nach dem Studium hatte er einmal an einer Safari teilgenommen, und er legte keinen Wert darauf, näher mit wilden Tieren Bekanntschaft zu machen als damals. Zum Glück konnte er nur Vögel hören und irgendwo in der Ferne Fledermäuse. Sie kamen an weiteren Stelen und an kleinen, verfallenen Kalksteinbauten vorbei, die vollständig mit einer Decke aus Blattwerk überzogen und mit kleinen Bäumen zugewachsen waren. Chel machte Stanton auf Stellen aufmerksam, wo am einstigen Stadtrand die Diener der Adligen gewohnt hatten und wo früher jene eigenartige Mischung aus Volleyball und Basketball gespielt worden war. Hätte Chel ihn nicht darauf hingewiesen, hätte Stanton mit Sicherheit nichts von alledem bemerkt. Er behielt Chel im Auge, so gut es ging. Sie machte einen stabilen Eindruck, aber es war schwer zu sagen, wie sich ein strapaziöser Marsch durch den Regenwald bei Temperaturen von über 43 Grad Celsius auf den Krankheitsverlauf auswirken würde. Sie wäre bei Initia in Kiaqix besser aufgehoben gewesen. Aber er wusste, dass er die Stadt ohne sie niemals gefunden hätte. Jetzt ging es darum, den Grabtempel des Königs zu finden, das letzte vor dem Untergang der Stadt in Kanuataba errichtete Bauwerk. Paktul hatte den Bau als unüberlegtes, überstürztes Projekt beschrieben, das mit minderwertigem Material ausgeführt worden sei. Normalerweise brauchte man für eine archäologische Ausgrabung eine entsprechende Ausrüstung, aber Volcy und sein Partner waren mit einfachen Spitzhacken zu Werke gegangen und hatten es geschafft. Das bedeutete, dass entweder schlampig gebaut oder der Bau nicht vollendet worden war. Das Fundament soll in zwanzig Tagen gelegt werden, weniger als tausend Schritt vom Palast entfernt. Der Turm für die Aufbahrung soll dergestalt errichtet werden, dass er zum höchsten Punkt des Sonnenstandes hin liegt und ein großes heiliges Dreieck mit dem Palast und der roten Zwillingspyramide bildet. »Ein heiliges Dreieck war ein rechtwinkliges Dreieck«, erklärte Chel. »Sie galten als mystisch.« Rechtwinklige Dreiecke mit einer Seitenlänge im Verhältnis 3: 4: 5 spielten bei den Maya eine große Rolle, nicht nur im Entwurf ihrer Städte und beim Bau von Gebäuden, sondern auch bei religiösen Zeremonien. Das bekannteste Beispiel war sicherlich Tikal, wo eine Reihe ganzzahliger rechtwinkliger Dreiecke bei der Anlage der südlichen Akropolis berücksichtigt worden waren. »Jaguar Imix wollte, dass seine Grabkammer ein Dreieck mit einem der Tempel und mit dem Palast bildet. Die Zwillingstempel müssten am leichtesten zu finden sein.« »Wir suchen also eine rote Pyramide?«, fragte Stanton. »Sie ist nicht wirklich rot. Rot ist das Sinnbild für Osten.« »Das heißt, wir suchen die, die am weitesten im Osten liegt?« »Die, die zum großen Platz hin nach Osten ausgerichtet ist«, verbesserte Chel. Die Bauwerke würden größer, je näher sie bei der zentralen Akropolis lägen, erklärte sie; deshalb wusste sie, dass sie auf der richtigen Spur waren. Aber Stantons Arme waren müde und schwer geworden. Die Machete fühlte sich mehr als doppelt so schwer an wie zu Beginn ihres Marsches, und die Klinge war stumpf geworden. Es kostete ihn unglaublich viel Kraft, selbst dünne Zweige zu durchtrennen. Der Schweiß lief ihm in Strömen in die Augen. Dann, zwanzig Minuten später, stießen sie auf eine Reihe von Pfeilern. Sie waren fast vollständig mit Moos überwuchert, und Vögel hatten auf einigen ihre Nester gebaut, aber die Zeit hatte ihnen nichts anhaben können. Sie standen immer noch, höher als die Stele, zwölf an der Zahl. Der quadratische Innenhof, den sie umgaben, war längst unter einer üppigen Pflanzendecke begraben, aber Chel erkannte die Anlage sofort: Genau so hatte Chiam sie beschrieben. Er war also tatsächlich hier gewesen. »Dann müssen wir ziemlich nah dran sein«, meinte Stanton, als sie es ihm erklärte. Chel nickte. »Das war ein Versammlungsort für die Aristokratie. Der Platz dürfte nicht weit vom Palast entfernt gewesen sein.« »Und in welche Richtung gehen wir jetzt?« Sie antwortete nicht. Stanton folgte ihrem Blick. Die letzten Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach des Regenwalds auf weißen Stein. Chel ließ Stantons behandschuhte Hand los und lief weiter, fast beschwingt, ohne auf die zahllosen Hindernisse zu achten. »Warte!«, rief er ihr nach. Doch sie reagierte nicht. Er rannte ihr nach. Obwohl er einerseits froh war über die Energie, die sie plötzlich aufbrachte, weil sie ihrem Ziel näher kamen, fürchtete er andererseits, dass das schon ein Zeichen von Besessenheit war. Er war erst ein paar Schritte weit gekommen, als ihm etwas ins Gesicht klatschte, mit solcher Wucht, dass es ihn fast umgerissen hätte. Er schlug mit seiner Taschenlampe nach dem Ding auf seinem Augenschutz, bis es endlich losließ und weiterflatterte. Eine große Fledermaus, für die mit Einbruch der Dunkelheit die Suche nach Nahrung begann. Stanton schaute ihr nach. Als er sich wieder umdrehte, war das letzte Tageslicht erloschen. Der helle Stein, den sie gerade eben noch gesehen hatten, war von der Nacht verschluckt worden. Er lief weiter, und als er Chel eingeholt hatte, stand sie am Fuß von etwas, was vor tausend Jahren eine Treppe gewesen war. Die steinernen Stufen waren längst zerbröckelt. Stantons Blick wanderte an der zugewucherten Schräge langsam nach oben. Sie standen vor einer Tempelpyramide, deren Größe alles rings umher zwergenhaft klein wirken ließ. Er wandte sich zu Chel. »Lauf nie wieder einfach so weg, hörst du? Ich will nicht irgendwo hier draußen nach dir suchen müssen.« Sie sah ihn nicht an, als sie sagte: »Das ist eine davon. Das muss eine davon sein.« »Von den Zwillingspyramiden?« Sie nickte und setzte sich schon wieder in Bewegung. *** Der Kalksteinbau war niedriger als ein Tempel. Die Mauern waren teilweise eingestürzt, aber Chel erkannte sofort, um was es sich bei der weitläufigen Anlage handelte. Sie begann, die Stufen hinaufzuklettern. Ihre Baumwollhose und die langärmelige Bluse klebten schweißnass und schwer an ihr. Ihre Haare kratzten sie im Nacken. Aber sie stieg unverdrossen weiter hinauf, hüpfte von einem schmalen Sims zum nächsten, bis sie die erste von sechs großen Plattformen erreicht hatte. »Was hast du vor?«, rief Stanton ihr von unten zu. Sie machte eine unwillige Handbewegung; sie musste sich konzentrieren. Im Geiste sah sie dreizehn Männer im Kreis sitzen, jeder trug einen Kopfputz in Gestalt eines Tieres, alle klatschten dem Redner Beifall. Alle, bis auf einen: Paktul. Stanton war ihr gefolgt. »Das ist der Königspalast«, flüsterte sie, als er ihre Hand ergriff. Stanton betrachtete die erhöhten, aneinandergrenzenden Plattformen und sagte, ohne nachzudenken: »Hier haben sie also …« »Gekocht«, ergänzte Chel sachlich. Der Anblick des Ortes, an dem ihre Vorfahren Menschenfleisch zubereitet hatten, schien sie nicht zu erschüttern. Angestrengt und konzentriert blickte sie in die Dunkelheit hinaus. »Paktul zufolge ist der Palast der zweite Punkt des Dreiecks. Wenn es sich also um ein rechtwinkliges Dreieck mit einer Seitenlänge im Verhältnis 3: 4: 5 handelt, dann ist der Abstand –« Plötzlich wurde ihr schwindlig, und sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden. »Alles in Ordnung?«, fragte Stanton besorgt. »Ja, mir geht’s gut«, log sie und hustete. »Also – dann ist der Abstand vom Palast zur Zwillingspyramide die erste Seite des Dreiecks.« Sie zeigte nach Westen. »Sie hätten eine Grabanlage niemals auf dem Hauptplatz der Stadt errichtet, folglich muss der Tempel in dieser Richtung liegen.« »Willst du dich erst noch ein bisschen ausruhen?« »Dafür ist Zeit, sobald wir die Grabkammer gefunden haben.« Stanton half ihr die Stufen hinunter. Im Schein der Taschenlampen stolperten sie durch das Unterholz in die Richtung, die das rechtwinklige Dreieck ihnen gewiesen hatte. Stanton hielt Chel fest an der Hand, während er ihnen mit der Machete den Weg freischlug. Chel war so heiß, dass sie glaubte, sie müsse sich übergeben. Sie schluckte krampfhaft und zwang sich weiterzugehen. Stanton entdeckte es als Erster. Kurz darauf standen sie vor einem mit niedrigem Buschwerk bewachsenen Hügel. Auf einem offensichtlich quadratischen Sockel mit einer Seitenlänge von jeweils etwa fünfzehn Metern erhob sich eine Pyramide, so hoch wie ein dreistöckiges Haus. »Sieh dir das an«, sagte er. Obwohl sie fünfzig Meter vom Eingang entfernt waren und alles zugewachsen war, sah Chel sofort, dass das Bauwerk unvollendet war. Die von Humus und Wurzelwerk bedeckten Kalksteinblöcke waren weder fachkundig behauen noch fachkundig zusammengefügt worden. »Ist das die Grabpyramide des Königs?«, fragte Stanton. Chel ging langsam um die Pyramide herum, auf der Suche nach einer Inschrift. Als sie die nordwestliche Ecke erreicht hatte, sah sie im Schein der Taschenlampe etwas funkeln. Etwas Metallisches, das auf dem Boden lag. Volcys Spitzhacke. 36 »Schon allein die Luft dort unten könnte hundert Leute infizieren. Du musst ihn anziehen.« Stanton hielt Chel den Schutzanzug hin. Obwohl sie in Schweiß gebadet war, kühlte ihr Körper nicht ab. Ihr war so entsetzlich heiß, dass sie sich nicht vorstellen konnte, sich jemals wieder angenehm kühl zu fühlen. »Ich bin doch schon infiziert. Und du hast gesagt, die Hitze macht alles nur noch schlimmer.« »Je höher die Konzentration der Erreger ist, der du ausgesetzt bist, desto schneller läuft die Reaktion ab. Und desto schneller …« Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu sprechen. Stanton half ihr in den Schutzanzug. Sie fragte sich, wie sie in diesem plumpen, sperrigen Ding, in dem es obendrein furchtbar warm war, in die Grabkammer gelangen sollte. Sie hatte in ihrem Leben schon viele unterirdische Grabanlagen erforscht und nie an Klaustrophobie gelitten, aber bei der Vorstellung, in diesem Anzug in die Katakombe hinunterzusteigen, war ihr mulmig zumute. Es würde sich vermutlich anfühlen, als wäre man lebendig begraben. Der Helm dämpfte jedes Geräusch. Durch das Glas des Visiers betrachtet, schien alles so weit weg zu sein: das Laubdach des Dschungels, Paktuls Stadt, Stanton und seine Ausrüstung. Ein beklemmendes Gefühl überkam sie. »Bist du so weit?«, fragte Stanton. Sie nickte zaghaft. Er half ihr, sich durch die Öffnung zu zwängen, die sie im Mauerwerk neben der zurückgelassenen Spitzhacke entdeckt hatten. Dann quetschte er sich selbst hindurch und leuchtete über Chels Schulter hinweg mit seiner Taschenlampe den Weg aus. Chel sah, wie ihr Atem das Glas des Helmvisiers beschlug, während sie auf allen vieren durch den schmalen Gang kroch. Auf den Steinen konnte man Spuren von Schimmel erkennen, der sich vor zig Jahren gebildet hatte. Sogar durch den Schutzanzug hindurch fühlte sich der Boden fremdartig und moosig an. Die Luft musste vom scharfen Gestank von Fledermausexkrementen durchdrungen sein, aber Chel konnte nur den leicht antiseptischen Geruch des Luftreinigungssystems ihres Schutzanzugs wahrnehmen. Nach einigen Metern verbreiterte sich der Gang zu einer gut einen Meter fünfzig hohen Kammer. Chel musste nur den Kopf ein wenig einziehen; Stanton musste eine gebückte Haltung einnehmen. Chel richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf die gegenüberliegende Wand, die mit Darstellungen verziert war: Menschenopfer mit einem Kopfputz in Tiergestalt und schlangenköpfige Wesen mit einem menschlichen Körper. Sie streckte die Hand aus und fuhr über den Stein. Eine dicke Staubschicht rieselte auf den Boden. Es waren zweifelsohne Paktuls Zeitgenossen gewesen, die diese Darstellungen in den Stein gemeißelt hatten. Für jede Linie brauchte man Stunden, und der kleinste Fehler wäre mit dem Tod bestraft worden. Am anderen Ende der Kammer führte eine Treppe nach unten. Die Anlage bestand ganz offensichtlich aus mehreren Ebenen, die durch Treppen miteinander verbunden waren. Chel nahm an, dass sie auf der untersten Ebene einige kleinere Räume für rituelle Zeremonien finden würden und die Grabkammer des Königs – so wie es in den Tempeln der Ruinenstätte El Mirador der Fall war. Sie setzten ihren Weg fort. Jeder Treppenabgang war enger als der vorhergehende, und in ihren ausladenden Schutzanzügen mussten sie sich seitlich zwischen den Mauern hindurchzwängen. Je tiefer sie hinabstiegen, desto kühler wurde die Luft. Chel wusste es, aber sie spürte es nicht. Sie hätte alles gegeben für einen einzigen Atemzug frischer, kühler Luft. Die Luft in ihrem Schutzanzug schmeckte abgestanden und wiederaufbereitet. Schließlich ging es nicht mehr weiter. Chel richtete ihre Taschenlampe auf einen Gang mit Türöffnungen zu beiden Seiten. Sie mussten jetzt sechs, sieben Meter unter der Erde sein. Nicht einmal am helllichten Tag hätte es hier unten noch natürliches Licht gegeben. Aber die Decken waren höher, sogar Stanton konnte fast aufrecht stehen. »Da lang«, sagte Chel und ging ihm voraus durch den Gang. Sie leuchtete in zwei Räume, die beide leer waren. Dann hatte sie gefunden, wonach sie suchte. In der Mitte der letzten Kammer stand ein Kalksteinsarkophag. Die letzte Ruhestätte von König Jaguar Imix. »Ist es das?«, sagte Stanton, der dicht hinter ihr stand, in das kleine Helmmikrofon. Seine Stimme drang leicht verzerrt durch den winzigen Stöpsel in Chels Ohr. Sie nickte. Sie sah mit einem Blick, dass die Grabkammer geplündert worden war. Aber Volcy hatte vieles zurückgelassen: kunstvoll geschnittene Feuersteine und verrostete Halsketten, Anhänger aus Muschelschalen, Figuren in Schlangenform. Und Skelette. Chel war körperlich vollkommen erschöpft, aber ihr Verstand war hellwach und nahm begierig jedes Detail in sich auf. Vierzehn oder fünfzehn Skelette, alle mit rotbraunem Zinnober überstäubt, waren nach rituellem Brauch um den Sarkophag herum angeordnet. Wahrscheinlich waren sie an der gleichen Krankheit gestorben, der sie selbst zum Opfer fallen würde, und hatten sich genauso gefühlt, wie sie sich jetzt fühlte: abgeschlagen, müde, übermäßig erhitzt und panisch, weil sie nicht mehr schlafen, nicht mehr träumen konnten. »Wer sind die anderen?«, fragte Stanton. »Die Menschen früher glaubten, dass ein König bei seinem Tod nur eine seiner neununddreißig Seelen verlor und dass die anderen achtunddreißig weiterleben oder in die jenseitige Welt eingehen würden. Darum mussten den Göttern andere Seelen geopfert werden, damit der ajaw sicher ankam.« Chel zeigte auf die sechs kleinsten Skelette. »Auch Kinder.« Stanton ging in die Hocke. »Siehst du die voll ausgebildeten Hüftknochen bei diesem hier? Das ist ein kleinwüchsiger Erwachsener.« Jacomo, der Zwerg. Er war zusammen mit seinem König bestattet worden. Ein hohes, sirrendes Pfeifen ertönte, und Chel fuhr erschrocken zusammen. Als sie sich umdrehte, sah sie eine Wolke aus flatternden schwarzen Leibern. Fledermäuse. Sie flogen direkt auf sie zu. »Runter!«, schrie Stanton. »Sie zerreißen uns die Anzüge!« Chel verlor eine Sekunde lang die Orientierung in dem flatternden Gewimmel. Sie streckte die Hand nach der Wand aus, doch sie griff ins Leere und fiel zu Boden. Stanton ruderte wild mit den Armen und scheuchte die Fledermäuse in den Gang hinaus. Ihr schrilles Kreischen verlor sich in der Dunkelheit. Chel blieb benommen liegen. Sie wusste nicht, ob sie die Kraft hatte aufzustehen. In dem Schutzanzug fühlten sich ihre Arme und Beine starr an und wie versteift. Ihre Muskeln schmerzten. Sie lag auf dem Boden, auf Augenhöhe mit den uralten Skeletten, und spürte, wie eine ungeheure Mattigkeit sie überkam. Gerade als sie ergeben die Augen schließen wollte, fiel ihr Blick auf etwas metallisch Glänzendes im Staub. Es war ein großer Jadering mit einer in den Stein eingeschnittenen Glyphe. Der Affen-Schreiber. Chel streckte die Hand aus. Paktuls Ring. Der Prinz war entkommen, Auxilas Töchter ebenfalls. Sie waren Paktuls Krafttier, dem scharlachroten Ara, gefolgt und dorthin gelangt, wo heute Kiaqix lag. Paktul selbst hatte es nicht geschafft. Wahrscheinlich war er von den Wachen des Königs getötet worden. Danach hatten sie ihn mitsamt seinem Ring und seinem Buch in der königlichen Grabkammer bestattet. Chel betrachtete die Totenschädel und fragte sich, welcher von ihnen wohl der von Paktul sein mochte. Irgendwo hier lagen die sterblichen Überreste des Urvaters ihres Volkes. Auch wenn sie sein Skelett niemals zweifelsfrei würden identifizieren können, so half es Chel doch, zu wissen, dass sie ihn gefunden hatten. Ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllte sie. Stanton half ihr auf, aber sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er musste sie stützen, als sie mit schleppenden Schritten zum Sarkophag schlurfte. Der Deckel aus Kalkstein war über und über mit kunstvollen, in den Stein gemeißelten Ornamenten verziert. Man sah, dass er nicht bewegt worden war – Volcy hatte also nicht hineingeschaut. Er musste die Bilderhandschrift schnell gefunden und gewusst haben, dass er nicht mehr brauchte, dass diese eine Kostbarkeit genügte. »Kriegst du den Deckel herunter?«, fragte sie Stanton. Er gab ihr seine Taschenlampe, packte die schwere Steinplatte an einer Ecke und begann, daran zu ruckeln und sie hin und her zu schieben. Dann ging er zur nächsten Ecke und machte es genauso. Schließlich hatte er die Platte so weit gelockert, dass er sie herunterschieben konnte. Krachend fiel sie zu Boden, und das Poltern hallte in der Grabkammer wider. Chel lehnte an der Wand und schaute zu, wie er Knochen und Artefakte herausnahm. Eine Jademaske mit Augen aus Perlen und Reißzähnen aus Quarz. Einen langen Speer mit einer scharfen Spitze aus Jade. Schmuckspangen aus Jade. Aber keinerlei Gefäße. Keine Wasserkannen. Keine Behälter für Kakaobohnen oder Mais. Nichts, was der Aufbewahrung von Nahrungsmitteln gedient hätte. Nur Schmuck, Masken, Waffen. Kostbarkeiten von unschätzbarem Wert. Aber nutzlos. Chel hatte fest geglaubt, dass sie Tongefäße als Grabbeigaben finden würden, die sie auf Spuren von Lebensmitteln aus der damaligen Zeit untersuchen könnten. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Gabe«, stammelte sie betroffen. »Ich –« Stanton achtete nicht auf sie. Er ging zu einem der kleineren Skelette, dem des Zwergs, und löste den Schädel vom Rumpf. »Was hast du vor?« »Die Zähne.« Stanton zeigte darauf. »Was ist damit?« »Vielleicht geben uns die Zähne einen Hinweis darauf, was sie gegessen haben. Körner halten ewig. Selbst wenn ihre Vorräte erschöpft waren, finden wir im Gebiss eventuell noch Reste von stärkehaltigen Nahrungsmitteln, die sie lange vor ihrem Tod gegessen haben.« Stanton trennte weitere Schädel ab und machte sich unverzüglich an die Arbeit. Chel sah ihm eine Weile zu, dann schloss sie die Augen. Es war hell. Seltsam hell. Trotz der Dunkelheit. Und ihr Hirn in dem stickigen Helm wurde regelrecht gekocht. »Falls du mich hier zurücklassen musst …«, begann sie, aber da dachte sie schon wieder an Paktul, dessen Ring sie über dem Handschuh über ihren Finger gestreift hatte, und dann an ihre Mutter und wie falsch sie gelegen hatte bei ihr. Sie hörte nicht, wie Stanton antwortete: »Ich verlasse dich nie.« *** Stanton entfernte zuerst den sichtbaren Zahnstein und schabte dann mit einem Schablonenmesser die Zähne ab. Er nahm sich jeden Abschnitt der Gebisse drei Mal vor, bevor er das abgeschabte Material auf Objektträger gab. Das war selbst unter optimalen Bedingungen eine heikle Arbeit – in der Dunkelheit, mit nur einer Taschenlampe als Lichtquelle, war es nahezu unmöglich. Aber Stanton, der langsam und gründlich arbeitete, schaffte es. Dann, im schwachen Schein des batteriebetriebenen Mikroskops, verglich er die Präparate mit den Abbildungen in einem Nachschlagewerk. Es gelang ihm, etliche Pflanzenarten anhand der typischen Form ihrer Stärkemoleküle zu identifizieren: Mais; Bohnen; Avocado; Brotnuss; Papaya; Pfefferschoten; Kakao. Er fand Hunderte verschiedene Rückstände auf den Zähnen, aber er hielt es für unwahrscheinlich, dass eines dieser ganz gewöhnlichen Nahrungsmittel den König und dessen Gefolge vor VFI geschützt hatte. Plötzlich entdeckte er etwas vollkommen Unerwartetes. Stärkemoleküle, die er auf Anhieb, auch ohne Nachschlagewerk, erkannte. Es waren Stärkemoleküle von Buchen. Stanton konnte nicht glauben, was er da sah. Buchen wuchsen normalerweise im gebirgigen Hochland, wie etwa in Zentralmexiko. Er hätte niemals damit gerechnet, im tropischen Regenwald von Guatemala auf Buchen zu stoßen, und er kannte auch keinen Botaniker, der diese Möglichkeit überhaupt ins Auge gefasst hätte. Das bedeutete, es handelte sich möglicherweise um eine bisher unbekannte Art, die nur hier vorkam. Der Hauptbestandteil in der Buche war Pentosan-Polysulfat, auf das man einst große Hoffnungen bei der Bekämpfung von Prionenkrankheiten gesetzt hatte. Das Problem war, dass der Wirkstoff, gleichgültig, aus welcher Buchenart er gewonnen worden war, die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren konnte. Und so war es als Therapie bei VFI gar nicht erst in Betracht gezogen worden. Etwas allerdings machte Stanton stutzig. Die Früchte der Buche waren zwar essbar, ihr Geschmack jedoch war ebenso wie ihr Geruch, wenn sie geröstet wurden, unverkennbar bitter. Die ganze Stadt hätte Woche für Woche Unmengen davon essen müssen, um gegen pathogene Prionen immun zu werden. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Er ging zu Chel hinüber und tippte ihr leicht auf die Schulter. »Eine Frage«, flüsterte er. »Haben die Maya Baumrinde gekaut?« Sie hatte die Augen geschlossen, sie war in sich selbst, in ihrer eigenen Welt, versunken. Er hatte sie angetrieben auf ihrem Marsch durch den Dschungel, weiter, als sie es für möglich gehalten hätte. Er hatte ihr Hoffnung gemacht. Und mit dieser Hoffnung im Herzen hatte sie ihn hierher geführt. Jetzt lag sie im Sterben. »In lak’ech«, war alles, was sie wisperte. Stanton eilte zurück zu den Präparaten. Er erinnerte sich jetzt an eine Stelle in der Handschrift, wo beschrieben wurde, wie der Zwerg auf etwas herumkaute und es dann ausspie, und Stanton wäre jede Wette eingegangen, dass es sich dabei um Buchenrinde gehandelt hatte. Das war das Heilmittel gewesen, das sie vor Ansteckung geschützt hatte. In diesem Regenwald hatte sich offenbar eine neue Buchenart entwickelt, deren Wirkstoff in der Lage war, die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Der Verzehr der Rinde hatte die Maya geschützt – bis zu dem Tag, als sie auch den letzten Baum gefällt und verbrannt hatten. Es gab nur eine Hoffnung, nämlich die, dass der Bestand sich erholt hatte. Falls die Maya nicht den gesamten Regenwald ringsum kahlgeschlagen hatten (was selbst in der heutigen Zeit nicht einfach wäre), mussten irgendwo dort draußen ein paar Buchen nachgewachsen sein. Die Natur erneuerte sich immer wieder selbst. Die Frage war nur, wie er diese Bäume in völliger Dunkelheit erkennen sollte. Das Laub würde er nicht sehen können. Er würde sie nur anhand ihrer Rinde erkennen können. Und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass die guatemaltekischen Buchen genau wie ihre Verwandten anderswo eine vollkommen glatte silbergraue Rinde hatten. *** Als Stanton aus der Pyramide trat, begann seine Taschenlampe zu flackern. Sie war stundenlang eingeschaltet gewesen. Er beschloss, Zweige zu sammeln und als Fackel zu benutzen, damit er die Taschenlampenbatterie schonen konnte. Unweit des Eingangs zu der Grabanlage sah er Kiefern und Eichen, aber keine Buchen. Er ging zu den Zwillingstempeln, wo sich aus jeder Steinspalte irgendein Gewächs zwängte, und sammelte ein zweites Bündel Zweige, das er am ersten anzündete. Es war stiller geworden im Dschungel. Nur die Grillen spielten ihre nächtliche Sinfonie. Als Stanton sich nach Reisig bückte, wechselten plötzlich zwei Rehe vor ihm über den Weg, und er fuhr unwillkürlich zusammen. Im Schein der Fackel stapfte er tiefer in den Wald hinein, vorbei an Baumstämmen, so massig wie der Rumpf eines Flugzeugs. Stanton konnte in der Dunkelheit unmöglich schätzen, wie hoch diese Baumriesen waren. Er hatte Mühe, die Richtung zu halten, und merkte bald, dass er im Kreis ging, weil er immer wieder an denselben Orientierungspunkten vorbeikam. Als er aus dem Wald heraustrat und sich auf der Rückseite der Grabpyramide wiederfand, schlug seine Frustration um in Verzweiflung. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er es geschafft hatte, ungewollt an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren. Die Fackel erlosch. Stanton bückte sich und tastete den Boden blindlings nach Zweigen ab. Als er etwas Stacheliges durch seinen Handschuh hindurch spürte, riss er ein Streichholz an, um nachzusehen, was es war. Auf der Erde lag eine braune Kapsel mit winzigen spitzen Fortsätzen, die nicht größer war als seine Daumenkuppe. Eine Buchecker. Stanton richtete sich auf und hielt sie in die Höhe, als wollte er ihren Weg zur Erde umkehren. Und dann sah er den Baum mit der glatten grauen Rinde, von dem die Frucht heruntergefallen war. Im Licht seines Streichholzes konnte Stanton nicht erkennen, wie hoch die Buche war. Aber jetzt sah er, dass es nicht die einzige war: Etwa ein Dutzend standen in einer Reihe nebeneinander. Die Äste reckten sich der Pyramide entgegen, als wollten sie sie berühren. *** Wie ein Vogel hoch am Himmel in böigem Wind trieb Chel zwischen Licht und Dunkelheit. In den lichten Momenten fühlte sich ihre Zunge an wie Sandpapier; jede Faser ihres Körpers schmerzte, so unerträglich heiß war ihr. Die Krankheit kroch durch ihre Gedanken wie eine Spinne. Aber sobald sich die Dunkelheit über sie senkte, tauchte sie dankbar ein in eine Flut von Erinnerungen. Paktul, der geistige Gründer von Kiaqix, ruhte neben ihr; was auch immer geschehen mochte, sie fühlte sich sicher und geborgen in seiner Gegenwart. Falls es ihr bestimmt war, ihm zu folgen, dorthin zu gehen, wohin Rolando und ihr Vater vorausgegangen waren, würde sie vielleicht den Ort sehen, von dem die Alten immer erzählten. Den Wohnsitz der Götter. *** Als Stanton in die Grabkammer zurückkam, saß Chel so da, wie er sie verlassen hatte, zusammengesunken an der Wand. Doch dann sah er zu seinem Entsetzen, dass sie ihren Helm abgenommen und den Schutzanzug heruntergerissen hatte. Vermutlich hatte die unerträgliche Hitze sie fast wahnsinnig gemacht. Doch die ungefilterte Luft, die sie jetzt einatmete, würde alles nur noch schlimmer machen. Er überlegte, ob er versuchen sollte, ihr den Anzug wieder überzustreifen, aber er wusste, dass es sinnlos wäre. Chels einzige Hoffnung lag jetzt woanders. Im schwachen Schein der Taschenlampe machte er sich an die Arbeit. Er zerstampfte Stücke von Buchenblättern, Buchenrinde, Buchenholz und Bucheckern und vermischte den Brei mit Kochsalzlösung und Enzymen zur Aufspaltung der Stärke. Dann zog er die Flüssigkeit in eine Injektionsnadel auf und spritzte sie Chel in eine Armvene. Sie reagierte kaum auf den Einstich. »Du schaffst es«, sagte er mit beschwörender Stimme. »Bleib bei mir.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. Er schätzte, bis in zwanzig Minuten sollten erste Anzeichen einer Reaktion zu erkennen sein. Es war 23 Uhr 15. *** Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob der Wirkstoff tatsächlich die Blut-Hirn-Schranke passiert hatte: Stanton musste eine Liquorpunktion vornehmen. Falls der Wirkstoff aus der Buche sich in der Rückenmarksflüssigkeit befand, musste er über das Herz ins Hirn gelangt sein und von dort in die das Gehirn umgebende Flüssigkeit. Als die zwanzig Minuten um waren, führte Stanton vorsichtig eine Hohlnadel zwischen zwei Wirbeln ein. Er hatte Männer erlebt, die bei einer Liquorpunktion vor Schmerzen laut geschrien hatten. Chel ging es so schlecht, dass sie keinen Laut von sich gab. Stanton träufelte jeweils ein paar Tropfen Spinalflüssigkeit auf sechs Objektträger und wartete. Dann schloss er die Augen und flüsterte nur ein einziges Wort: »Bitte!« Er legte den ersten Objektträger unter das Mikroskop und studierte das Präparat ganz genau. Dann prüfte er den zweiten, dann den dritten. Als er auch den sechsten und letzten Objektträger unter dem Mikroskop betrachtet hatte, lehnte er sich zurück, ratlos und niedergeschlagen. In keinem der Präparate hatte er Moleküle des Wirkstoffs gefunden. Die aus dieser Buchenart gewonnene Substanz konnte die Blut-Hirn-Schranke ebenso wenig passieren wie alle bisher getesteten. Eine tiefe Verzweiflung übermannte ihn. Er war kurz davor, einfach aufzugeben, sich hinzulegen und sich der Dunkelheit zu überlassen. Dann vernahm er seltsame Geräusche von der anderen Seite der Grabkammer. Er sprang auf und lief zu Chel hinüber. Ihre Beine zuckten heftig und unkontrolliert. Sie hatte einen Anfall. Die Hitze und die hohe Konzentration von Prionen in der Kammer hatten den Krankheitsverlauf beschleunigt. Falls das Fieber noch weiter anstieg, würde sie es nicht überleben. »Bleib bei mir«, flüsterte er inbrünstig. »Bleib bei mir!« Stanton durchwühlte seinen Rucksack nach dem Hemd, das er eingepackt hatte. Er riss es in Streifen, die er mit dem letzten Rest Wasser aus ihren Trinkflaschen tränkte. Doch bevor er ihr die feuchten Tücher auflegen konnte, um ihre Körpertemperatur zu senken, spürte er, dass ihre Stirn kühler wurde. Ihr Körper gab auf. Als er ihr am Hals den Puls fühlen wollte, fand er ihn fast nicht, so schwach war er. Der Krampfanfall ließ langsam nach. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit betete Stanton, auch wenn er nicht wusste, zu wem. Der Gott, den er verehrte, seit er erwachsen war – die Wissenschaft –, hatte ihn im Stich gelassen. Und er selbst würde die vielen Tausend – wenn nicht gar Millionen – Menschen, die sich mit VFI infiziert hatten und daran sterben würden, im Stich lassen müssen, weil er kein Heilmittel gefunden hatte. Und so betete er für sie alle. Er betete für Davies und für Cavanagh und für alle anderen vom Seuchenzentrum. Er betete für Nina. Aber am inbrünstigsten betete er für Chel, für die er nichts mehr tun konnte, genauso wenig wie für alle anderen. Falls sie starb – wenn sie starb –, blieb ihm nur die Erkenntnis, dass er nicht genug getan hatte. Er schaute auf die Uhr. 23 Uhr 46. Die Totenschädel schienen ihn höhnisch anzugrinsen, schienen ihn zu verspotten, weil er nicht hinter ihr Geheimnis gekommen war. Er würde Chel nicht hier zurücklassen, in dieser Gruft, mit diesen Skeletten und den Schädeln mit den leeren, starrenden Augenhöhlen. In diesem Moment durchzuckte ihn ein furchtbarer Gedanke: Er würde Chel im Dschungel begraben müssen. Er dachte an ihre Worte in der Nacht zuvor, als sie am Rand von Kiaqix ebenfalls eng aneinandergeschmiegt an einer Mauer gesessen hatten. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Sie hatte ihn gefragt, ob er wisse, warum die Maya Weihrauch verbrannten für ihre Toten. Ohne den Rauch kann die Seele eines Toten nicht in die Unterwelt gelangen. Wir alle hier sind in einer Zwischenwelt gefangen. Was konnte er verbrennen, um diesem Brauch Genüge zu tun? Ihm fiel ein, dass auch Paktul von Weihrauch und Kräutern gesprochen hatte, die verbrannt wurden. Stanton erinnerte sich an die Passage: Als ich den Ara absetzte und mich hinkniete, um den widerlichen Kalksteinboden zu küssen, hatte sich der Geschmack verändert, ich konnte ihn nicht mehr auf der Zunge schmecken so wie früher. Es gab doch sicher einen Grund dafür, dass sich der Geschmack verändert hatte. Und wenn Paktul diese Veränderung bemerkt hatte, dann vielleicht deshalb, weil das Bittere fehlte … Stanton stand auf, schob seine Arme unter Chel und hob sie hoch. Er musste sie nach draußen bringen. Er trug sie aus der Grabkammer und durch den Gang. Als er an der ersten Treppe angelangt war, hob er Chel auf seine Schulter und begann den schwierigen, mühsamen Aufstieg. Einige Minuten später trat er aus der Pyramide in die Nacht hinaus. Gut drei Meter von der Nordseite der Pyramide entfernt war eine kleine Lichtung, groß genug, um dort ein Feuer zu machen. Stanton vermutete, dass Volcy hier sein Lager aufgeschlagen hatte. Er legte Chel in einer Vertiefung zwischen den Baumwurzeln ab und rannte auf die andere Seite der Pyramide, wo er hektisch alle Buchenzweige aufsammelte, die er finden konnte. Dann lief er zurück, warf den Haufen vor Chel hin und zündete ihn mithilfe von Reisig an. Es dauerte nicht lange, bis die Flammen zum Himmel züngelten. Der beißende Geruch des Buchenholzfeuers hing in der Luft. Stanton setzte sich ganz nah ans Feuer und bettete Chels Kopf in seinen Schoß. Er nahm den Helm seines Schutzanzugs ab. Dann hielt er ihr mit Daumen und Zeigefingern die Augen so weit auf, wie es ging. Er zwang sich, auch selbst die Augen weit aufzureißen, obwohl sie bald vom Rauch zu tränen begannen. Wenn der VFI-Erreger durch die Netzhaut ins Gehirn gelangte, fand das Gegenmittel vielleicht auf die gleiche Weise den Weg dorthin. Fünf endlose Minuten lang saß Stanton neben dem lodernden Feuer und starrte auf Chel hinunter, hoffend und bangend, in ihrem Gesicht forschend, ob sie eine Reaktion zeigte, irgendeine, und wenn sie auch noch so schwach wäre. Er strich ihr das Haar aus der Stirn, fühlte ihr den Puls. Er achtete nicht darauf, aber der Sekundenzeiger seiner Armbanduhr tickte auf die letzten zwei Sekunden der vierten Welt. Es war Mitternacht. Der 21. Dezember 2012. EPILOG Für Millionen Menschen überall auf der Welt war es tatsächlich das Ende – das Ende des Lebens, wie sie es bis dahin gekannt hatten. Jahrzehntelang hatte die Entwicklung des technologischen Fortschritts, die Verstädterung, die globale Vernetzung nur eine Richtung gekannt: aufwärts. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit lebte in den Jahren vor 2012 die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten, und Prognosen zufolge würden es bis 2050 mehr als zwei Drittel sein. Doch mit dem Ende der Langen Zählung änderte sich alles. Die Thane’sche Krankheit hatte einige der größten Metropolen der Welt regelrecht überrollt, und es ließ sich nicht vorhersagen, ob sie jemals wieder gefahrlos bewohnbar sein würden. Es gab immer noch kein Mittel, um das pathogene Prion zu zerstören, sodass die kontaminierten Orte, von denen täglich neue entdeckt wurden, unter Quarantäne gestellt werden mussten. In Einkaufszentren, Restaurants, Schulen, Bürogebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln von Amerika bis nach Asien wurden die Fahrzeuge und Teams von Spezialfirmen zur Entsorgung verseuchter Abfälle etwas, mit dem man zu leben lernte – oder vor dem man flüchtete. Die Ausbreitung der Seuche führte innerhalb weniger Wochen zu einer Massenflucht aus vielen Großstädten weltweit. Einige Wirtschaftsexperten rechneten damit, dass ein Viertel der Bevölkerung von New York, San Francisco, Kapstadt, London, Atlanta und Shanghai binnen drei Jahren abwandern und sich in kleineren Städten, in den Vororten oder auch auf dem Land niederlassen würde, wo bereits zahlreiche Selbstversorgergemeinden entstanden waren. L.A. war ein Fall für sich. Jeder Bewohner Südkaliforniens war auf die eine oder andere Weise von der Thane’schen Krankheit betroffen. Viele konnten sich nicht vorstellen, dort wohnen zu bleiben, nicht einmal dann, wenn es vollkommen sicher gewesen wäre. Auch der berühmteste Arzt der Welt war nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Gemeinsam mit einem internationalen Team von Wissenschaftlern, dessen Leiter er war, wohnte Stanton in einem Zelt, das das Gesundheitsministerium von Guatemala in der Ruinenstätte von Kanuataba errichtet hatte. Einen Tag nachdem er Chel aus der versunkenen Stadt getragen hatte und zwei Stunden mit dem Jeep gefahren war, um irgendwo in der Zivilisation ein funktionierendes Telefon zu suchen, war Stanton mit Beamten des Gesundheitsministeriums zurückgekehrt. Seitdem hatte er den Dschungel nicht mehr verlassen. Auf Basis der Proben, die er von den Buchen an der Grabpyramide genommen hatte, hatten Stanton und sein Team eine synthetische Infusion hergestellt, die, wenn sie innerhalb von drei Tagen nach der Infektion injiziert wurde, die Thane’sche Krankheit reversibel machen konnte. Die Buchen waren durch die intensive Nutzung fast ausgestorben, doch der Bestand hatte sich wieder erholt, nachdem die Maya Kanuataba verlassen hatten. Die Frage, warum die Bäume gerade hier, in diesem begrenzten Gebiet in unmittelbarer Nähe der Grabanlage, wuchsen, war bisher nicht geklärt. So wie Mikroben als Reaktion auf die Gabe von Antibiotika Resistenzen entwickelten, bedingte sich die Entwicklung verschiedener Arten oft gegenseitig: Mäuse zum Beispiel verbesserten über Hunderte Generationen hinweg die Fähigkeit, ihren Jägern zu entkommen, und Schlangen verbesserten die Fähigkeit, ihre Beute aufzuspüren und zu schnappen. Einige Wissenschaftler vertraten daher die These, dass das Prion und die Bäume sich über Jahrhunderte hinweg nebeneinander entwickelt hatten, wobei beide durch Mutation immer stärker geworden waren. Und dann hatte Volcy die Grabpyramide entdeckt und das Grab geöffnet. Rundfunkjournalisten sprachen daher gern von einem »evolutionären Wettrüsten«. Die 2012er und andere Weltuntergangspropheten nannten es freilich Schicksal. Stanton hatte keinen Namen für die Ereignisse. Ihm war nur eines wichtig gewesen – die Welt der Wissenschaft davon zu überzeugen, wie VFI wirklich heißen sollte, nämlich Thane’sche Krankheit. Nach einem besonders mörderischen Tag Ende Juni erteilte er seinem Team aus überwiegend guatemaltekischen Ärzten noch einige Anweisungen in gebrochenem Spanisch und stapfte dann zu seinem Zelt im Schatten der Zwillingspyramiden und von Jaguar Imix’ Palast. Der Regen hatte seine Kleidung völlig durchnässt, und seine Stiefel waren schwer vom Schlamm. Das Leben im Dschungel war hart, und er vermisste das Meer. Aber allmählich gewöhnte er sich an die Hitze und an die hohe Luftfeuchtigkeit, und nach einem langen Arbeitstag in den Ruinen zu sitzen und ein kaltes Bier zu trinken war ein wunderbares Gefühl. Als Stanton sich umgezogen hatte, ging er in den Wohnbereich des Zeltes hinüber, wo sich zwischen Naturwissenschaftlern und Archäologen eine lebhafte Diskussion entsponnen hatte über die beste Methode, die Gräber zu öffnen. Stanton riss eine Dose Bier auf, zog seinen Laptop hervor und stellte über Satellit eine Internetverbindung her. Er hatte einige Hundert E-Mails bekommen, die er hastig überflog. Es war auch eine von Monster dabei: Er und seine Electric Lady hatten ihre Sammlung von Tieren mit zwei Köpfen wieder eingefangen und bis zur Wiedereröffnung der Freakshow in Stantons Haus untergebracht. Stanton scrollte weiter durch die Mails und stieß auf eine von Nina – ein Foto von Dogma auf der Plan A, aufgenommen irgendwo im Golf von Mexiko. Falls sie an Land gehen würde, werde man auch sie mit Interviewanfragen überschwemmen, hatte Stanton sie gewarnt. Doch sie hatte nur gelacht und gemeint, sie habe Besseres zu tun, als ein Loblied auf ihren Exmann zu singen. Sie schickte ihm jede Woche ein Foto von dort, wo sie und der Hund sich gerade aufhielten. »Sitzt du etwa schon wieder am Computer? Die Technologie ist tot. Noch nie was davon gehört? Timewave Zero und so weiter und so fort.« Stanton wandte sich zu der Stimme um, die mit weichem englischem Akzent sprach. Alan Davies schälte sich aus seiner Safarijacke und legte sie so sorgsam über einen Stuhl, als wäre es das Kleidungsstück, das Stanley getragen hatte, als er Livingstone fand. Sein weißes Hemd war schweißnass, seine Haare kräuselten sich. Die extreme Luftfeuchtigkeit bekam dem Londoner gar nicht, und es verging kein Tag, an dem er es Stanton nicht unter die Nase rieb. »Ich fass’ es nicht, dass du diese erbärmliche Bierplörre trinkst.« Davies ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Jetzt ein großes Adnams Broadside! Ich würde alles dafür geben!« »Es sind bloß fünfzig Stunden Fahrt durch den Dschungel und vier Maschinen bis nach London.« »Du würdest es hier draußen doch keinen Tag ohne mich aushalten.« Während Davies eine Flasche Wein öffnete und sich ein Glas einschenkte, schickte Stanton Nina eine kurze Antwort und warf dann einen Blick auf die Nachrichtenwebsites. Sechs Monate waren seit Ausbruch der Seuche vergangen, und im Grunde waren es immer die gleichen Artikel, die täglich über die Krankheit veröffentlicht wurden, ein Aufguss, in dem nichts wirklich Neues mehr stand. Als er dieses Mal auf die Website der Los Angeles Times klickte, klappte ihm jedoch fast der Unterkiefer herunter. »Ach du Scheiße!« »Was ist?«, fragte Davies. Stanton drückte auf die Taste mit dem Druckersymbol, sprang auf und schnappte sich die ausgedruckten Seiten. »Hast du das gesehen?« Davies stand auf und beugte sich über den Monitor. »Weiß sie es schon?« *** Die Guatemalteken hatten mit Bulldozern eine Schneise von der Ruinenstätte zu den größeren Straßen geschlagen, breit genug, damit Vorräte und Ausrüstung mit Lastwagen herangeschafft werden konnten. Rings um Kanuataba waren Sicherheitskräfte postiert. Als sie Stanton in seinem vom Gesundheitsministerium gestellten Land Rover durchgewinkt hatten, befand er sich mitten in dem Rummel, der ringsum herrschte. Hunderte Menschen hatten sich auf dem Gelände hinter dem Sperrgürtel in Zelten, Trucks und Wohnmobilen niedergelassen. Eine Zeit lang war es ihnen gelungen, die genaue Lage der Ruinenstätte geheim zu halten, aber jetzt parkten Dutzende Fahrzeuge von Fernsehteams am Straßenrand, und Hubschrauber kreisten unentwegt über der versunkenen Stadt und übertrugen Luftaufnahmen in die ganze Welt. Doch nicht nur Medienleute hatten sich hier eingefunden: Die Gegend war eine Art religiöser Außenposten geworden, eine Pilgerstätte für die 2012er. Stanton fuhr an einem Meer aus Zelten vorbei, in denen Männer, Frauen und Kinder aller Hautfarben, Altersgruppen und Nationalitäten wohnten, verbunden durch ihren sonderbaren heterogenen Glauben. Es hatte ihrer Sache nicht geschadet, dass die Welt nicht vollständig zerstört worden war. Im Gegenteil: Die Ereignisse in den Tagen vor dem 21. Dezember und die Entdeckung eines Heilmittels ausgerechnet in einer Ruinenstätte der Maya hatte eine Welle der Begeisterung ausgelöst für alles, was mit deren Kultur zu tun hatte. Mehr als ein Drittel der gesamten amerikanischen Bevölkerung glaubte, dass der Ausbruch der Prionenkrankheit unmittelbar vor Ende der Langen Zählung kein Zufall gewesen war. In L.A. strömten Tausende in die Versammlungen der Fraternidad-Kirche, und vor allem auf dem Land, in Gemeinden, die von Stadtflüchtlingen gegründet worden waren, fanden Vegetarier und Gruppen wie jene, die an die Rückkehr Christi glaubten oder die einen »spirituellen Mayanismus« propagierten, immer mehr Anhänger. Sie vertraten die Ansicht, dass Prionenerkrankungen, von VFI bis zum Rinderwahnsinn, nur die extremsten Folgen von manipulativen Eingriffen in die Natur seien. Zwei Stunden später kam Stanton in Kiaqix an. Da der Name des Dorfes untrennbar mit dem Infektionsherd und dem ersten Infizierten verknüpft war, machten sich nur sehr wenige Schaulustige auf den Weg dorthin. Die überlebenden Dorfbewohner hatten gemeinsam mit engagierten Mitgliedern einer Hilfsorganisation sowie mittels Spenden aus aller Welt den Wiederaufbau des größtenteils zerstörten Dorfes begonnen. Aber wie alles im Dschungel ging die Arbeit nur langsam und zäh voran. Wie alle Krankenhäuser in Los Angeles war auch das kleine Dschungelkrankenhaus von einem aus den USA angereisten Team dem Erdboden gleichgemacht und an seiner Stelle ein neues, provisorisches Hospital errichtet worden. Stanton parkte den Landrover vor dem Eingang und lief hinein. Im Vorbeigehen winkte er bekannten Gesichtern zu. Einige waren Mitglieder der Fraternidad, die ihre Hilfe beim Wiederaufbau angeboten hatten. Mittlerweile lebten fast vierhundert Menschen im Dorf, und alle waren in irgendeiner Form an den Arbeiten beteiligt. Auf der Kinderstation im hinteren Teil des Gebäudes kümmerte sich Initia um die Kleinkinder, die ihre Eltern durch die Krankheit verloren hatten. Die meisten lagen in Hängematten, aber für einige waren auch Wiegen aus Holz und Stroh gebastelt worden. »Jasmächá, Initia«, grüßte Stanton. »Hallo, Gabe«, antwortete Initia, die inzwischen ein paar Brocken Englisch sprach. Stanton untersuchte die Augen der Kinder mit dem Ophthalmoskop, das er immer bei sich trug. Die Jüngsten waren jetzt sechs Monate alt, und ihre Sehnerven würden bald vollständig ausgebildet sein, deshalb achtete er sehr genau darauf, ob sie Symptome der Thane’schen Krankheit zeigten. »Willkommen zurück, Doktor.« Stanton drehte sich um. Ha’ana Manu stand in der Tür, den acht Monate alten Garuno auf dem Arm. Der Kleine schrie wie am Spieß. »Wann sagst du endlich Gabe zu mir?« »Du hast doch nicht vier Jahre Medizin studiert, damit die Leute dich Gabe nennen«, versetzte sie. Stanton deutete mit dem Kinn auf den Jungen auf ihrem Arm. »Eine Dosis alle vier Stunden, nicht wahr?« Ha’ana nickte. »So, wie du es angeordnet hast. Keine Sorge.« »Entschuldige. Weißt du, wo ich sie finde?« *** Chel kauerte unter dem A-förmigen Gebälk eines neuen Hauses im östlichen Teil des Dorfes, wo sie sich gemeinsam mit vier Fraternidad-Mitgliedern anschickte, einen weiteren Stamm aufzurichten. Sie wollte gerade anfangen, bis drei zu zählen, als sie ein Wimmern hörte. »Moment, ich bin gleich wieder da!« Sie lief zu dem Korbwagen im Schatten einer Zeder. Sama, Volcys inzwischen fast sieben Monate alte Tochter, schaute sie aus großen, wachen Augen an. »Chel, schau mal, was ich gefunden habe!« Als sie sich umdrehte, sah sie ihre Mutter und Stanton. Ha’ana hatte wochenlang abgestritten, dass sie zu den Aufständischen gehört hatte oder dass sie diejenige war, die die angeblich aus dem Gefängnis geschickten Briefe geschrieben hatte. Selbst jetzt behauptete sie immer noch, sie und Chels Vater hätten die Briefe gemeinsam verfasst. Aber immerhin war es Chel gelungen, sie zu überreden, mit ihr nach Kiaqix zu kommen. Ha’ana beklagte sich zwar, weil es hier weder einen Fernseher noch einen richtigen Herd gab, und erklärte, sie wolle so bald wie möglich zurück in die USA. Aber Chel wusste, dass sie so lange hierbleiben würde, wie ihre Tochter hierblieb. Stanton ging zu ihr und küsste sie. Seit Januar hatten sie ein oder zwei Mal die Woche immer eine Ausrede gefunden, um sich zu sehen, und schon nach kurzer Zeit hatten sie angefangen, über eine gemeinsame Zukunft zu reden. Nachdem sie beide vollständig rehabilitiert worden waren, waren sie als Hauptvortragsredner zu Symposien überall auf der Welt eingeladen und mit Angeboten für Professuren an verschiedenen Universitäten überhäuft worden. Dass sie auf eigene Faust nach Guatemala gefahren und einen Wirkstoff gegen die Thane’sche Krankheit entdeckt hatten, hatte den Leiter des CDC gewaltig unter Druck gesetzt. Schließlich war Kanuth von seinem Posten zurückgetreten. Neue Direktorin des Seuchenzentrums war seine bisherige Stellvertreterin Emily Cavanagh, doch es ging das Gerücht, dass der Präsident der USA Stanton den Posten anbieten wollte. Er würde ablehnen, und Chel wusste, dass das zum großen Teil an ihr lag. Sie hatte nicht vor, Guatemala in absehbarer Zeit zu verlassen, und falls sie eines Tages in die Staaten zurückkehren sollten, dann nur gemeinsam. Stanton streckte Sama seine Hand hin, und das kleine Mädchen strahlte. Chel ließ sie praktisch nie aus den Augen. Sie und Stanton hatten viele Abende in ihrem Haus aus Holz und Stroh gesessen und die Kleine mit Tortillabröckchen gefüttert, bis sie irgendwann eingeschlafen war. Dann hatten sie die kostbaren Stunden zu zweit voll ausgekostet. »Ich dachte, du kommst erst nächste Woche«, sagte Chel. »Alles in Ordnung?« Sie sah ihn fragend an. Stanton zog den ausgedruckten Zeitungsartikel aus seiner Hemdtasche und gab ihn ihr wortlos. 2012er-Gruppe bricht ihr Schweigen Dienstag, 22. Juni 2013, 9 Uhr 52 Das FBI hat bestätigt, dass ein Brief, der vor zwei Tagen bei der Los Angeles Times einging, im südlichen Hochland von Guatemala abgeschickt worden ist. Das Schreiben wurde höchstwahrscheinlich von einem Mitglied der sektenähnlichen 2012er-Gruppe verfasst, deren Anführer Colton Shetter war. Wie die Polizei von Guatemala inzwischen bestätigte, ist Shetter tot. Dem vierseitigen Schreiben zufolge wurde Shetter von der Gruppe, deren Gründer er war, wegen seines brutalen Vorgehens im Dezember 2012 im Getty Museum angeklagt. Damals war Rolando Chacon, ein Mitarbeiter des Forschungsinstituts, ums Leben gekommen. Der Prozess endete mit Shetters Ausschluss aus der Gruppe. Als Shetter daraufhin seine Führungsposition mit Waffengewalt zu verteidigen versuchte, kam es zu einer Auseinandersetzung mit anderen Mitgliedern der Gruppe, bei der Shetter den Tod fand. Aufgrund von Hinweisen in dem genannten Schreiben fanden die guatemaltekischen Behörden Shetters Leiche unweit des Izabal-Sees, einem der größten Seen Guatemalas. Es handelte sich offenbar um eine Art Ritualmord, vergleichbar den Menschenopfern der Maya des Altertums, da dem Toten das Herz und alle anderen Organe herausgeschnitten wurden. Der derzeitige Aufenthaltsort der 2012er-Gruppe ist nicht bekannt, aber es gibt Hinweise darauf, dass Dr. Victor Granning der neue Anführer der Gruppe ist. Granning beabsichtigt anscheinend, den »Kannibalismus-Kodex« dem Dorf Kiaqix, wo die Bilderhandschrift entstanden sein soll, zurückzugeben. Viele Einwohner von Kiaqix unweit der jüngst entdeckten Ruinenstätte Kanuataba starben an der Thane’schen Krankheit, und Granning ist der Auffassung, dass, wenn die Handschrift an ihrem Entstehungsort ausgestellt würde, dies den Tourismus in der Gegend beleben und damit den indígenas die dringend benötigte finanzielle Unterstützung bringen wird. Nach Granning, einst Professor an der UCLA und umstrittene Symbolfigur der 2012er, wird in Zusammenhang mit dem Überfall im Getty Museum immer noch gefahndet. Granning, der dem Schreiben zufolge in der Handschrift auf eine bedeutende Entdeckung gestoßen ist, wünscht sich nicht zuletzt deshalb, dass das Buch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, damit »Millionen neue Anhänger der Bewegung es sehen können«. Er behauptet, einen schwer wiegenden Fehler bei der Berechnung des Endes der Langen Zählung entdeckt zu haben. Das korrekte Datum für das Ende des dreizehnten Zyklus des Kalenders ist seiner Meinung nach der 28. November 2020. Chel ließ den Ausdruck sinken. Von seinem Versteck irgendwo in den Tiefen dieses Regenwalds aus bemühte sich Victor um Wiedergutmachung. Obwohl er untergetaucht war, war er für die 2012er so etwas wie eine mythische Gestalt geworden. Viele Anhänger der neu entstandenen Randgruppen betrachteten seine technologiefeindlichen und Städte verdammenden Schriften als prophetisch. »Er will dir den Kodex zurückgeben«, sagte Stanton. Chel antwortete nicht. Es gab keine einfachen Antworten auf die Ereignisse, auch nicht auf die Frage, wieso das Vermächtnis ihres Volkes ausgerechnet in ihre Hände gelangt war. Auch wenn Victor an einen Fehler bei der Berechnung des Datums glaubte – vielleicht hatten sich seine Voraussagen für 2012 ja doch erfüllt, zu einem Teil zumindest, sodass sie jetzt in der Welt lebten, von der er immer geträumt hatte. Sama lachte leise, und Chel sah in die Augen ihres kleinen Mädchens. Es spielte keine Rolle mehr. Chel war zu Hause, dort, wo sie hingehörte, umgeben von den Menschen, die sie liebte. Als Ha’ana den ausgedruckten Artikel gelesen hatte, zerknüllte sie ihn und warf ihn weg. »Komm zu Oma, mein Schatz«, sagte sie und nahm Sama aus dem Korbwagen. »Wir haben Wichtigeres zu tun, nicht wahr?« ANMERKUNG DES AUTORS Im Laufe meines Medizinstudiums machte ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit Prionen. Diese winzigen Proteinmoleküle, die die Wissenschaft seit 50 Jahren in Erstaunen versetzt hatten, faszinierten auch mich. Sie erfüllten im Gehirn keine erkennbare Funktion, verstießen gegen den wichtigsten Satz der Molekularbiologie, der besagte, dass Fortpflanzung nur mittels DNA oder RNA möglich war, und verursachten unheilbare Krankheiten wie BSE. Ich las alles, was ich über Prionen finden konnte. Ich erfuhr, dass während der BSE-Epidemie über einhundertfünfzig Menschen nach dem Verzehr von kontaminiertem Rindfleisch gestorben waren und dass Experten der Meinung sind, dass sich noch viel mehr Briten infiziert haben und dass Millionen weitere erkranken könnten. Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, diese latente Bedrohung in einer Geschichte zu verarbeiten. Bei meinen Nachforschungen stieß ich auf eine weitere Prionenkrankheit, die letale familiäre Insomnie (oder FFI). Diese Form der Prionenerkankung tritt zwar überwiegend in Italien und Deutschland auf, aber jedes Jahr werden weltweit, auch in Mittelamerika, einige vereinzelte Fälle registriert. Als ich dann noch erfuhr, dass Kuru, die erste gehäuft auftretende Prionenkrankheit, im Stamm der Fore auf Papua-Neuguinea entdeckt worden war und dass die Krankheit durch rituellen Kannibalismus übertragen wurde, nahm die Idee für den vorliegenden Roman Gestalt an. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie das Datum des 21. Dezember 2012 für Millionen Menschen eine so ungeheure Bedeutung erlangen und einen solchen Stellenwert im kulturellen Bewusstsein einnehmen konnte. Bereits Mitte der 1970er-Jahre, als New-Age-Schriftsteller über das Ende des Maya-Kalenders und die für die Menschheit damit verbundenen Umwälzungen spekulierten, setzte eine Veränderung des Bewusstseins ein. »Visionären« wie José Argulles und Terrence McKenna war es zuzuschreiben, dass der 21. Dezember 2012 mit Astrologie, Umweltproblemen, New-Age-Esoterik, spiritueller »Synchronisation« und einem wachsenden Misstrauen gegenüber der Technologie verknüpft wurde. Der Glaube an die Bedeutung des alten Maya-Kalenders nahm jedoch mit der Zeit äußerst merkwürdige Formen an. Manche brachten ihn mit Weltuntergangstheorien in Verbindung und orakelten, der 21. Dezember werde zur galaktischen Synchronisation führen, zur Kollision mit anderen Planeten und Sternen, zu einer Umkehrung der Magnetpole auf der Erde. In den letzten Jahren haben viele Anhänger dieser Theorien ihr Zuhause verlassen und im mexikanischen Dschungel oder auch im Himalaya festungsähnliche Bauten errichtet, in denen sie die Apokalypse zu überleben hoffen. Ich habe nirgendwo einen Hinweis darauf gefunden, dass die Maya des Altertums das Ende des dreizehnten Zyklus für bedeutsamer hielten als das Ende irgendeines anderen Zyklus; sie fürchteten und respektierten jeden Zyklus gleichermaßen. Die Lange Zählung ist nichts anderes als ein Kalender, der auf der Zahl zwanzig basiert und der weitere 2700 Jahre Gültigkeit hat. Erwähnt wird das Ende des dreizehnten Zyklus und dessen Bedeutsamkeit ursprünglich im Popol Vuh, dem heiligen Buch der Maya, und eine in Tortuguero, Mexiko, entdeckte Inschrift stützt diese Aussage. Die letzte Lange Zählung, so steht es im Popol Vuh geschrieben, habe mit der Vollendung des dreizehnten Zyklus geendet. Daraus haben einige abgeleitet, dass es sich mit der laufenden Langen Zählung genauso verhalte. Entgegen der selbst unter Wissenschaftlern weit verbreiteten Ansicht hat die Aufgabe der unter Wassermangel leidenden Städte im Tiefland gegen Ende des 1. Jahrtausends vermutlich nicht den Untergang der Maya-Hochkultur herbeigeführt. In der klassischen Periode wurden einst blühende Städte über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten hinweg nach und nach verlassen und zugunsten von kleineren Dörfern und fruchtbarerem Boden aufgegeben. Doch seit im 19. Jahrhundert in den unwegsamen Dschungelgebieten von Honduras und Guatemala Maya-Stätten entdeckt wurden, beschäftigt man sich auch wieder mit der Frage, was die Maya veranlasst haben mochte, ihre unglaublichen Metropolen für immer zu verlassen. Pollenproben aus Copán und aus der Provinz El Petén, wo sich einige der größten Maya-Siedlungen befanden, deuten darauf hin, dass es Mitte des 13. Jahrhunderts praktisch keinerlei Spuren menschlichen Lebens mehr dort gab. Während bei den meisten Maya-Forschern Einigkeit darüber besteht, dass Überbevölkerung, lange Dürreperioden, die Überbeanspruchung der Böden und die Rodung der Wälder die Hauptfaktoren für den langsamen Niedergang waren, sind andere Theorien umstrittener. Wissenschaftler wie Jared Diamond haben in jüngster Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass zwischen den Städten erbittert Krieg geführt wurde und dass diese Kämpfe unmittelbar vor dem Ende der klassischen Periode einen Höhepunkt erreichten. Es gibt nur wenige, fragwürdige Hinweise auf Kannibalismus bei den Maya. Allerdings entdeckte der Maya-Forscher Peter Harrison in der spätklassischen Ruinenstätte Tikal in einer Kochgrube unter einem alten Haus verkohlte Menschenknochen, die Nagespuren von menschlichen Zähnen aufwiesen. Kannibalismus, so er denn im Tiefland praktiziert wurde, war höchstwahrscheinlich keine Form einer kultischen Handlung, sondern kam nur in Zeit bitterster Not vor, wenn alle Vorräte erschöpft waren. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich kein Hinweis darauf, dass die Maya an einer übertragbaren Prionenkrankheit litten. Selbst in der Nähe von bewohnten Dörfern werden immer wieder neue Maya-Ruinen entdeckt. So wurden in den 1980er-Jahren in Oxpemul in Mexiko, weniger als fünfzig Meilen von einem dicht besiedelten Gebiet entfernt, die Überreste einer gewaltigen Maya-Stadt gefunden. In jüngerer Zeit stießen Archäologen auf eine Stätte in Holtun in Guatemala, wo Hunderte klassische Maya-Bauten unter einem Dschungelgebiet begraben lagen, das jahrhundertelang von den Menschen durchquert worden war. Eine der größten Populationen des scharlachroten Aras in Mittelamerika zieht vom Osten Guatemalas nach Red Bank im Distrikt Stann Creek in Belize. Ich habe diese Route für meine beiden erfundenen Handlungsorte ausgesucht – für Chels Dorf Kiaqix und für Paktuls großartige versunkene Stadt Kanuataba.